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Restaurantkritik 27.Dezember 2019

Barfly

Wir erinnern uns noch gut an unseren ersten Fresstrip nach Amsterdam im Frühjahr 2013. Ein Dinner war bei der Planung noch offen, denn die Anzahl lohnender Toprestaurants hielt sich damals noch in überschaubaren Grenzen. So reservierten wir für den letzten Abend eher aus Verlegenheit einen Tisch im Restaurant Bord'Eau, im noblen Grand Hotel De L'Europe. Und wie es manchmal so läuft: Der Lückenfüller erwies sich als Glückstreffer – das sind mit die schönsten Momente. Küchenchef Richard van Oostenbrugge begeisterte uns mit Kreationen zwischen Klassik und unangestrengter Modernisierung. Nichts wirkte forciert, fast alles schmeckte schlüssig, spannend und verdammt gut. Für uns war es denn auch kein Wunder, dass Oostenbrugge sich innerhalb von zwei Jahren von null auf zwei Sterne hochkochte. Ein neuerlicher Besuch 2015 bestätigte den Eindruck.

Umso überraschender kam Ende 2017 Oostenbrugges Abschied aus dem Bord'Eau. Zusammen mit seinem Head Chef Thomas Groot und seiner Partnerin und Sommelière Daphne Oudshoorn machte er sich selbständig: Im Frühling 2018 eröffnete das Trio das 212, in bester Lage zwischen Herengracht und Amstel, benannt ganz einfach nach der Hausnummer. Zu dieser unprätentiösen Herangehensweise passt es, dass nur ein kleines Schild auf das Restaurant im Hochparterre hinweist.

Diesmal haben wir mit Freude schon einige Wochen im Voraus reserviert, als abschließenden Lunch vor unserer Abreise. Punkt 12:30 Uhr stehen wir vor der Tür. Zum Glück mit nur kleinem Gepäck, denn das 212 ist ein Tresenrestaurant mit kaum 30 Plätzen, jeder Quadratzentimeter wird genutzt. Noch ist nicht viel los, aber sehr bald sind alle Barsessel belegt, die Stimmung ist herrlich lebhaft. Zur guten Atmosphäre trägt bei, dass es in der offenen Küche nicht so still zugeht, wie in manch anderen Tresenlokalen. Während man da oft den Eindruck gewinnt, dass die Crew nur noch tranchiert und anrichtet, wird hier wirklich gekocht. Es ist eine Freude, dem Team dabei zuzusehen, wie es auf so engem Raum so entspannt und doch hochkonzentriert agiert. Wie ein bestens kalibriertes Uhrwerk.

Es gibt ein Menü mit verschiedenen Wahlmöglichkeiten, davon machen wir gerne Gebrauch.

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Zum Auftakt wird auf dem Tresen ein Fond mit Algen und Ingwer aufgebrüht und als Shot serviert. Tolle Idee, toller Geschmack.

Als Amuse gibt es eine Spargelvariation: Spargel mit pochiertem Wachtelei (links), mit geräuchertem Aal, Erbsen und Meerrettichperlen (hinten) und als Essenz (rechts). Das ist alles enorm fein gearbeitet, intensiv im Geschmack und doch elegant. Dazu gibt es als Auffrischung ein grünes Tomatengelee (vorne), angenehm kühl, glasklar und rein schmeckend. Exzellent.

Der erste Gang: Seebarsch, leicht geräuchert, mit Rettich, Dillemulsionen und „Tigermilch“ von Passionsfrucht, Combava und Kokosnussbrühe. Das klingt nach einer wilden Kombi – und so schmeckt es im ersten Moment auch. Irgendwie scheint das alles nicht recht zusammenzupassen. Doch je länger wir kauen – was wegen des roh marinierten Rettichs notwendig ist –, desto schlüssiger schmeckt die Nummer: Die Räuchernoten werden von der exotisch-fruchtigen „Tigermilch“ aufgefangen, zugleich kitzelt die Süßsäuerlichkeit den Eigengeschmack des Fischs heraus. Zusammen mit dem feinherben Rettich entwickelt sich ein durchaus anspruchsvolles Geschmacksbild, das sich mit jeder Gabel ein bisschen mehr erschließt. Jenseits klischeehafter Exotik ist das hochspannend.

