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Restaurantkritik 28.April 2020

Lung King Heen – Königlich kantonesisch

Tag 3 in Hongkong. Der Jetlag ist noch nicht überwunden. Die Nacht war lang, die Bars sehr gut und das Schlafpensum gering. Kurz bevor mir endlich die Augen zufallen, taucht die aufgehende Sonne die Wolkenkratzer von Hong Kong Island in ein goldenes Licht. Was für ein Anblick. Insbesondere auch aus dem 108. Stockwerk des Ritz-Carlton Hotels ...

Jetzt steckt mir die Müdigkeit in den Knochen, als wir um kurz nach 12 ins Taxi steigen, um ins Lung King Heen zu fahren. Nach dem japanisch-französischen Écriture und vor dem modernistischen Bo Innovation am heutigen Abend ist es das erste traditionell kantonesische Restaurant unseres Trips. Ob wir dort ankommen, ist noch ungewiss. Das Restaurant befindet sich (wie die meisten Spitzenrestaurants) auf Hong Kong Island, wir aber wohnen im Kowloon District, auf der Festlandseite der Stadt. Angesichts der Proteste der Demokrateibewegung warnen uns die rührend besorgten Hotelangestellten vor dem Trip über die Bucht. Doch der gut gelaunte Fahrer nimmt uns in radebrechendem Englisch die Sorgen: Es sei alles ruhig – und überhaupt solle man sich als Tourist doch unbedingt frei bewegen. Ein Rat, den wir nur teilweise befolgen werden.

Tatsächlich kommen wir zügig im Four Seasons Hotel an, das neben dem dreifach besternten Lung King Heen auch das dreifach besternte Caprice und das zweifach besternte Sushi Saito beherbergt. Eine beeindruckende Aufstellung. Zu Recht rühmt sich das Hotel als eigene "dining destination". Passend dazu verströmt das riesige Foyer den Charme eines Flughafenterminals. Im Gewusel bahnen wir uns den Weg zum Fahrstuhl, hoch in den vierten Stock und ab ins voll besetzte Lokal.

Das Lung King Heen bekam 2008 als erstes kantonesisches Restaurant weltweit drei Michelin-Sterne. Damals mehr als eine kleine Sensation. Chef de Cuisine Chan Yan-tak war im Jahr 2002 für den Posten eigens aus dem Ruhestand zurückgekehrt – und ist 18 Jahre später immer noch da. Uns wird er bei seiner Runde durchs Lokal verblüffend an Heinz Winkler erinnern.

Das Restaurant ist riesig, die Stimmung angenehm lebhaft. Außer einem Tisch mit drei Amerikanerinnen sind wir an diesem Montagmittag die einzigen nichtasiatischen Gäste. Ein Blick in die gewaltige Speisekarte führt zunächst zu heilloser Überforderung – wie sollen wir uns zwischen gefühlt zweihundert Speisen entscheiden? Zum Glück steht uns ein Kellner in perfektem Englisch beratend zur Seite. Erst ein paar Dim-Sum und kleine Vorspeisen, dann ein paar Hauptgerichte zum Teilen, zum Abschluss ein kleines Dessert. Passt bestimmt.

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Zum Auftakt gibt es einen Klassiker des Hauses: knuspriges Spanferkel mit chinesischem Pfannkuchen und Pflaumensauce. Der Kellner gibt uns den Tipp, die Haut zusätzlich mit körnigem Zucker zu bestreuen, um den Knuspereffekt zu verstärken – ein erster Hinweis auf den Hang zum Süßlichen in der Kanton-Küche. Uns genügt jetzt erstmal die Süße der Pflaumensauce zum unfassbar zarten Fleisch, in einem spannenden Zusammenspiel mit dem weichen, zarten, ganz leicht fluffigen Pfannkuchen. Doch eigentlich geht es bei diesem Gericht um die Haut: so perfekt kross-krachend, wie wir es noch nie erlebt haben, aromatisch zwischen Karamell und konzentriertem Schweinegeschmack. Eine neue Welt tut sich auf. Und unsere Jetlag-Müdigkeit ist längst einer euphorischen Neugierde gewichen.

