Restaurantkritik 16.Juni 2020

Caprice, oder: Küchenlaunen

Was für eine Woche! Sieben Tage Hongkong und Macao liegen hinter uns. Eine Zeit voller betörender Eindrücke und berauschender Geschmackserlebnisse. Nach dem franko-japanischen Start mit Écriture und Amber sowie einem Zwischenstop bei Joël Robuchon war der Trip natürlich in erster Linie der kantonesischen Küche gewidmet. Wir besuchten die überraschend unterschiedlichen Dreisterner Lung King Heen, Jade Dragon und The Eight, das modernistische Bo Innovation, das enttäuschende Yi, das großartige VEA und das unvergleichbare The Chairman. Nicht zu vergessen die faszinierenden Street-Food-Exkursionen in Wan Chai und Mongkok, die den Horizont erweiterten und so manches Sternegericht relativierten. Für ein tieferes Verständnis der diversen südostasiatischen Küchen sind Besuche der Marktüchen und Food Stalls unerlässlich.

Nach dieser Tour de Force steht am Mittag vor unserem Heimflug noch einmal vertraute Küche auf dem Plan: französische Haute Cuisine im Restaurant Caprice. Und bevor jemand meckert, dass man ja wohl nicht nach Hongkong reisen müsse, um französisch zu speisen: In einer solchen Weltstadt stellen sich derlei Fragen nicht. Da ist französische Küche ein so selbstverständlicher Teil des Spektrums wie Sushi in New York.

Über mehrere Jahre hatte das Caprice drei Sterne, dann nur noch zwei. Im Frühjahr 2017 übernahm Guillaume Galliot die Küchenleitung. Er war vorher Küchenchef im einfach besternten Tasting Room in Macao – wo er ironischerweise von Fabrice Vulin aus dem Caprice abgelöst wurde. Fliegender Wechsel, sozusagen. Und während Vulin dem Tasting Room prompt den zweiten Stern erkochte, bekam das Caprice unter Galliots Leitung im Guide Michelin 2019 den dritten Macaron zurück.

Das Restaurant befindet sich im sechsten Stock des wuseligen Four Seasons Hotel, wo wir bereits das Lung King Heen besuchten. Das Interieur ist auf sehr gediegene Weise prunkvoll. Mit den gewaltigen Kronleuchtern, der vertäfelten Decke und den schweren Ledersesseln hat es eher etwas von einem opulenten Country Club. Offenbar steht man bei Four Seasons auf diese irgendwie sehr »amerikanische« Form von Eleganz, man denke an das Le Cinq in Paris. Zeitgemäße Behaglichkeit geht anders, aber dank der durchgehenden Fensterfront mit Blick auf die Hafenbucht wirkt das Caprice zumindest luftig.

Die Servicecrew besteht vorwiegend aus Franzosen und agiert zunächst sehr förmlich. Erst mit der Zeit stellt sich eine angenehme Lockerheit ein, und beim Geplänkel zwischen den Menügängen erfahren wir, dass die meisten der französischen Mitarbeiter schon länger in Hongkong leben.

Unsere Wahl fällt auf das verlockend klingende Degutstationsmenü (210 €), welches sich, wie fast überall, aus Gerichten des À la carte zusammensetzt. Zum Aperitif gibt es drei Snacks. Ein Tomaten-Tartelette schmeckt sehr klar und »pur« nach exzellenter Tomate; Basilikum und dünner Knusperteig setzen schöne Akzente. Ein Stückchen Balik-Lachs mit chinesischem Kaviar ist von guter Qualität, geht jedoch ein in einer erstaunlich intensiven Blumenkohlcrème unter. Ein krosses Teigkissen ist mit einer etwas penetranten Chicken-Curry-Crème gefüllt – das löst Assoziationen an die Saucenreste bei Currywurst aus, die man mit dem letzten Stück Brötchenkruste aufwischt. Kann man gut finden. Wir eher nicht.

Das Menü startet vegetarisch, mit einer Variation von Tomaten »aus dem eigenen Garten« mit Burrata-Crème. Die Stücke von grünen, gelben und roten Tomaten sind nur leicht mariniert und sitzen in einem kühlen Tomatenfond. Dazu die seidige, gehaltvolle Burrata-Crème als Geschmacksträger und ein paar Basilikumblättchen – das war’s. Und es funktioniert prächtig: Das spezifische Aroma jeder Tomatensorte kommt durch die puristische Darreichung in betörender Reinheit zur Geltung. Eine beeindruckende Produktschau. Die Essenz Italiens in einem französischen Restaurant in Hongkong, das könnte etwas Bizarres haben – wenn es nicht so ungemein köstlich wäre.

