Restaurantkritik  3.September 2021

Ein Italiener an der Elbe

Verdammt, es ist lange her, dass wir das Bianc besucht haben. Irgendwie sitzt das Restaurant in Hamburg ein bisschen zwischen den Stühlen – oder besser gesagt: zwischen dem Lokalmatador Haerlin und dem gefragten Dreisterner The Table. Im Vergleich zu diesen "großen" Häusern hat das 2017 eröffnete Bianc für uns irgendwie das Image eines Underdogs, vielleicht auch wegen der mediterran geprägten Küche, hier im kühlen und tendenziell konservativen Hamburg. Komplett ausgebucht ist das zweifach besternte Restaurant an diesem hochsommerlichen Donnerstagabend trotzdem. Mit viel Glück haben wir mit einigen Wochen Vorlauf den letzten freien Tisch ergattert.

Ein bisschen unwirtlich mutet sie ja an, die Hamburger Hafencity, mit ihren glatten Großbauten, den gewaltigen Parkhäusern und gesichtslosen Wohnkästen. Einen ähnlich dystopischen Charme versprüht in Deutschland eigentlich nur noch der Potsdamer Platz. Den Kontrast zum Interieur des Bianc hatten wir jedenfalls nicht so auffallend in Erinnerung. Patron und Küchenchef Matteo Ferrantino stammt aus Apulien, mit seinen weißen Barockstädten, und der Gastraum seines Lokals soll an die Piazza seines Heimatorts erinnern, samt eines Olivenbaums, der aus dem familiären Anwesen hierher verpflanzt wurde.

Ob für eine echte Mezzogiorno-Atmosphäre nicht auch anderes Mobiliär und etwas raueres Gemäuer nötig wären, lassen wir mal dahingestellt, wohltuend "anders" ist das Interieur allemal. Sehr südländisch (und damit so gar nicht hanseatisch) mutet dafür die lebendige Stimmung an. Die Menschen haben Spaß, das hört und sieht man. Die junge Servicecrew wiederum hat zum Glück nichts von der formellen Distanziertheit, die uns in Italiens Spitzenrestaurant so oft begegnet.
Bei einem Glas Blanc de Blancs von Perrier-Jouët studieren wir das Menü mit dem Titel "Emotion", da geht die Show schon los …

… und der Service baut eine Armada an Amuses vor uns auf. Und gerade als wir denken, dass nun Schluss ist, kommt doch noch etwas hinzu.

Am Ende stehen vor uns (oben mittig im Uhrzeigersinn beginnend): eine etwas zu subtil abgeschmeckte Austernperle mit Bergamotte, eine erfrischend kühle "Praline" von Grünem Apfel mit Sangria, ein fruchtig-würziges Törtchen von Entenleber mit Mango und Lakritz, ein knusprig-schmelziger Sandwich von Chicken Piri-Piri, eine hauchdünn-knuspernde, fantastisch gewürzte Gambastortilla, eine süffige Version von zartem Oktopus Gallega auf geräuschvoll knusperndem Fadenteig, und ein Rindertatar mit Schwarzem Knoblauch in einem etwas blassen Chip. Beim Cornetto mit kräftiger Bacalhau-Brandade und Kichererbsen ist der Teig etwas zu dick, die Füllung aber gut; köstlich mundet eine ebenso filigrane wie elegante Interpretation von Pan con Tomate mit Manchego. Zum Abschluss probieren wir die Petitesse aus Gurke, Boquerones und Dill – intensiv, frisch, gut.

Dieser Reigen, der in Präsentation und Konzeption ein wenig an die Amuses bei Juan Amador erinnert, macht Laune, auch wenn uns nicht alles wirklich überzeugen kann. Das ist bei solcher Vielfalt zwar nicht ungewöhnlich, nimmt den echten Highlights –sprich: der Tortilla, der Leber, dem Oktopus und dem Tomatenbrot– aber ein wenig die Wirkung.  

Sehr gut gefällt uns der Brotgang. Zu hervorragender, lauwarm-knuspriger Focaccia (in der Tüte) gibt es eine mit Mortadella angemachte Büffelbutter sowie Grissini mit Lardo und Kakaobohne. Das schmeckt so gut, dass wir Gefahr laufen, uns direkt satt zu essen. Der Knaller ist allerdings die "Grüne Olive" mit Salzzitrone: eine "wächserne" Olive, die am Gaumen aufbricht und einen Cocktail aus Olivenöl und Wermut freigibt – klingt wie ein alter Gag aus der Molekularkiste, wirkt und schmeckt jedoch überraschend großartig.

