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Restaurantkritik 17.Mai 2018

Ich weiß ein Haus am See

Zugegeben, wir hatten vorher noch nie von diesem Restaurant gehört. Asche auf unsere Häupter, denn die Auberge du Père Bise am Seeufer bei Annecy ist eine der großen, geschichtsträchtigen Adressen der französischen Gourmandise: Im Jahr 1951 erkochte Marguerite Bise dort drei Sterne – als dritte Frau, nach Eugénie Brazier (1933-68) und Marie Bourgeois (1933-37). Zu ihren berühmtesten Kreationen gehören Flusskrebs-Gratin und Bresse-Poularde mit Estragon. Winston Churchill, Charlie Chaplin und Jean-Paul Sartre sind nur ein paar der Persönlichkeiten, die regelmäßig in der Auberge einkehrten. Auch nach Marguerites Tod im Jahr 1965 strahlten über dem Familienbetrieb bis 1983 die höchsten Weihen des Guide Michelin, dann noch einmal von 1985 bis 1987.

Restaurants mit solcher Historie findet man in Europa fast nur noch in Frankreich – und wir wollen unsere Faszination für dieses reiche Erbe nicht verhehlen. Aber jede Geschichte geht einmal zu Ende. Der Glanz des Hauses Bise verblasste. Und im Jahr 2016 verkauften Charlyne Bise und ihre Tochter Sophie (zuletzt die Küchenchefin) das prächtige Anwesen an einen Star der jüngeren französischen Haute Cuisine: Jean Sulpice, heute 39, stammt ebenfalls aus der Region und war mit 26 der jüngste französische Sternekoch. Sein Restaurant im Skiort Val Thorens hielt zuletzt zwei Sterne. Aus den Ambitionen auf "den Dritten" machte Sulpice nie einen Hehl, und so darf man vermuten, dass die Übernahme der Auberge auch strategische Hintergründe hat. Zu seinen Lehrmeistern gehören der radikale Lokalist Marc Veyrat und der Modernist Jean-Georges Klein – Technik trifft Tradition, wenn man so will. Das machte uns neugierig.

Die Anfahrt durch das sanft bergige Hinterland des Lac d'Annecy ist zauberhaft. Die schmale Straße schlängelt sich an satten Wiesen entlang und an kleinen Bauernhöfen vorbei. Wir passieren winzige Dörfer, sehen Schafe und Kühe auf den Weiden, hier und da tuckert ein Traktor. Der Himmel ist stahlblau, die Sonne strahlt - und dann tut sich hinter einer Anhöhe plötzlich die Landschaft auf für einen majestätischen Blick auf den glitzernden See, gerahmt von imposanten Bergkämmen und dichten Wäldern. Ein Traum. Unser Ziel ist jetzt ganz nah, das wissen wir. Da unten, direkt im Ufer, muss es sein ...

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Tatsächlich liegt die Auberge du Père Bise nur ein paar Schritte vom Wasser entfernt und hat sogar einen eigenen Bootssteg. Idylle pur. Bei unserem Besuch herrschte noch kühles Wetter, aber nicht auszudenken, wie es sich hier im Sommer wohlfühlen lässt. Das Interieur der Auberge (nach der Übernahme komplett neu gestaltet) ist elegant und durchaus geschmackvoll; nicht protzig, aber auch etwas austauschbar. Die Historie des Hauses macht sich kaum bemerkbar. Die Gästezimmer (es gibt 15 davon) sind hübsch, aber eher zweckmäßig gehalten. Dafür gefällt uns der Speisesaal mit seinem minimalistischen Dekor und der riesigen Glasfront zum baumbestandenen Seeufer hin ausgesprochen gut – eigentlich das perfekte Mittagsrestaurant.

Wir sind aber abends da – und um 19 Uhr komplett alleine im Lokal. Irritierend, denn immerhin ist Sulpice in der Gegend ein Star und wurde vom Gault Millau zum Koch des Jahres 2018 gekürt ... Um nicht lange drum herum zu reden: Bis 21 Uhr füllt sich das Restaurant bis zum letzten Platz. An einem Mittwochabend. In der Provinz. So soll es sein.

Zum Aperitif gibt es erste Happen: Eine Flusskrebs-Tarte mit Agastache (Duftnessel) sowie Froschschenkel mit Knoblauch in Petersilientempura. Die Tarte ist enorm fein gearbeitet und bringt den Geschmack der Flusskrebse bestens zur Geltung; die Froschschenkel leben – wie so oft – vor allem von der Würze und hier auch vom perfekt krossen Tempurateig. Sehr schön, alles beides.

