Restaurantkritik 27.Oktober 2020

Ein Platz an der Sonne

Fünf Tage Tirol und Vorarlberg liegen hinter uns. Fünf Tage voller High-End-Küche im Schnee, mit ausgefeilten Menüs und ziselierten Tellerarrangements – mal grandios schmeckend, mal weniger. Der einzige freie Slot blieb der Mittag vor der Abreise vom Bahnhof Innsbruck. Bis kurz vor Schluss hatten wir uns vor einer Entscheidung gedrückt – nochmal Fine Dining? Wirklich? Wir kennen uns: Nach einem halben Dutzend Spitzenrestaurants steht uns der Sinn immer nach Abwechslung. Bei dieser Unentschlossenheit kam der Tipp eines österreichischen Bekannten gerade recht. Es gäbe da dieses Wirtshaus im Hotel Meilerhof zwischen Seefeld und Innsbruck, wo seit einigen Monaten zwei Köche arbeiten, Thomas Kluckner und Waal Sterneberg, die zuvor in besten Häusern tätig waren, allen voran das De Librije. Ein Blick auf die Webseite bestätigt es: Im Zomm, so der kryptische Name des Lokals, wird handfeste Wirtshausküche aus besten lokalen Zutaten versprochen. Also nichts wie reserviert.

Bei der Ankunft dann erstmal eine leichte Irritation. Direkt an der stark befahrenen B177 gelegen, wirkt der Meilerhof eher wie eine Raststätte als wie ein gemütlicher Gasthof mit lohnender Küche. Drinnen sieht es schon netter aus, das Interieur kombiniert nordische Reduziertheit mit alpiner Gemütlichkeit. Der Clou ist allerdings die große Terrasse mit umwerfendem Weitblick auf verschneite Gipfel. Der Himmel ist knackblau, die Sonne strahlt – perfekte Bedingungen. Wir bestellen jeweils vier Gerichte, das ist reichlich, aber wir wollen ja doch ein bisschen was sehen. Dazu eine Flasche Allramm und los geht's ...

Der Snack vorweg ist eine Referenz an die Heimat des Niederländers Waal Sterneberg: Bitterballen – knusprig frittierte Fleischbällchen mit grobem Senf. Die Teilchen sind wie aus dem Bilderbuch, außen perfekt kross und kein bisschen fettig, innen ein cremiges, dampfend heißes, herrlich intensives Kalbsragout. Wir haben durchaus Vergleichspunkte, konnten wir auf unseren Holland-Touren doch schon einige Bitterballen probieren, meist zu vorgerückter Stunde am Straßenrand – und besser als hier kann man diesen Imbiss-Klassiker kaum machen.

Als erste Vorspeise gibt es "Verhackertes" (zu deutsch: Tatar), das mit Grammelschmalz auf Sauerteigbrot serviert wird – und genau das ist der Clou, denn das Brot ist lauwarm und herrlich kross angeröstet, darunter aber weich und fluffig. Zusammen mit dem sensationell gewürzten und großzügig mit frischem Schnittlauch bestreuten Tatar ergibt das eine deftige, zugleich verblüffend elegant schmeckende Wuchtstulle. Wir sind nahe dran, schon hier eine Götterspeise auszurufen.

Auch der "Aal im Grünen" gefällt: Auf dem Teller findet sich geräucherter Aal, crunchy Wintergemüse und Rote Bete. Dieses Gericht steht und fällt mit der Beschaffenheit der Gemüse – und da stimmt alles. Sie sind ideal gegart, changieren zwischen knackig, geröstet und weich; zwischendrin der saftige, kräftige Aal, dessen Räuchernoten sich wohltuend in Grenzen halten – ein gutes Ensemble, das nicht so spektakulär wie das Tatar schmeckt, aber immer noch viel Laune macht.

Weiter geht's mit Beuschel vom Kalb. Wir sind große Fans von Innereien, doch leider bekommen wir sie nur selten serviert – und nur selten wirklich gut, so wie hier: Das Ragout von Lunge und Herz ist zart, sämig und sehr kräftig, aber nicht überwürzt. Durch einen Hauch Säure wirkt es überraschend leicht. Dazu gibt es einen fluffigen Semmelknödel, der für sich genommen bereits hervorragend schmeckt, doch mit der herrlichen Sauce erst ...

Weniger rustikal kommt die Alternative daher, gebratenes Saiblingsfilet mit Möhrenrisotto und Holunder-Beurre-blanc. Der Fisch ist von bemerkenswerter Qualität, saftig, aromatisch, mit perfekt krosser Haut, das Fleisch im Kern leicht glasig, sodass es Biss und Schmelz hat. Das Risotto wiederum ist ideal al dente (sprich: deutlich kerniger, als man es außerhalb Italiens gewohnt ist), dabei von wunderbar cremig-fließender Konsistenz, was durch die Beurre-blanc noch verstärkt wird. Trotz des Holunders und der Möhren wird es auch nie zu süß. Bestreut ist das Ganze mit hauchfeinen Zitronenzesten für den zusätzlichen Kick. Dieser Teller ist eine köstliche Referenz an das nahe Südtirol, wo solche Speisen öfter auf den Trattoria-Menüs stehen dürften.