Das Lung King Heen ist nicht zuletzt für seine Dim-Sum berühmt. Die Teigtaschen unterschiedlichster Art sind in ganz China ein klassischer Imbiss und eine beliebte Mittagsspeise (um uns herum werden denn auch ausschließlich Dim-Sum gegessen). Wir beginnen unsere Auswahl mit gedünsteten Dumplings von Garnele, Hummer und Jakobsmuschel. Hier stellt sich zunächst die Frage: Wie isst man das am besten? Für einen einzigen Happen sind die Dinger eindeutig zu groß. Zerteilen geht mit Stäbchen auch schlecht. Also versuchen wir es mit Abbeißen. Das erweist sich als ziemliche Sauerei, weil das störrische Konstrukt zwischen Mund und Stäbchen auseinanderfällt. Trotzdem (oder deshalb?) schmeckt es herrlich. Die saftige Garnele thront auf einer nicht zu feinen Farce aus Hummer und Muschel, umhüllt von einem dünnen, mit Lauch aromatisierten Teig, leicht würzig und ganz leicht süßlich. Meisterhafter Purismus.

Erst jetzt sehen wir, wie die Einheimischen bei solchen Dim-Sum vorgehen: mit den Stäbchen auf dem Teller auseinderpflücken und dann alles einzeln essen. Das ist praktisch, aber irgendwie kann das ja nicht Sinn der Sache sein. Die Kombinationen und der schöne Mischgeschmack gehen dadurch verloren.

So oder so: Beim gedämpften Racan-Tauben-Dumpling mit Taro funktioniert es mit dem Abbeißen besser. Heiß und kraftvoll breitet sich die Füllung im Mund aus. Das geschmorte Fleisch ist ungemein dicht und von geheimnisvoller Würze, die Süße hält sich in Grenzen. Sehr gut.

Weiter geht es mit Abalone-Küchlein mit gewürfeltem Hühnchen. Das erinnert von der Machart ein wenig an Quiche – nur eben auf Kanton-Art. Der knusperzarte Teig ist mit etwas Hühnerragout gefüllt und mit fleischigen Abalone-Scheiben getoppt, umhüllt von einer dicklichen Sauce. Auch dieses Dim-Sum lebt von der gut balancierten Mischung aus herzhaften und süßlichen Aromen, ist uns aber etwas zu teiglastig.
Anderereits: Bei den unglaublich günstigen Preisen für die Dim Sum –rund 4 Euro pro Stück– kann man das verzeihlich nennen.

Bei den gebackenen BBQ-Pork-Buns mit Pinienkernen kippt es dann: Sehr viel sehr gut gemachter Brötchenteig (obenauf eine Art Rührteig) umhüllt eine süßlich-würzige Füllung aus gegrilltem Schweinefleisch. Vielleicht liegt es an der Wiederholung des Konzepts "Teig plus Würze plus Süße", jedenfalls erscheint uns die Süße hier übermächtig. Auch das Mengenverhältnis von Teig zu Füllung finden wir nicht stimmig – nach dem Brummer wären wir satt! Auch deshalb nehmen wir nur zwei Bissen und lassen den Rest stehen.

Sehr viel besser wird es wieder bei der frittierten Krabbenschale, gefüllt mit Krabbenfleisch. Bei dieser Zubereitung handelt es sich um einen Klassiker der Hongkong-Küche, serviert in zahlreichen Restaurants. Wir können leider (noch) keine Vergleiche anstellen, doch die Version im Lung King Heen gefällt uns schonmal ausgesprochen gut. Unter der perfekt krossen Hülle verbirgt sich eine sämige Füllung aus purem, feinst gehacktem Krabbenfleisch mit geschmorten Zwiebelstückchen – letztere so dosiert, dass ihre Süße nicht dominiert. Man könnte es etwas flapsig eine Art Krabbenkrokette nennen – nur eben auf Drei-Sterne-Level

Der erste Gang zum Teilen: gedämpftes Star-Garoupa-Filet. Beim Star Garoupa, einer Zackenbarsch-Art, handelt es sich um einen der teuersten Speisefische Asiens – nicht zuletzt, weil er mit der Leine geangelt wird. Seine Begehrtheit verdankt er seinem festen, schneeweißen Fleisch und dem sehr zarten, leicht süßen Geschmack. Um diesen zarten Geschmack zu bewahren, wird er meist gedämpft und mit wenigen Beigaben serviert. Im Lung King Heen sind das Ingwer, Frühlingszwiebeln und eine leichte Brühe mit Soja und Sesamöl. Tatsächlich funktioniert dieses Gericht nur, wenn man wirklich von allem etwas zwischen die Stäbchen bekommt. Dann entwickelt sich mit dem saftigen Fisch ein Geschmacksbild zwischen frischer Frühlingszwiebel-Würzigkeit, ätherischer Ingwerschärfe und papillenspitzender Sauce. Wobei alles in einem sehr dezenten Rahmen bleibt. Man muss sich auf dieses elegante und subtile Ensemble einlassen, dann wird man belohnt – nicht mit einem Wumms, sondern mit einem verführerischen Flüstern

