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Restaurantkritik  7.Januar 2020

Dämonisches Theater

Es ist nicht ganz leicht, zur Zeit über Hongkong zu schreiben. Proteste und Gewalt, Tränengas und Brandsätze, Tote und Verletzte – eine Millionenstadt ist in Aufruhr, politisch gespalten, um die Zukunft kämpfend. Wen bitteschön interessieren da noch Restaurants?

Zugegeben, während unseres Aufenthalts (1. bis 10. August 2019) war die Situation noch relativ gemäßigt – tatsächlich hatten wir nach vier Tagen noch keinen einzigen Demonstranten gesehen. Dafür konnten wir interessante Gespräche über die verschiedenen Haltungen und die politischen Strömungen in der Stadt führen. Und je nachdem, mit wem wir uns unterhielten, waren die Theorien über die Ursprünge und Hintergründe der Proteste sehr gegensätzlich.

Was indes alle einte war der ungeheure Wille, sich die Lebensfreude nicht nehmen zu lassen – denn nur eine lebendige Stadt, so der Tenor, bleibe am Leben. Und so wurden auch unsere Zweifel an einer Fresstour inmitten politisch turbulenter Zeiten von unseren Gastgebern immer wieder zerstreut. Dass es Bedeutenderes gibt als High-End-Essen ist sowieso klar. "At the end of the day, it's just food", wusste schon Marco Pierre White.

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Umso spannender war es zu sehen, wie die kulinarische Geschichte und die Historie Hongkongs sich gerade in diesen Zeiten auf manchen Tellern widerspiegelten. Beim Bo Innovation fiel das besonders auf, doch dazu unten mehr ...

Das Bo Innovation wurde 2005 von Alvin Leung eröffnet – der ironischerweise gar nicht aus Hongkong stammt, sondern 1961 in London geboren wurde und in Kanada aufwuchs. Trotzdem kann man Leung als einen quintessenziellen Hongkonger Chef betrachten, sein gastronomischer Werdegang ist untrennbar mit der Stadt verbunden. Der "Demon Chef", wie Leung sich seit jeher nennt, erlernte das Kochhandwerk als Autodidakt. Durch seine experimentellen, wilden und gerne auch provokativen Kreationen erlangte er bald Ruhm weit über Hongkong hinaus. Kaum ein Küchenchef ist bis heute so umstritten wie er – wenn wir andere Fressverrückte nach ihren Erfahrungen im Bo Innovation fragten, hörten wir entweder Hymnen oder absolute Ablehnung.

Auch beim Guide Michelin scheint man nicht ganz schlüssig zu sein: 2009 erhielt das Bo Innovation 2 Sterne, wurde im nächsten Jahr aber schon wieder herabgestuft; 2012 gab es dann wieder zwei Sterne, und 2014 schließlich den dritten Macaron – der im Guide 2020 wieder verloren ging.

Als wir uns an diesem frühen Abend vom Ritz-Carlton Hotel auf den Weg machen wollen, versuchen die Angestellten noch, uns davon abzubringen: Das Restaurant befände sich genau dort, wo heute die Proteste stattfänden. Es sei zu gefährlich, womöglich kämen wir sowieso nicht hin. Wir lassen uns nicht beirren, ein Uber ist schnell gefunden. Auf der Fahrt passieren wir Barrikaden wie Müllcontainer und Einkaufswagen, die Straßen im sonst so quirligen Stadtteil Central sind an diesem Abend gespenstisch leer. Die Ruhe vor dem Sturm?

Auch im Bo Innovation ist nicht viel los. Aber wie passend ist es gerade, dass Alvin Leung seine Menüs unter das Motto "Hong Kong Story" und "I Love Hong Kong" stellt. Gemeint ist damit natürlich die kulinarische Geschichte der Stadt, durchaus mit gesellschaftspolitischen Bezugspunkten. Im Restaurant herrscht denn auch eine Atmosphäre wie in einem Hongkonger Club der Zwanzigerjahre, die Kellner sind entsprechend elegant gekleidet, ohne dass es theatralisch wirkt – sehr lässig.

Vor dem Essen wird unter dem Motto "Smell My Granny" ein Erfrischungstuch gereicht – parfümiert mit "Florida Water", das im frühen 20. Jahrhundert populär war. Der Geruch mag zwar Hongkonger an ihre Großmütter erinnern, wir hätten das gerade mit diesem Titel nicht gebraucht.