Richtig österreichisch wird es danach beim Gulasch von der Rinderwade mit Salzkartoffeln. Die dicke Sauce aus Paprika und reichlich Zwiebel ist zu einer herrlich intensiven Sämigkeit geschmort, darin dicke Fleischstücke, so zart, dass sie sich mit der Gabel zerteilen lassen. Ein Klacks Schmand bringt fette Frische, dazu buttrige, dampfende Kartoffeln, die wir mit Wonne in die Sauce drücken. Und das alles mit diesem Ausblick, der Sonne, den Bergen, dem funkelnden Schnee – ein Traum.

Als alternativer Hauptgang kommt ein deutscher Klassiker auf den Tisch: Roulade mit Rotkohl, Kartoffelpüree und Salat. So schön das Fleisch auch glänzt – es ist, wie so oft bei Rouladen, ein bisschen zu trocken. Zum Glück sitzt es in einem wahren See aus Sauce, die so gut ist, dass wir sie nahezu komplett weglöffeln. Zum Püree brauchen wir sie gar nicht mal, denn das ist so buttrig, dass es auch pur großartig schmeckt. Ach ja, das Kraut: sehr gut, weil gut gewürzt und vor allem noch leicht knackig.

Wir sind nun zwar ziemlich satt, aber so euphorisiert, dass wir noch mehr probieren wollen, ...

... also bestellen wir noch einen Spinatknödel. Der strotzt vor brauner Butter und ist mit reichlich Bergkäse bestreut. Gott, ist das Ding gut! Fluffig und üppig, würzig und buttrig. Unsere Gier hat sich gelohnt.

Als Dessert gibt es einmal Apfelstrudel – der ist gut, aber im Vergleich zu den deftigen Speisen kein Knaller. Die Füllung ist uns ein bisschen zu weich, zu undifferenziert und insgesamt auch zu süß. Die sehr gute Vanillesauce (scheinbar aus Extrakt, da ohne Pünktchen vom Mark) reißt es raus.

Wesentlich besser mundet die "Schokoladenbombe": Unter einer Kuppel aus exquisiter Schokoladenmousse verbirgt sich Ur-Zwetschke, drumherum ein Nusscrumble. Das macht Freude, changiert zwischen Bitternoten der Schokolade, der eher dunklen Fruchtsäure der Zwetschke und den karamellisierten Nüssen (die der allergiegeplagte Chronist leider nur in minimaler Menge probieren kann). Eine klassische Kombi, gekonnt umgesetzt.

Pappsatt und glücklich lassen wir den Blick auf die entfernten Bergkämme schweifen. Was für ein Ort. Was für ein überraschendes, bewegendes Essen. Das Duo Kluckner und Sterneberg tut hier etwas höchst Ungewöhnliches: Die beiden kommen zwar aus der Spitzenküche und hatten mit Jonnie Boer einen der bedeutendsten europäischen Avantgardisten als Lehrmeister. Trotzdem versuchen sie im Zomm nicht, traditionelle Gerichte modernistisch oder sonstwie zu interpretieren. Vielmehr wenden sie ihr Können an, um die Klassiker optimal zuzubereiten, ohne sie in ihrer Tradition zu verändern.

Die Speisen an sich sind denkbar einfach. Die Finesse – und wenn man so will auch die Modernisierung – liegt hier in der handwerklichen Präzision. Da ist ein Tatar einfach perfekt gewürzt, ein Beuschel exakt abgeschmeckt, Risotto und Rotkohl auf den Punkt gegart, ein Spinatknödel von jeder Plumpheit befreit. Trotzdem bleibt es eine pure Wirtshausküche ohne Wenn und Aber. Bei so einer Herangehensweise gibt es nichts, was von Fehlern und Ungenauigkeiten ablenkt – möglicherweise schrecken deshalb so viele ambitionierte Köche davor zurück.

Wir jedenfalls merken in solchen Momenten, wie sehr uns diese Art Küche in Alltagsrestaurants fehlt. Denn sie ist für uns nicht nur ein Moment der Erdung, sondern letztlich bildet sie eine Basis, um die verfeinerte Küche besser zu verstehen, bis hin zur Avantgarde. Kluckner und Sterneberg machen vor, wie es geht, im Zomm – was übrigens gar kein kryptischer Begriff ist, sondern schlichtweg Dialekt für 'Zusammen'. Ganz einfach, ganz unprätentiös, so stimmig. Was für ein Wirtshaus.

Fazit

Beglückende Gasthofküche geht kaum besser – hätte nicht der Zug gewartet, wären wir direkt zum Abendessen sitzen geblieben.

Text: Kai Mihm

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