Der erste Gang kombiniert Stücke von bretonischem Kaisergranat mit Honigmelone. Im ersten Moment kommt uns das zu fruchtig-süß vor, bis in der Melonenvinaigrette plötzlich eine sanfte Schärfe zum Tragen kommt, die auch den Eigengeschmack des Granats nach vorne katapultiert. Von entscheidender Wirkung ist allerdings das à-Part: ein unscheinbares, ganz leicht lauwarmes Brot mit bestem Parmaschinken, knusprig und salzig, das uns an heiße Sommernächte in Rom zurückdenken lässt. Hier balanciert der Schinken die Fruchtsüße aus und umhüllt den Kaisgergranat mit Umami. Ein tolles Spiel mit der klassischen Kombi von Melone/Parma, und mit dem Granat ein echter Wow!-Effekt, den wir nicht erwarteten.

Als nächstes gibt es Thunfisch-Toro mit Rote Bete, in kleinen Stücken zu einem Kreis drapiert. Das klingt wie eine runde Sache, schmeckt aber vor allem – schräg. Wir können nicht genau sagen, ob es an der recht fetten Sardinenconsommé, der Roten Rübe oder beidem zusammen liegt. Die Garnitur aus Feta, Kapern und Kräutern passt zwar gut zum Toro, doch ein stimmiges Gesamtbild ergibt sich am Ende nicht. Schade.

Eine kräftig geröstete Jakobsmuschel in Olivenöl-Sud bildet den nächsten Gang. Die Muschel sieht etwas schmächtig aus. Dann probieren wir ein kleines Stück – und halten erstaunt inne: dieses kleine Teil konzentriert in sich den Geschmack eines Jumbo-Exemplars! Das haben wir so noch nicht erlebt. Zu diesem betörend dichten Meeresgeschmack kommt der Sud mit seiner süßsäuerlichen, elegant bitteren Aromatik genau richtig. Ein Stückchen perfekt gereifter, gekräuterter Ananas, setzt einen originellen Akzent in Richtung Karibik. Tolle Produkte, toll inszeniert.

Klassischer wird es beim Atlantik-Hummer. Ferrantino bettet die Tranchen in eine üppige Champagner-Schnittlauchsauce und gibt einen guten Löffel Imperial-Kaviar obendrauf. An dieser Stelle im Menü kommt diese vertraute Geschmackswelt genau richtig – ein wohliger Ruhepol zwischen den experimentierfreudigeren Kreationen. Saftiger Hummer, eine cremige Sauce, nussig-salziger Kaviar, separat ein knuspriger Hummer-Cannolo, daneben das zarte Scherenfleisch ganz pur... Das ist ein Gericht, in dem wir uns mit jedem Bissen etwas mehr verlieren...

Es geht weiter mit einem Stück Wildfang-Steinbutt, der allerdings unter Salsa Verde, Aioli, Erbsen und Pfifferlingen versteckt ist. Dieses Sammelsurium funktioniert recht gut, changierend zwischen der Frische der Salsa Verde, der Erbsensüße, den "waldigen" Pfifferlingen und dem delikaten Fisch – Berg und Meer mal anders. Allein die Aioli macht das Ganze vielleicht ein bisschen zu grob.

Nun gibt es Fleisch, ein Zweierlei vom Iberico: auf dem runden Teller zwei Würfel vom Secreto, zunächst Sousvide gegart und dann á la minute auf Holzkohle gegrillt – butterzart und dennoch kernig, dazu ein eleganter Chorizo-Sud, den wir vom letzten Mal noch in bester Erinnerung haben. Auf dem Fleisch Zwiebelpüree, frittierte Zwiebelringe und hauchdünne Chorizo-Scheiben. Das klingt ungeheuer wuchtig, fast plump. Umso überraschter sind wir, wie leicht und komplex es schmeckt, nach sommerlichem BBQ mit besten Produkten und einer fantastischen Sauce. Eine mit Chorizo gefüllte "Zigarre" bringt kurzweilig-würzigen Knusperspaß.

Auf dem zweiten Teller liegt eine dünne Scheibe ("Carpaccio") vom gegrillten Presa, so zart, dass wir nicht mal ein Messer brauchen. Das Fleisch ist mit einem intensiven Iberico-Jus nappiert und wird lediglich von knackigen Chipirones flankiert – erneut eine Berg-und-Meer-Variante, ganz puristisch, ganz wundervoll.

Das erste explizit "italienische" Gericht des Menüs ist: Pasta. Hervorragende Eidotter-Tortellini ruhen in einer dichten, mit Brie de Meaux angereicherten Sauce, dazu Pfifferlinge (die hier noch besser passen als zum Steinbutt) und etwas Sommertrüffel. Viel gibt es da nicht zu sagen: Das ist ein süffiger Wohlfühlgang, der überraschend elegant schmeckt und vom exzellenten Handwerk lebt, nicht mehr und vor allem nicht weniger. Oder doch: wir würden uns öfter Pasta in Spitzenrestaurants wünschen.