Als Eröffnung gibt es eine marinierte Tomate mit Chili-Gelee ("Red, hot, fire"), angenehm saftig, interessant gewürzt, mit anregender Schärfe.

Die Amuses spielen mit dem Thema Streetfood. Zu den Happen gibt es eine Postkarte, auf der Klassiker der Hongkong-Straßenküche abgebildet sind. Unser Kellner lässt uns raten, welches Amuse welchen Klassiker in abstrahierter Form darstellt. Natürlich liegen wir mangels Vorwissen nur selten richtig. Es gibt (v.l.n.r.) knusprige Taro-Wurzel; Schweinefleisch-Dumplings ("xiao long bao") als Sphären; frittierten Karpfen mit schwarzen Bohnen sowie Eierwaffeln mit Frühlingszwiebeln und Schinken ("Gai daan jai"). Das ist alles gut gemacht und schmackhaft. Am besten gefällt uns die Taro-Wurzel: Die knusprige, frittierte Taro-Hülle enthält ein geräuchertes Wachtelei sowie einige Jasminteeblätter, obenauf etwas Kaviar aus der Provinz Heilongjiang – ein sehr eleganter Mix aus Texturen und Aromen. Aber auch die Waffeln knuspern angenehm zart, mit einem deftigen Hauch von Zwiebel und Schinken.

Auch die Wonton-Nudeln in Form eines Mille-feuille, der Curry fish ball (Forellenrogen auf Biscuit, Curry-Kokosmilch und Sauerrahm) und ein als Bonbon verpackter Sticky rice dumpling (mit gesalzenem Eigelb, grünen Bohnen und getrockneten Garnelen) gehören noch zum Amuse-Reigen. Sie bleiben aber eher als verspielter Gag denn als kulinarisches Highlight in Erinnerung.

Interessanter wird es beim ersten Gang des Menüs, mit dem Titel "Green eggs and ham". Die Kreation ist von Dr. Seuss' Kinderbuchklassiker "Grünes Ei mit Speck" inspiriert. Der Legende nach sah der Schriftsteller in einem chinesischen Restaurant einen Gast Schweinefleisch mit Tausendjährigem Ei essen. Auf die Frage, was er da vor sich habe, antwortete der Mann in gebrochenem Englisch: "Green Eggs and Ham". Bei Leung besteht das Eiweiß aus gelierter Schinkenbrühe und das Eigelb aus Avocadopüree, Eigelb und etwas Aprikose. Dazu hausgereifter Schinken mit Koriander und Essig. Und wie schmeckt nun diese Variante? Delikat, leicht, ungewöhnlich.

Der Gang Aberdeen Floaters ist inspiriert von den schwimmenden Restaurants in der Hafengegend Aberdeen auf der Südseite von Hongkong Island. Er besteht aus einem nahezu rohen Carabinero mit Soja-Salz, als "Kopf" ein knuspriges Sesamgebäck gefüllt mit Seeigel und frittierten Mini-Garnelenköpfen. Der Carabinero ist von exzellenter Qualität, und die weiteren Komponenten dienen vor allem der texturellen Abwechslung und zur Unterstützung seines köstlichen Eigengeschmacks. Höchst gelungener Purismus – und ein erstes Menü-Highlight.

Teil 2 des Gerichts kommt ebenfalls sehr reduziert daher: Glasnudel-Vermicelli, sautiert in Hummerfond, dazu Chili-Öl von getrockneten Shrimps. Auch dies ein sehr delikates Vergnügen, angenehm würzig und leicht scharf.

Mit "Ode To The Dragon" erweist Leung dem legendären Hongkonger Bruce Lee seine Referenz. Angeblich aß der früh verstorbene Superstar am liebsten Rindfleisch mit Austernsauce sowie den kantonesischen Dessertklassiker "Frittierte Milch". Leung kombiniert beides. Er frittiert anstelle von Milch einen Tofu-Quader, getoppt mit einer Auster und nappiert mit schwarzer Knoblauchsauce sowie Austernsauce. Geschmacklich changiert das auf spannende Weise zwischen fleischig (vom Tofu) und maritim, die Saucen bringen ordentlich Umami ein. Gut, aber kein Favorit.