Sehr klar strukturiert bleibt es auch beim zweiten Gang: Tatar von australischem Wagyu-Rind und Gillardeau-Auster mit Kristal-Kaviar (für mich ohne Auster). Wir lieben Tatar, wir lieben Kaviar und wir lieben die Kombination aus beidem. Die Auster, so Christian, bringt eine spannende Note dazu. Also fragen wir uns, aus welchem Grund uns dieses Gericht nicht so begeistern kann wie beispielsweise der Klassiker im Sonnora? Die Antwort ist simpel: Es fehlt das lauwarm-knusprige Rösti, für Textur, Temperatur und die harmonisierende Wirkung der Kartoffel. Hier ist alles weich, kräftig und kühl – es schmeckt hervorragend, keine Frage, allein es fehlt der letzte »Kick«.

Es bleibt weich, bei Laksa mit Königskrabbe, confiertem Ei und Sudachi-Limette. Laksa ist ein Suppenklassiker aus Südostasien auf Basis von Kokosmilch und Chili, der für gewöhnlich mit dicken Weizennudeln als Einlage serviert wird. Das Laksa im Caprice hat allerdings eher die Konsistenz einer gehaltvollen Crème, die sehr parfümiert nach Limette schmeckt. Kleine Nussstücke sollen Textur beisteuern, können den dichten Schaum aber nur bedingt ausgleichen. Auch das Krabbenfleisch ist naturgemäß weich, ebenso das confierte Ei, welches den gehaltvollen Eindruck noch verstärkt. Für zwei, drei Löffel macht das Spaß, dann wird es zu viel, zu mächtig und zu eintönig. Es scheint jedoch Fans dieser Kreation zu geben, denn sie gehört zu den Klassikern des Hauses.

Als Fischgang sieht unser Menü Steinbutt vor. Er wird mit einer Bouillabaisse-Sauce, Fenchel, Orangenfilet und Kaviar-Kartoffel serviert. Klingt gut, funktioniert in der hiesigen Umsetzung leider kaum. Das fängt schon mit der Farbe der Sauce an, der das kräftige Rostrot einer typischen Bouillabaisse fehlt – das muss natürlich nicht sein, aber mit ihrer dicklichen Konsistenz und dem matten Geschmack entwickelt diese Bouillabaisse auch am Gaumen keine Strahlkraft. Der Fisch ist zu trocken, der Fenchel zu hart. Irgend etwas muss in der Küche mächtig schiefgelaufen sein (Chef Galliot ist an diesem Tag nicht im Haus). Wir lassen fast alles auf dem Teller zurück und teilen unsere Kritik dem Service mit.
Als Ausgleich wählen wir ein Gericht von der Karte. Etwas leichtes soll es sein, gerne auch etwas Vegetarisches. Also fällt die Wahl auf ...

... Salat von bretonischer Artischocke mit Pomelo, Parmesan und schwarzem Trüffel. Okay, hier kann man sagen: selber Schuld. Ja, die Artischocke ist »gut» (nicht herausragend), der Trüffel ebenfalls, die Bitternoten vom Salat haben ihren Reiz. Das schmeckt vollkommen in Ordnung, vollkommen profan, und scheint eher für kalorienbewusste Möchtegern-Models konzipiert als für schwelgerische Esser. Hätten wir natürlich ahnen können.

Das waren nun drei schwache Gänge in Folge. In einem frisch gekürten Drei-Sterne-Restaurant! Jetzt muss langsam etwas passieren ... Und siehe da, das tut es.

Denn der Hauptgang, soviel vorab, hat es in sich. Es handelt sich um ein Signature Dish, welches vorab am Tisch präsentiert wird: Racan-Taube vom Maison Bellorr, gegart in einer Kakaoschote.

Auf dem Teller sieht das so aus: Die appetitlich gebräunte Brust der Racan-Taube wird mit Erdbeerkompott, gebratener Foie gras, Schwarzwurzel und soufflierten Kartoffeln serviert. Wir sind versöhnt. Einen so exquisiten Hauptgang hatten wir lange nicht mehr. Sehr lange. Das perfekt rosé gegarte Taubenfleisch ist saftig, butterzart und von der Kakaobohne ganz leicht parfümiert. Dazu ein tiefer, seidiger, von etwas Kakao bittersüßer Jus sowie perfekt soufflierte Kartoffeln – besser geht das nicht. Halt, doch, es geht, nämlich wenn man etwas vom fruchtig-herben Erdbeerompott dazu nimmt, welches eine Brücke zum üppigen Schmelz der Gänseleber schlägt. Hier stimmt einfach alles, bis ins letzte Detail. Eines führt zum anderen, nichts dürfte fehlen. Wir bemühen uns, in kleinen Happen zu essen, damit der Genuss länger anhält – eine Götterspeise, zweifellos, und in dieser Kategorie nochmal ziemlich weit vorne.