Die im Wok gebratenen Garnelen mit Bio-Schwarzknoblauch, Zwiebel und getrockneten Chilischoten sehen konventionell aus. Doch weit gefehlt. Bei diesem Gericht geht es allein darum, die hervorragenden Krustentiere zur Geltung zu bringen – und wie großartig das gelingt, mit genau richtig dosierter Schärfe, einem Hauch Sojasauce, viel Koriander und etwas Umami von den angerösteten Zwiebelstücken. Die Garnelen sind so saftig, knackig und köstlich, dass uns absolut nichts fehlt, schon gar keine Sauce. Das ist Produktküche erster Güte.

Auf den ersten Blick unspektakulär kommt auch der Wok-gebratene Schweinebauch mit Lilienzwiebeln und Paprika in X.O.-Chilisauce daher. Doch der seidige Glanz auf Gemüse und Fleisch lässt Delikates erahnen. Machen wir es kurz: Der Schweinebauch ist nicht weniger als exzellent. Zart und doch kernig, mit ungeheuer viel Eigengeschmack. Das Gemüse wurde nur kurz sautiert und hat dadurch eine perfekt knackige Frische. Der Clou ist jedoch die XO-Sauce, jene klassische Hongkong-Sauce aus getrockneten Jakobsmuscheln, getrockneten Garnelen, Jinhua-Schinken, Chili, Knoblauch und Rapsöl – eine süßlich-scharfes Meereskonzentrat. Es umhüllt hier die Zutaten als glänzende Schicht – eine Art Umami-Imprägnierung – und verleiht dem Gericht subtile Kraft und Eleganz. Großes Kino.

Traditionell markiert in China ein Reisgericht das Ende des würzigen Menüabschnitts. Hier ist das der Lung-King-Heen-Reis mit Meeresfrüchten. Wir sind zwar längst pappsatt, aber ein paar Löffel probieren wird trotzdem – zum Glück, denn es schmeckt toll! Der mild gewürzte Reis hat eine überraschend lockere Beschaffenheit, dazwischen feinste Stücke diverser Meeresfrüchte, die erstaunlich viel Geschmack abgeben. Dass eine Reisschale uns einmal so verblüffen würde, hätten wir nicht gedacht.

Das Dessert namens Mango-Pomelo-Sago gehört ebenfalls zu den Klassikern des Hauses. In einer Art Kaltschale aus Mango und Pomelo finden sich buttrige Mangostücke und knackige Sago-Perlen. Das ist so simpel wie köstlich – und nach diesem ausgiebigen und gehaltvollen Mittagessen herrlich erfrischend.

Inzwischen sind wir fast die letzten Gäste im Lokal – und wissen immer noch nicht genau, wie uns geschah. Wir hatten im Vorfeld so viel Zwiespältiges über das Lung King Heen gehört, gerade auch von essverrückten Einheimischen, dass wir eine Achterbahnfahrt erwarteten. Mit einer nahezu durchgehend hervorragenden Küche hatten wir jedenfalls nicht gerechnet. Nach diesem ersten Besuch eines kantonesischen Spitzenrestaurants fehlt uns natürlich der angemessene Maßstab – und er wird uns auch nach dem dritten, siebten oder zehnten Restaurant noch fehlen. Man müsste schon ziemlich vermessen sein, um zu glauben, dass sich die Feinheiten einer großen Länderküche so schnell erfassen ließen. Vor allem gehört zum Erlangen eines Maßstabs auch der Besuch einfacher Restaurants.

Was wir trotzdem können ist, uns auf unseren Geschmackssinn zu verlassen – und da hat uns im Lung King Heen einiges begeistert, wenngleich uns die kantonesische Vorliebe für Süßliches gewisse Schwierigkeiten bereitet. Umso gespannter sind wir, wie es in den anderen Restaurants weitergeht. Eines aber steht schon jetzt fest: Mit dem, was man in Deutschland unter gehobener chinesischer Küche versteht, hatte das hier alles nichts zu tun.

Fazit

Ob das Lung King Heen das beste kantonesische Restaurant Hongkongs ist, wissen wir nicht – wir wissen nur, dass wir es bei keiner HK-Reise mehr auslassen wollen.

Text: Kai Mihm

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