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Restaurantkritik  1.Oktober 2019

DER KLEINE PAULY SPRICHT JETZT FRANZÖSISCH

Die Fluktuation unter den Berliner Sterneköchen ist derzeit enorm: Innerhalb eines Jahres schloss Daniel Achilles das zweifach besternte "Reinstoff", Andreas Rieger verließ das 'einsunternull', die 'Cordobar' wurde ohne "Bar" unter Yannic Stockhausen als Fine-Dining neu eröffnet und Arne Anker kehrte dem Einsterner 'Pauly Saal' den Rücken. Ankers moderne, leicht säurebetonte Küche im Stil seines Mentors Sergio Herman gehörte für uns genauso fest zu diesem Restaurant wie die Tim-und-Struppi-Rakete im Speisesaal. Seit April hat nun Dirk Gieselmann das Küchenzepter übernommen, und dessen Vita versprach einen Paradigmenwechsel auf den Tellern: Das Klassisch-französische soll nun die kulinarische Richtung in den geschichtsträchtigen Räumen der ehemaligen jüdischen Mädchenschule bestimmen.

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Der Pauly Saal in Mitte, der ebenso wie das kürzlich besternte "Kin Dee" zur Grill-Royal-Gruppe gehört, ist und bleibt einzigartig in Berlin, wenn nicht sogar in ganz Deutschland: Der große Speisesaal vereint das Rustikal-kantinenhafte vergangener Tage mit etwas modernem Chichi, und alle Blicke bündeln sich an der raumgreifenden "Miss Riley"-Rakete der Künstlerin Cosima von Bonin (wir fragen uns übrigens jedes Mal, wie das Ding hier reingeschafft wurde). Im Sommer wird der sonnige Innenhof geöffnet, und hier sitzt man – mitten im touristischen Berlin-Mitte – in nahezu vollkommener Ruhe auf uralten Schulstühlen. Bis vor kurzem jedenfalls, denn auch im Pauly Saal greift die Lunchdezimierungs-Epidemie; nur noch am Freitag und am Samstag lässt es sich mittags speisen.

Der neue Küchenchef Dirk Gieselmann (48, rechts) absolvierte seine Kochausbildung im damals zweifach besternten "Gala". Sein prägendster Karriereabschnitt dürfte die Zeit in der Elsässer "Auberge d l'Ill" unter Marc Haeberlin gewesen sein, der ihn zwischendurch ins "Intercontinental Tahiti" schickte, wo er die Haeberlinschen Kreationen kuratierte. Ein paar Jahre später ging es dann zurück ins Elsass, diesmal für 8 Jahre als Küchenchef an der Seite des Großmeisters. Dazwischen kochte er als Souschef im "La Réserve de Beaulieu" an der Seite von Olivier Brulard und zuletzt im Hotel "The Westcliff" in Johannesburg. Eine durchaus eindrucksvolle Vita, die unsere Neugier auf den Kurswechsel zur klassischen Küche im sonst eher von avantgardistischer Hippness geprägten Restaurant ordentlich anfeuert.

Zur Einstimmung werden uns Austern serviert – beim Verputzen blicken wir uns etwas irritiert an: Ist der von uns so geliebte Pauly Saal zu einer Brasserie geworden und steht nun mit dem Borchardts in Konkurrenz?

Als Gruß erreicht uns ein Zwiebelbraten. Geschmacklich erinnert uns das eher an ein Stückchen Kassler, das eine Zwangsehe mit der zu kalten, zu groß dimensionierten Mousse eingeht. Der Happen ist trotz seiner Unwucht dennoch schnell verputzt – und ebenso schnell vergessen.

Der erste Gang, Hummersalat Riviera mit Wachtelei, Artischocke, Taggiasca-Oliven, Sardellen und Hummermayonnaise, schwenkt dann eine mächtig große französische Flagge. Sehr klassisch gehen die saftigen Hummerstücke eine salzige Symbiose mit den Sardellen ein, die anderen Komponenten versprühen ein deutlich mediterranes Flair. Wir fühlen uns an einen Banketttisch einer mittelgroßen Hochzeit versetzt – irgendwo zwischen Küste und Großstadt.

Die Gänseleber-Terrine mit Aprikosenchutney und Gelee mit Sternanis macht den Wechsel vom Anker-Stil nun sehr deutlich: extrem oldschoolig und schnörkellos, sowohl in der Kombination als auch beim Anrichten. Die Qualität der Terrine ist sehr gut (allerdings ist sie zu kalt), die Menge an Frucht und Säure passt auch, wenngleich wir von einer besternten Hauptstadtküche schon mehr erwarten. Im Pauly Saal scheint man die kulinarische Zeitmaschine zum Laufen gebracht zu haben.