Wir sind dermaßen euphorisiert, dass wir spontan einen weiteren Hauptgang bestellen möchten – für die Küche kein Problem, Glück gehabt.

Also dann, Hauptgang Nummer Zwei: Kagoshima-Rinderfilet mit gegrillter Wassermelone, sonnengetrockneten Tomaten und Traubensauce. Das exzellente, fettstrotzende (nicht zu verwechseln mit "triefende") Fleisch wird durch die Melone wunderbar aufgefrischt. Die Mini-Datteltomaten sind nur leicht getrocknet, dadurch von konzentriertem Geschmack und trotzdem saftig – ziemlich genial. Die Traubensauce bringt lediglich eine dezente Süße ein, dafür jede Menge Umami-Kraft. Welch eine Wonne. Eigentlich waren wir ziemlich pappsatt, aber dieses hervorragende Gericht belebt unsere Sinne. Nichts bleibt auf dem Teller.

Als Pré-Dessert gibt es Rhabarber und Erdbeere. Das Erdbeerragout, so aromatisch es auch ist, wird vom ziemlich sauren Rhabarber etwas in den Hintergrund gedrängt. Am besten gefällt uns ein Erbeersorbet, das auf einem buttrigen Mürbeteigplätzchen ruht. Summa summarum eine schöne Erfrischung, nicht mehr, nicht weniger.

Das Hauptdessert kombiniert geröstete Aprikose, Mandel-Meringue-Tuile und eine Vanillesauce mit Maracujapfeffer. Die warmen Aprikosen sind so weich, dass sie am Gaumen förmlich schmelzen und ihre duftige Süße freigeben, dazu die luftigen, kross eingefassten Mandel-"Bonbons" und die hervorragende Sauce, die sich als eigentlicher Star entpuppt: Sahne, Ei, Vanille und ein Hauch fruchtiger Maracujapfeffer. In seiner präzisen Schlichtheit ist dieses Dessert ganz wunderbar.

Die Petits Fours sind »gut«, Punkt.

Was für ein Mittag, oder: zum Abschluss eine Achterbahnfahrt. Ein bisschen erinnert uns das Erlebnis an das Wechselbad bei Alain Ducasse im Le Meurice. Vom Totalausfall bis zur Götterspeise war alles dabei. Diese Bandbreite erstaunt umso mehr, da unser Menü fast nur aus Klassikern des Hauses bestand. Bei der Tomatenvariation, den beiden Hauptgängen und dem Dessert zeigte sich, dass Guillaume Galliot durchaus der Bewertung des Guide Michelin entsprechend zu kochen vermag: Gerichte, so schlüssig wie köstlich, die in der vermeintlichen Einfachheit eine Komplexität finden. Der Rest des Menüs bewegte sich mindestens eine Stufe darunter. Mit derlei Gedankenspielen wollen wir uns aber nicht weiter aufhalten. Französische Küche in Hongkong mag vielleicht nicht immer die beste Idee sein, doch allein für die Taube hat der gesamte Trip sich schon gelohnt.

Das war es also, in Hongkong und Macao. Ein letzter Blick über den Hafen, bevor wir Richtung Flughafen aufbrechen müssen. Wehmut setzt ein. Die Woche glich einem Rausch. Wir sind erschöpft und glücklich. Lässt sich das Ende nicht hinauszögern? Vielleicht mit einem kleinen Dinner irgendwo? Vor ein paar Tagen hatte uns doch unser alter Bekannter Eric Räty kontaktiert, damit wir in seinem neuen (inzwischen zweifach besternten) Restaurant Arbor vorbeischauen! Und bis zum Abflug dauert es noch einige Stunden. Wie sagte einmal ein Kollege: Vier Gänge gehen immer. Wir zögern. In der trubeligen Lobby des Four Seasons fällt unser Blick auf den Schriftzug des Caprice – zu deutsch: Laune. Und genau der sollten wir jetzt nachgeben, wer weiß, ob sie wiederkommt ...

Kai Mihm

Wein

Wein im ‚Caprice‘ im Four Seasons in Hongkong

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