Restaurantkritik 13.August 2020

Sein oder Sosein?

Wir waren bestimmt nicht die einzigen, die sich beim Erscheinen des 2019er Guide Michelin Deutschland verwundert die Augen rieben. Das neubesternte Sein in Karlsruhe hatten wir überhaupt nicht auf dem Radar, und so rätselten wir zunächst, ob wohl eine Verbindung mit dem Sosein in Heroldsberg bestünde. Doch weit gefehlt – schon beim Lesen der Speisekarte offenbart sich im Sein eine Küchenphilosophie, die weiter vom Namensvetter nicht entfernt sein könnte. Im Sein will man „einfach nur sein“, wie uns Küchenchef und Inhaber Thorsten Bender erklärt, und so werden hier Produkte und Zubereitungsarten aus aller Welt kunterbunt und ganz nach Laune ins Menü integriert. Ein solch ungezwungenes Küchenmantra in einem ganz jungen Restaurant ist in Zeiten von mit Habermas konkurrierenden Küchenmanifesten durchaus erfrischend. So machen wir uns gespannt auf den Weg nach Karlsruhe in eine zentrumsnahe Wohngegend. Hier fügt sich das kleine Restaurant ganz unaufgeregt in die Nachbarschaft, und auch das einfache, aber wertige Interieur ist unaufgeregt und dezent. Deutschland ist ja nicht gerade gesegnet mit wirklich gelungenen Casual-Fine-Dining-Beispielen. Ob das Sein wohl eins sein könnte?

Zur Einstimmung gibt es zunächst ein paar Oliven und Chips sowie einen Cracker mit Leberwurst und Gürkchen, der – im Nachhinein betrachtet – schon genau andeutet, wohin hier die kulinarische Reise geht. Im Prinzip ein Mini-Leberwurstpausenbrot, nicht unbedingt originell, aber so schmackig und beherzt gewürzt, dass Lust auf mehr aufkommt.

Entenlebermousse und marinierter Lachs sind natürlich ebenfalls alte Bekannte, doch sind auch sie wirklich gekonnt zubereitet und auf den Punkt aromatisiert. So sieht man die Alten doch ganz gerne.

Marinierter Taschenkrebs, mit grünem Apfel, Yuzu, Avocado und Koriander ist der offizielle Beginn des Menüs, mit deutlich leiseren, doch vernehmbaren Tönen. Das geschmacklich sehr feine Krebsfleisch ist offensichtlich fangfrisch und wird hier ganz beschwingt und leicht inszeniert, in einem Spannungsfeld zwischen Süße, Zitrus- und grünen Noten und auch etwas Cremigkeit. Auch hier überzeugen Klarheit und Deutlichkeit der Aromen und die stimmige Kombination aller Komponenten auf dem Teller. So darf es weitergehen.

Ausgerechnet vom designierten Signature Dish Pulpo knusprig, schwarze Bohne, rote Zwiebel, Granatapfel, Mole vergessen wir, ein Bild zu machen. Wahrscheinlich sind wir zu baff vom Anblick des schwarzen Bohnenpürees, das mit seiner stumpfen Oberflächenoptik eher ungute Erinnerungen an deutsches Tex-Mex weckt. Doch würde gerade dieses Bild perfekt illustrieren, warum man von der Optik nur sehr begrenzt auf kulinarische Qualität schließen sollte. Denn das schmeckt alles ziemlich gut. Die Krakenarme sind zart, kontrastiert von einer reschen Kruste, und vor allem die Bohnen sind nicht nur komplex abgeschmeckt, sondern auch von erstaunlich angenehmer Konsistenz. Zusammen mit der Mole ergeben sie einen erdigen Kontrast zum Pulpo, ohne jede Mampfigkeit. Damit das ganze vor lauter Cremigkeit nicht doch noch in die Babyfood-Kategorie abdriftet, steuern Zwiebeln und Granatapfel etwas Crunch und eine süß-saure Note bei. Smart.

Aus Mexiko zurück, setzen wir zu einem Spagat zwischen Nordatlantik und Mittelmeer an, mit Rotbarsch, Wildfang, gebraten, Safran, Vongole, Passepierre, Olivenöl. Ein schönes Bekenntnis zu Europa, so harmonisch und elegant vereinen sich hier nordischer Fisch und Queller mit den Aromaten des Südens. Dabei besticht besonders der würzige Safran-Meeresfrucht-Fond. Er ist heiß und pointiert, ohne vorlaut zu sein, und umrahmt die auf den Punkt gegarten Meeresbewohner sehr stimmig. 