Die Qualität des Kalbsbries ist über alle Zweifel erhaben, der Garpunkt top – zwischen röstigem Äußeren und cremigem Inneren. Gepaart wird das Produkt mit Erbsen "à la française", geräuchertem Speck, Pfifferlingen und Kalbsjus mit Sherry-Essig. Etwas mehr Sauce und Salz wären allerdings hilfreich, um die Komponenten besser miteinander in Einklang zu bringen.

Auch über den gebratenen Seeteufel mit Petersilienöl können wir weder qualitativ noch handwerklich meckern, nur der Bouillabaisse-Sud versagt in dieser Kombination auf ganzer Linie: Aromatisch wirkt er, als hätte man bloße Karkassen und Garnelenköpfe ausgekocht. Sehr streng und bitter schlägt die "Suppe" mit einer sonderbaren, mehlig-breiigen Textur (schon mit dem bloßen Auge zu erkennen) gegen die Papillen und lässt jedwede Finesse vermissen. Das geht besser, ...

... allerdings nicht beim nächsten Teller: Blasse Aromen bestimmen den vegetarischen Gang, Steinpilz-Consommé, Ravioli mit Brennnesseln und Ziegenkäse-Gnocchi. Was sich nach einer mittlerweile als "gelernt" zu bezeichnenden Umami-Verdichtung liest, entpuppt sich als eine kaum nach Pilz oder anderen Produkten schmeckende Suppe - mit immerhin gut gearbeiteter Teigeinlage und komplett sinnfreier Blattgold-Deko.

Produktfokussierte Reduktion "à la française" dann beim Hauptgang: Das gebratene Weidelammkarree mit gefüllter Tomate, Panisses (knusprig gebackene Kichererbsen) und Jus mit Aromaten gibt sich recht schnörkellos. Karree und Garung sind einwandfrei, die Tomate dagegen ist uns deutlich zu kalt, der fade Jus könnte außerdem mal wieder eine Prise Salz vertragen - oder aber mehr Aromaten -, um das Lammfleisch strahlen zu lassen.

Pistazien-Crème-brûlée mit marinierten Sauerkirschen, Kirschsorbet und Schokoladenhippe stimmt uns versöhnlicher: Karamell, Frucht, Säure und Cremigkeit, Knusper, Hitze und Kälte kommen wohlproportioniert zum Zuge. Ein Klassiker der Süßspeisenwelt, hier ein klein wenig fruchtig aufgepeppt. Nicht aufregend, aber im Kontext der bisherigen Gerichte zufriedenstellend.

Sehr gelungen ist der Weiße Pfirsich mit Crème-fraîche-Mousse, Mandel-Financier, Eisenkraut, Himbeergel und Sorbet. Die Süße des Pfirsichs ist zu jeder Zeit präsent, wird durch den Fettgehalt der Crème noch einmal ausgebreitet, zugleich durch die kühle Frische des Sorbets in Zaum gehalten und durch das besondere Aroma der Himbeere veredelt. Schön.

Gerade bei der französischen Küche, wie sie Dirk Gieselmann im Pauly Saal auf die Teller bringen will, entscheiden Details über Wohlgeschmack oder Irritation: eine Prise, ein paar Grad Kerntemperatur, die letzte halbe Stunde bei der Fond-Reduktion. Vor allem bei den herzhaften Gerichten scheint sich der neue Saal-Chef noch nicht eingespielt zu haben; startete das Menü mit Hummer, Gänseleber und Kalbsbries noch recht gut, durchzog die folgenden Gänge eine Kette unterschiedlichster Makel. Eine misslungene Bouillabaisse, das blasse Pilzgericht, die kalte Tomate und das fehlende Salz beim Lammkaree - je weniger auf dem Teller liegt, desto mehr fallen solche Fehltritte auf. Bei den Desserts zeigt die Mannschaft dann, dass sie die Küchensprache beherrscht. Gleiche Sorgfalt und Finesse wünschen wir uns in Zukunft auch bei den herzhaften Speisen und hier vor allem bei den Beilagen, die vielen Gerichten erst die nötige Spannung verleihen. In der aktuellen Form verliert sich das Restaurant in einer Brasserie-Beliebigkeit, die es in Berlin bereits zuhauf gibt - und dieses Schicksal wollen wir dem Pauly Saal nicht wünschen.

Fazit

Paradigmenwechsel im Pauly Saal: Dirk Gieselmann bringt klassisch-französische Gerichte auf die Teller, verliert sich aber besonders bei den herzhaften Tellern in faden Kreationen und handwerklichen Fehltritten. Wir hoffen, dass der Koch auch kulinarisch bald in Berlin ankommt.

Wein

Die Weine im Restaurant Pauly Saal in Berlin

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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