Zwischendurch schwirrt immer wieder Matteo Ferrantino durch den Gastraum, erläutert an den Tischen Gerichte, serviert manches selbst – alles in einer quirligen, gestenreichen Art, die uns an Roberto Benigni erinnert.

 

Ultrapuristisch kommt der Hauptgang daher: Ein Rückenstück vom Limousin-Lamm sitzt fast alleine auf dem Teller. Gut so, denn das geröstete Fleisch ist von so herausragender Qualität, dass zu viele Beigaben nur stören würden. Ein milder Kamillenjus rundet den feinen Lammgeschmack sanft ab, Paprika, Anchovis und Aubergine setzen pointierte Akzente, die uns gedanklich in Richtung Süditalien abschweifen lassen. Ein Traum, in mehrfacher Hinsicht...

Nach dieser Reduziertheit wirkt das erste Dessert regelrecht ausufernd. Das Thema der Trilogie ist Pfirsich. Auf dem Teller vorne im Bild haben wir ein Sorbet in Form eines Pfirsichs, eine Joghurt-Pfirsich-Ganache mit Dulcey Schokolade, Pfirsich-Gelee und eine Sauce vom weißen Pfirsich. Das schmeckt gut, insbesondere die zartschmelzende Ganache, ist dann aber vielleicht doch ein Tick zu viel des Pfirsichs.

Dann gibt es noch ein Zitronenverbene-Macaron mit Pfirsich, gesalzener gerösteter Mandelcreme und Lavendelgel – zart, federleicht, angenehm süßsäuerlich, mit der Salzmandel für den entscheidenden Kick.

Als letztes nehmen wir uns das geeiste Ziegenjoghurt mit pochierten Pfirsichspalten, Salatherzen, Pfirsichvinaigrette, gebrannter Erdnuss und Erdnuss-Crumble vor – ein herrliches Sommerdessert und eine schöne Variation unseres mütterlichen Dessertklassikers "Joghurt mit Pfirsichen". Die feinherben Noten des Salats sorgen für spannende Abwechslung, die Erdnüsse für Textur. Vor allem auch: die Frucht selbst liegt auf dem Teller!

Das zweite Dessert kombiniert weiße Schokolade mit Erdbeere und Tahiti-Vanille. Das ist eine vergleichsweise konventionelle, aber grundsätzliche gute Kombi. Das Eis von weißer Schokolade (die übrigens aus Kakaobutter hergestellt wird und also keineswegs ein Kunstprodukt ist) schmeckt gut, die diversen knuspernden und schmelzigen Beigaben passen prima. Ein bisschen wie eine Mischung aus Spaghetti-Eis und Ed von Schleck. Nur vermissen wir: die Erdbeeren. Wie so oft wird die Frucht in verschiedener Weise verarbeitet, nur in den Genuss einer wirklich tollen, vollreifen, saftig-aromatischen Erdbeere kommen wir leider nicht. Das würde hier den entscheidenden Kick von einem netten zu einem richtig guten Dessert bringen.

Zum Digestif (in etwas unpraktischen Gläsern) noch ein paar Petits Fours (von links): Amarena-Kirsche mit Mascarpone und Thymian, Mocca-Macaron mit Tonic und Pinienkernen, Caneles mit Kardamom und Rum, Brownie mit Orange und Whisky, Bananen-Toffee-Bonbon. Unsere Erinnerung an diesen Abschluss ist nicht mehr ganz klar, nur dass die Caneles und der Mocca-Macaron die Highlights waren.

Als wir ziemlich spät aus dem Restaurant stolpern fühlen wir uns auf einmal, als hätten wir eine andere Welt verlassen. Irgendwie hat die Mischung aus Interieur und Essen dann doch verblüffende Wirkung gezeigt. Matteo Ferrantino (Mitte) hat zweifellos einen eigenen Küchenstil, manchmal ungeheuer präzise, manchmal ungestüm und etwas fahrig. Wenn man in der Kulinarik nach einer Autorenschaft sucht, dann entspricht diese Mischung wohl seinem Naturell. Am besten gefielen uns die reduzierten, puristischen Kreationen – "Bianc", rein, wenn man so will. Doch am Ende geht es sowieso um den flow: Auch wenn wir nicht jeden Gang wirklich mochten, stimmte die Dramaturgie.

Vielleicht sollten wir Matteo Ferrantino nicht als "Underdog" betrachten, sondern als Hamburgs "Wild Card". Im besten Sinne unberechenbar. Unsere Erwartungen hat das Menü jedenfalls immer wieder unterlaufen. Enttäuscht hat es sie nicht.

Text: Kai Mihm

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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