Als nächstes gibt es Kalbstatar „os à moelle“ mit Kaviar, „Knochen“ aus geräuchertem Hering mit Muschelbrühe und Knochenmark. Hier variiert Oostenbrugge ein Signature Dish aus dem Bord'Eau, wo das Kalbstatar mit saurer Sahne, Kaviar und Knochenmark in einem „Knochen“ aus confierter Kartoffel serviert wurde. Und wir müssen sagen: Die alte Variante gefiel uns besser. Der Grund ist simpel: In der neuen Version fehlt das Harmonisierende von der Kartoffel und die Frische vom Sauerrahm. Der Gelee-„Knochen“ aus Räucherhering hat eine Intensität, die zusammen mit dem salzig-jodigen Kaviar dem Tatar und dem Mark kaum eine Chance lässt. Für ein, zwei Happen schmeckt das in seiner kraftvollen Art recht gut, dann kippt es. Außerdem ist uns das Ensemble zu weich – es fehlt der Biss der Kartoffel. Schade.

Mit dem nächsten Gang nimmt das Menü wieder Fahrt auf. Am Tisch wird eine knusprig gebackene Topinambur direkt auf dem Teller mit einem Holzhammer zertrümmert...

...auf die Bruchstücke löffelt der Kellner Jakobsmuschelstücke, Porree und Kräutervinaigrette, zum Schluss wird Belper Knolle drübergehobelt. Wie die leicht süßliche Erdigkeit der Topinambur sich mit der meerigen Süße der St. Jacques und der zwiebeligen Süße vom Lauch verbindet, ist schlichtweg famos. Man kennt die Kombination aus Erdartischocke und Jakobsmuschel natürlich, aber so haben wie sie noch nie geschmeckt. Es ist heiß und knusprig und weich, hat ordentlich Röstaromen von der dunkelbraun gebackenen Knollenschale und Frische von der Vinaigrette. Nicht zu vergessen die schärfenden Akzente der Belper Knolle. Groß, ganz groß.

Es bleibt so gut. Der in gesalzener Butter pochierte Hummer ist von ausgezeichneter Qualität und schmeckt für sich genommen bereits phänomenal, ganz leicht orientalisch durch eine Tandoori-Würze. Als spannenden Kontrast dazu gibt es lediglich ein paar knackig-süße Gartenerbsen „à la française“ (heißt: mit Zwiebeln, Salatblättchen und etwas Speck) sowie eine leichte Sauce aus Corail. Jeder Akzent sitzt, alles hält eine wundervolle Balance.

Experimenteller wird es beim Seeteufel mit seiner Leber, Muskatnuss, Codium-beurre-blanc, Dashi und Umeboshi. Der Fisch ist kräftig mit Muskat gewürzt, obenauf eine Scheibe Leber, deren Textur an Foie gras erinnert – das Duo wirkt wie eine maritime Interpretation von „Rinderfilet Rossini“, fleischig-saftig, mit cremigem Schmelz. Die Algen-Buttersauce mit Dashi-Punkten schmeckt angenehm mild, mehr zarte Gischt als tosende Brandung. Ganz anders das Püree von herb-salziger Umeboshi, das ziemlich grob reingrätscht. Kann man mögen, wir aber lassen es lieber weg, dann funktioniert diese elegante Kreation ganz hervorragend.

Als Hauptgericht gibt es Taube, über Wacholder geröstet, mit knuspriger Haut und Olivenblätter-Kirschemulsion. Dieser Teller ist von einem Purismus, wie wir ihn uns öfter wünschen. Perfekt geröstete Taube (nicht zu blutig!), kernig und zart, vom Wacholderrauch sanft parfümiert. Am Spieß das geröstete Herz – köstlich. Dazu braucht es gar nicht mehr als etwas Jus und die fruchtig-würzige Kirschemulsion. Oder doch? Auf einem Extrateller werden die Nierchen, das Keulenfleisch und eine Lebercrème serviert. Das schmeckt zwar ebenfalls sehr gut, lenkt uns aber tatsächlich fast zu sehr vom Hauptteller ab.