"Bamboo Matrix" bezieht sich auf die allgegenwärtigen Bambusgerüste auf Hongkonger Baustellen. Ein Stück gegrillter Bambus (links) ist mit einer Sauce bedeckt, die aus Foie gras und einem "Miso" aus dem populären Supermarkt-Bambusschnaps Chu Yeh Ching besteht. Auf der rechten Seite liegt ein Quadrat von Foie-gras-Terrine, die in Bambusmark gewickelt wurde, gekrönt mit Sichuan-Green-Chili-Püree, dazu schwarze Bambus-Asche. Die Kombi von Foie gras und Bambus ist geschmacklich interressant, ohne wirklich spektakulär zu sein. Es schmeckt gut, nicht mehr, nicht weniger.

Sodann stellt der Kellner ein Gläschen Babybrei auf den Tisch: 60.000 A Year spielt auf die Zahl der jährlich in Hongkong geborenen Kinder an. Im Glas befindet sich eine Mischung aus Alaska King Crab, Fuji-Apfel, Krabben-Rogen und Chili. Diese Babynahrung für Erwachsene ist von einem Krabbengericht inspiriert, dass der Legende nach in den Taifun-Schutzräumen Hongkongs ersonnen wurde: Während der Taifune brachten die Bootsbewohner in Causeway Bay frische Krabben mit in die Schutzräume und brieten sie mit Chili und Knoblauch. Tatsächlich schmeckt die Mischung auch bei Leung ziemlich gut – süffiges, üppiges Comfort Food, das wir gerne mal unseren eigenen Kindern geben würde.

Der zweite Teil des Gerichts ist inspiriert von "Pat Chun" – Schweinefüße mit Essig und Ingwer geschmort –, das nach der Geburt von den Müttern zur Stärkung gegessen wird. Wir haben hier ein Sous-vide-Eigelb, Jamón Ibérico, eine Terrine aus Schichten von Schweineohren und -füßen, schwarzem Trüffel und Pat-Chun-Essigschaum. Das Geschmacksbild ist hier durchaus westlich, mit Eigelb, Trüffel und Ibérico, was glänzend zusammenpasst. Die Terrine und der Essigschaum machen das ganze etwas exotischer. Schmeckt gut, einmal mehr.

Es folgt The Imperial Beggars Banquet: Die wunderschöne Kreation auf Hummerbasis kommt in einer typischen tönernen Bettlerschale daher, die jedoch in einem Halter in Drachenform sitzt – dem Symbol des Kaisers mit all seinen Reichtümern. In der Bettlerschale finden sich Bretonischer Hummer, Kaviar und einer Sauce aus Shaoxing-Wein und Matsutake-Pilzen. Luxuriöser geht es kaum. Tatsächlich schmeckt dieses "kaiserliche Bettler-Bankett" genau so, wie es klingt: üppig und festlich, edel und harmonisch. Sehr, sehr gut.

Als kleine Erfrischung wird nun ein Cocktail aus Maotai-Schnaps, Butterfly Pea Flower (Kräutertee) und Kalamansi gereicht. Schmeckt sehr speziell, säuerlich-würzig und kräuterig-scharf, aber durchaus nicht schlecht.

"Back On The Street" nimmt dann wieder Bezug auf die Straßen-Snacks der Stadt, oft serviert auf Papier, um den Abwasch der Tellerchen zu vermeiden. Bei Leung gibt es frittiertes Kalbsbries mit eingelegtem Daikon-Rettich, Seeigelsenf und Hoisinsauce. Eine hübsche Idee, doch das Bries ist uns deutlich zu durch und deshalb recht trocken. Die Saucen sind gut, aber auf Dauer zu intensiv, insbesondere der sehr jodige Seeigelsenf. Schade.

Wir nähern uns dem Ende des würzigen Menüabschnitts mit The Chicken Bowl, traditionell im Tontopf zubereitet. Leung verwendet neun Jahre gereiften Acquerello Reis, der in Hühnerfond gegart wird, ähnlich einem Risotto. Auf dem Teller wird der Reis noch mit sonnengetrockneter Abalone und luftgetrockneter Foie gras veredelt. Das schmeckt ganz ausgezeichnet. Es ist cremig, intensiv und elegant – wie ein erstklassiges Risotto, aber durch die Würze doch ganz klar chinesischer Prägung. Idealerweise verrührt man die gehobelten Späne nicht, sondern hebt immer einen Löffel voll Reis ab, damit die ganze Pracht sich am Gaumen entfalten kann. Tolle Idee, großartig umgesetzt. Favorit Nummer zwei dieses Abends.