Eine deutliche Steigerung sind jedoch die nächsten drei Petitessen: eine Tarte von Blumenkohl mit Muskatnuss, eine Kräutertarte sowie Kürbis mit Passionsfrucht. Das ist alles so fein und leicht, so delikat und subtil, wie wir es leider nur noch selten erleben – in einer Zeit, wo vor allem die jüngeren Chefs schon bei den Amuses auf Wucht und Umami-Bomben setzen. Sie alle sollten hierherkommen und diese drei Happen von Jean Sulpice probieren: den feinst gehobelten Blumenkohl auf etwas Blumenkohlcrème und einem nachgerade perfekten Teigboden, spannungsvoll gewürzt mit Muskatnuss; die federleicht aufgetürmten Kräuter, nur leicht mariniert, auf einem krossen Chip. Und den knackigen Kürbis, dessen Nussigkeit mit der säuerlichen Passionsfrucht ein erstaunlich feines Ensemble bildet. Das alles ist ganz großes Kino.

Als letzte Einstimmung gibt es eine Eiersuppe mit Flusskrebsen und Safran aus der Savoie. Im Prinzip ist das ganz simpel: Unter einer Ei-Safran-Suppe (die eher die Konsistenz einer Hollandaise hat) verbergen sich Flusskrebs-Stücke. Ein klassischer Genuss, prima umgesetzt, nicht mehr, nicht weniger.

Zwischendurch wird ein imposantes, hausgemachtes Landbrot präsentiert und am Tisch aufgeschnitten. Dazu beste Butter – und einmal mehr können wir der Versuchung nicht wiederstehen...

Nun startet das Menü, mit einer Velouté von Kastanien mit Parmesan und schwarzem Trüffel. Wow, das ist wirklich ein Wonneproppen von einem Gericht – sagten wir weiter oben etwas von "keine Umami-Bomben"? Nun, hier haben wir eine! Kastanie, Parmesan, Trüffel – drei Umami-Träger schlechthin. Die Velouté ist allerdings eher eine dichte Kastaniencrème, auf der eine kräftige Parmesanmousse thront. Obenauf eine gute Dosis geraspelter Trüffel sowie ultrakrosse Croutons von Kastanienbrot. Ein wenig erinnert uns das an die legendäre Artischocke-Parmesan-Trüffelsuppe von Guy Savoy. In Sachen Vollmundigkeit und Wohlgeschmack kommt Sulpice dem Großmeister jedenfalls verdammt nahe. Allein, es wird auf Dauer sehr viel und sehr sättigend. So gut es uns auch schmeckt, müssen wir etwa ein Drittel in die Küche zurückgehen lassen. Hier passt die alte Weisheit, dass es gerade vom Köstlichsten lieber eine kleines bisschen zu wenig sein sollte als zu viel.

Es geht weiter mit Forelle mit Sandmöhre und Kiefernsprossen, einer angenehm puristischen Kreation. Neben dem exzellenten Fisch ist die mit Kiefernsprossen aromatisierte Buttersauce der Star dieses Tellers – sie schmeckt, als würde man in einem dichten Nadelwald ganz tief einatmen, frisch und herb zugleich. In Kombination mit dem ultrazarten Fisch entwickelt sich ein höchst ungewöhnliches und spannendes Aromenspiel, bei dem sozusagen See auf Wald trifft. Beides schmeckt sehr klar und rein. Als eine Art Mittler und Neutralisator fungiert das hervorragend gewürzte, kräuterige und leicht säuerliche Möhrenkompott. Optisch wie auch geschmacklich erkennen wir bei diesem Fischgericht auch den Einfluss von Sulpices Lehrmeister Jean-Georges Klein. Exzellent.

Es folgt ein Klassiker der Sulpice-Küche, Schneckenravioli mit Kräuterbutter. Das ist ein What-you-see-is-what-you-get-Gericht: Gute gearbeiteter Ravioliteig, gefüllt mit Schnecken, die eher Textur geben und ihren Geschmack vor allem von der Kräuterbutter bekommen – welche im Heinz-Beck-Stil in die Teigtaschen "gefüllt" wurde und sich beim Zerbeißen in den Mund ergießt. Die Teile schmecken gut, sehr gut sogar, durch die sehr vielen und kräftigen Kräuter aber auch etwas (zu) intensiv und deftig.