Als alternativen Hauptgang gibt es Wagyu A5 mit Salicornes, Austernsauce und Herzmuscheln. Auch dieser Teller ist wohlweislich auf das Wesentliche reduziert: Das Fleisch und die Muscheln sind die Stars – und wie! Diese Version von „Berg und Meer“ ist nichts für Zartbesaitete, denn das fettreiche Fleisch in Kombination mit den intensiv nach Meer schmeckenden Muscheln in Austernfond fordern den Gaumen machtvoll heraus. Der Effekt ist ähnlich wie eingangs beim Barsch mit Tigermilch: Auf Irritation folgt Faszination. Genau solche Momente lieben wir – Herausforderung statt Bestätigung festgefügter Vorlieben.

Nun wird ein komplettes Käsebrett in der Küche bestückt. Mit geübten Griffen zaubert die Kellnerin zahllose Sorten aus diversen Schubladen – ein Schauspiel für sich. Die Auswahl ausschließlich holländischer Provenienz ist exzellent.

Bei den Desserts stehen zwei zur Auswahl: Der „Apfel“ ist ein weiterer Klassiker aus Oostenbrugges Bord'Eau-Zeiten. Im transparenten Zuckerapfel steckt ein falscher Krotzen aus Apfelsorbet, darunter eine Apfeltarte mit Ingwer, Nüssen und Salzkaramell. Wir kannten diese Kreation bislang nur als abgespeckte Pré-Dessert-Variante, die uns recht gut gefiel. Der Vollversion können wir leider nicht so viel abgewinnen. Sie ist vor allem süß und, nun ja, apfelig. Die Präsentation mag von Kunstfertigkeit zeugen, aber es schmeckt weder besonders lecker noch besonders spannend. Dann lieber eine ganz klassische Tarte Tatin mit Vanilleeis wie etwa im Écriture.

Besser gefällt uns das alternative Dessert. Auf einem Bett aus mit Rosmarin geschmortem, mit Champagnerfond aufgegossenem Rhabarber sitz eine Kugel aus gefrorener Ziegenjoghurt-Mousse – außen knusprig und innen wolkenzart, aromatisiert mit destillierten Kräutern. Der Rhabarber dürfte zwar etwas süß-saurer sein, aber zusammen mit der köstlichen Mousse passt auch das wieder: Es schmeckt süßsauer, feinherb und leicht kräuterig-bitter; vom Champagnerfond kommt ein angenehmer Kick. Ein erfrischendes, unkompliziertes, trotzdem raffiniertes Dessert.

Eine kleine Pralinenauswahl zum Kaffee: nett, unspektakulär.

Richard van Oostenbrugges Stil hat sich durchaus verändert. Es gibt weniger Gefälliges als im Bord'Eau, auf den Tellern im 212 geht es deutlich experimentierfreudiger zu. Und wenngleich nicht jede Idee so ganz funktioniert (vor allem beim neuen „Knochen“ mit Kalbstatar), wirkt nichts forciert kreativ. Man spürt, dass es hier nicht darum geht, sich auf Teufel-komm-raus neu zu positionieren – vielmehr haben wir das Gefühl, dass hier ein außerordentlich talentierter Koch im Begriff ist, sich stilistisch selbst zu finden.
Das Bord'Eau war eine Station, kulinarisch wie atmosphärisch. Das 212 ist der nächste Schritt, in unseren Augen ein Schritt nach vorn. Es wird ja gerne über „zeitgemäße Spitzengastronomie“ schwadroniert. Im 212 findet man sie, ohne dass es zum Klischee gerinnt. An diesem Tresen macht das Essen Spaß, und zwar nicht nur des Menüs wegen.

So wollen wir nach diesem herrlich entspannten Mittag eigentlich gar nicht aufbrechen. Um uns herum wird immer noch fröhlich getrunken und angeregt geplaudert, während die Küchencrew bereits die ersten Handgriffe für den Abendservice erledigt. Aber wir müssen los, auch wenn's schwerfällt. Schnell noch ein letzter Schluck Wein, in 30 Minuten geht der Zug. Während wir vor der Tür auf das Taxi warten, hängen wir den Eindrücken der letzten Stunden nach. Der Himmel ist knackeblau, die Herengracht funkelt im Sonnenlicht. Erst dieser Lunch, jetzt dieses Wetter, an diesem Ort, in dieser Stadt – das könnte alles verdammt kitschig sein. Wenn es nicht so wahrhaftig wäre.

Fazit

212, oder: Wenn Stimmung, Essen und Ort perfekt zusammenpassen.

Text: Kai Mihm

Wein

Weinbegleitung im 212 in Amsterdam von Richard van Oostenbrugge

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