Beim Iberico-Schweinebäckchen, geschmort, Sichererbse, Pepper Drops, Ayran, Minze wird es wieder eine Nummer deftiger und intensiver. Aber das butterzarte Schweinefleisch ist klein dimensioniert und wird durch die Frische des Joghurts und die Kühle der Minze geschickt in Schach gehalten. Wie fast alle Teller hier ist das scheinbar einfach, durchaus rustikal, aber überhaupt nicht simpel.

Schwarzfederhuhn, Brust & Keule, Sellerie, Cashewkerne, Gänselebersauce klingt fast wie ein Gang aus dem badischen Biedermeier. Entpuppt sich aber als ein Top-Hauptgang mit den kochtechnischen Mitteln der Gegenwart. Das auf den Punkt gegarte saftige Huhn hat viel Geschmack und eine hauchdünne, zartknusprige Haut. Und wird perfekt durch eine aromatische Gänselebersauce begleitet, die alle Schwere, aber keinerlei Intensivität verloren hat. Etwaige Langeweile durch übermäßige Ton-in-Ton-Harmonie verhindern geschickt dimensionierte Kontrapunkte durch kleine Stücke frisch-grünen Staudenselleries und zunächst bissige, dann cremige Cashewnüsse. Einer der eher raren Fälle, wo ein Hauptgang auch wirklich die Hauptattraktion des Menüs ist.

Die süße Einstimmung bedient sich dann des bewährten Dreiklangs aus Kuchen, Eis und etwas Frucht. Das ist jetzt mal wirklich einfach, aber trotzdem handwerklich und geschmacklich ganz im grünen Bereich.

Das erste richtige Dessert ist dann ein Käsegang, und auch hier zeigt die Küche ihr gutes Händchen, was Proportionen und Feinabstimmung angeht. Raclette, Schaum, saures Gemüse, Röstbrot, Piment d’espelette könnte eine mächtige Bombe sein, entpuppt sich aber als eher duftige Angelegenheit, bei der sich Käse, fermentiertes Gemüse und die Säure genau richtig in Schach halten. Selbst der Sternefresser mit einer starken Abneigung gegen komponierte Käsegänge löffelt das willig und schnell aus.

So bleibt auch noch etwas Platz für Cheesecake, Frischkäse, Salzkaramell, Blutorange, und auch im letzten Akkord zeigt sich, dass man das Rad nicht neu erfinden muss, um Freude auf den Teller zu bringen. Einwandfreies hausgemachtes Karamelleis, säuerlich-frische Crème und leicht knuspriger Crumble lassen sich mit und ohne Zitrusaromen abwechslungsreich kombinieren, und der Süßegrad ist genau auf den Punkt. Deutlich ein Dessert, aber weit entfernt von klebrig. Zum Ende noch ein weiteres Mal comme il faut.

Waren wir bei der Planung unseres Abstechers nach Karlsruhe noch etwas ratlos, wenn nicht gar skeptisch, lehnen wir uns jetzt erfreut zurück. Das hatten wir so nicht erwartet, diese durchgehende technische Akkuratesse, gepaart mit bemerkenswertem Feingefühl, aber auch Mut bei der Würzung. Besonders gefallen hat uns, wie viele der scheinbaren Nebenrollen auf dem Teller dann doch entscheidenden Anteil am Erfolg der Gerichte hatten. Tupfen- und Schäumchenstatisten konnten wir keine entdecken. Schön auch, dass sich diese kulinarische Intelligenz in der Weinbegleitung fortsetzte, die sowohl bezüglich Qualität und Originalität der Weine als auch Speisenkontext deutlich von der häufig vorhersagbaren Langeweile entfernt war. Hier zeigt sich einmal mehr, dass stringente Konzepte wichtig, aber lange nicht hinreichend für kulinarische Freuden sind. Dazu bedarf es zunächst solider handwerklicher Ausbildung, eines Gespürs für die Balance zwischen Harmonie und Spannung auf dem Teller, sowie eines guten Gaumens. Im Sein kommen noch eine lockere Atmosphäre und ein hemmschwellensenkendes Preisniveau dazu. Schon hat man den verdienten Stern mit Casual Dining, das den Zusatz „fine“ durchaus verdient.

Fazit

Im Sein wollen wir gerne öfter sein.

Text: Georg Lauer

Wein

Weinbegleitung im 'Sein' von Thorsten Bendel in Karlsruhe

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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