Als Hauptgang gibt es Beef Noodles. Auch hier spielt Leung mit Erwartungen, denn die Nudeln sind sehr dünne, frittierte Stränge aus dehydrierter Rindfleischsehne. Dazu Streifen von schwarzem Trüffel, Paprika, Enokipilzen und Frühlingszwiebeln, alles in einer dichten und würzigen Rinderknochenbrühe. Saftige, rosa gebratene Wagyu-Stücke sind natürlich auch dabei. Eine hervorragend optimierte Variante des Asia-Klassikers, bei der es nicht zuletzt um den üppigen Mischgeschmack aller Komponenten und um das Zusammenspiel der diversen Texturen zwischen flüssig, schmelzend und knackig geht.

Das erste Dessert nennt sich No Shark Fin: In einer Schalenform, die häufig für Haifischflossen verwendet wird, befinden sich Agar-Agar-Stränge mit Pfirsichharz, tropische Früchte wie Maracuja, Yuzu, Kaki, Grapefruit und Drachenfrucht sowie ein Sirup von der Osmanthus-Blume. Es schmeckt angenehm frisch, leicht und exotisch-fruchtig, bekommt durch die Gelee-Nudeln aber auch eine etwas glibberige Textur.

Auch das zweite Dessert kann uns nicht recht begeistern: Everything Lotus. Der Lotus spielt im Buddhismus, der vorherrschenden Religion in Hongkong, eine wichtige Rolle. Buddha wird oft auf einem Lotusblatt oder einer Lotusblume sitzend dargestellt. Im Bo Innovation werden aller Teile des Lotus verwendet, von den Samen und den Wurzeln bis zu Blatt, Stiel und Blüte, als Eis, Gelee, Crème und Chip. Trotz der Vielfalt wirkt das Ensemble sehr schnell monoton. Zurück bleibt der Eindruck, dass Lotus vielleicht nicht die beste Dessertbasis bildet.

Zum Abschluss noch eine Reihe von Petits Fours. Durch die Bank okay.

Wir wissen nicht genau, was wir aus diesem Menü machen sollen. Wir hörten an diesem Abend wahnsinnig viele Geschichten und lernten ein paar spannende Dinge über Hongkongs kulinarische Historie. Nur stand uns das auf Dauer zu stark im Vordergrund, und die Speisen selbst konnten mit den Ideen nicht ganz mithalten. Keine Frage, es gab ein paar ganz exzellente Gerichte, allen voran der Carabinero, der Chicken-Rice und die Beef Noodles. Aber es gab eben auch viel, das nur gut war – zu viel für ein Drei-Sterne-Restaurant.

Trotzdem hätte der Kontext des Menüs nicht besser passen können, denn als wir kurz vorm Verlassen des Restaurants gegen Mitternacht aus dem Fenster schauen, sehen wir Scharen von maskierten Demonstranten vorbeiziehen. Die Angestellten des Bo Innovation geraten in helle Aufregung, raten uns eindringlich, schnellstmöglich ins Hotel zu gelangen. Man wisse nicht, was noch passiert.

Genau das wollen wir jedoch herausfinden. Wir folgen den Protestlern zu ihrem Sammelplatz ein paar Straßen weiter – und auch dort zeigt man sich überaus besorgt um unsere Sicherheit. Erst später begreifen wir, dass in dieser Nacht das Polizeipräsidium belagert wird. Die Demonstranten wirken zunächst friedlich, doch bald weht der beißende Geruch von Tränengas in unsere Richtung. Die Masse gerät in Bewegung und Brandsätze fliegen ins Leere. Plötzlich fahren etliche Mannschaftswagen der Riot-Police vor und hunderte Beamte in martialischer Montur rücken mit furchterregendem Getöse vor, wie römische Legionäre. Nun ziehen wir uns doch lieber zurück. Schon zwei Straßen weiter herrscht absolute Ruhe. Verblüffend und unheimlich zugleich. So viel wir bereits vor der Reise rein rational über die dramatische Lage wussten, wird uns erst nach diesem Erlebnis auf emotionale Weise bewusst, dass in Hongkong gerade ein neues Kapitel der Stadtgeschichte geschrieben wird – und es spielt sich nicht in den Sternerestaurants ab.

Text: Kai Mihm

Weine

Die Weine im Bo Innovation

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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