Der Hauptgang kommt dann wieder sehr produktfokussiert daher: Rehrücken mit Beten und Sauce von Enzianwurzel. Tatsächlich lebt dieser Gang vom hervorragenden Wildfleisch, dessen typischer Geschmack bestens zu den erdig-süßlichen Noten der roten und gelben Bete passt. Das könnte nun trotzdem ein bisschen langweilig sein, wenn da nicht das Sößchen wäre: ein klassischer Jus auf Weinbasis, aromatisiert mit Enzianwurzel. Das Heilkraut wird in der Savoie gerne verwendet und sorgt in unserem Fall für ein Wechselspiel aus süßlichen, kräftig herben und leicht bitteren Akzenten. Die Sauce ist denn auch das i-Tüpfelchen, welche diesen Gang vor der Ödnis bewahrt.

Und wie immer in Frankreich erfreuen wir uns am gut bestückten Käsewagen – und greifen selbstverständlich auch zu...

Als Alternative zur Käseauswahl gibt es auch ein Käsegericht, nämlich Mousse von Beaufort mit Bergkräutern, Rote-Bete-Coulis und Grenobler Walnüssen. "Beaufort" kann man grob mit "schön stark" übersetzen – und das ist dieser typische Savoie-Käse auch. Die rote Bete und vor allem die Kräuter mit ihrer frischen Intensität bilden dazu eine schöne Ergänzung, entwickeln aber auch eine gewisse Penetranz, je nachdem, welches Kraut man erwischt. So schmeckt es interessant, aber in Summe nicht wirklich "lecker".

Das erste Dessert besteht aus Quitte und Rotbier – und es sieht vielleicht nicht spektakulär aus, schmeckt aber unheimlich gut. Rotbier wird mit intensiv gedörrtem Malz gebraut und reift im Eichenfass. Das Resultat ist ein besonders malziges, aber auch karamellig-süßes Gebräu. Diese Geschmackseigenschaften kommen hier voll zum Tragen und machen die Rotbier-Crème, das Gelee und den Crisp zu einem perfekten Begleiter für die säuerlich-süße, feinherbe Quitte (pochierte Würfel, als Gel, Schaum und Eis). Die Balance aus Süße, Säure und Herbheit ist nahezu perfekt. Ein tolles Dessert, das einerseits klassisch, andererseits aber überraschend anders schmeckt.

Da kann das zweite Dessert nicht ganz mithalten: Apfel in Meringue mit Berghonig-Eis und Antésite-Schaum. In der Meringue-Kugel befinden sich Gelee und ein Kompott vom Apfel, Apfel-Brunoises, Honigeis sowie Schlagsahne, die mit dem Süßholz-Likör Antésite aromatisiert ist. Klingt aufwändig, schmeckt im Grunde aber wie Apfelkompott mit sehr süßem Eis und sehr süßer Meringue - dazu kommt der für uns eher unangenehm lakritzartige Süßholz-Geschmack. Sicher kein schlechtes Dessert, aber nicht unser Fall.

Mehr Glück hat unser Apfel-Allergiker. Er bekommt ein Soufflé von Savoyardischem Safran mit Zitrusfruchtsalat. In das gewaltige Soufflé wird am Tisch ein dicker Zitrusfrucht-Coulis gegossen – allein dabei zuzuschauen ist ein fast schon frivoler Genuss. Das Soufflé ist perfekt fluffig aufgegangen, im Innern aber eher feuchte, flaumige Mousse als gebackener Eischnee. Diese Zubereitungsart haben wir speziell in Frankreich schon öfter erlebt. Uns gefällt das innen "trockene", feste Soufflé besser; trotzdem schmeckt das Teil hier ausgezeichnet, insbesondere dank des Coulis', der sich mit dem Soufflé zu einer schaumigen, warmen Wonne vermischt.

Der Clou dieses Desserts ist allerdings der Zitrusfruchtsalat, bestehend aus köstlich marinierten Filets diverser Agrumen, Finger Limes und kandierten Zesten - klingt wenig aufregend, gehört aber zu den besten Zitrusfrucht-Zubereitungen, die wir je probieren durften. Es ist sauer, süß, würzig, knackig, frisch und fruchtig, gehüllt in eine ätherische Marinade – aus diesem Teller sollte Sulpice ein eigenes Dessert machen. Grandios, einfach grandios.

Als kleine Show-Einlage wird das Petit Four, ein große Praline aus Schokolade und Brombeere, am Tisch mit grüner Chartreuse flambiert.

Bei einer Flasche weißem Burgunder sitzen wir nach dem Essen in der Bar und lassen den Abend Revue passieren. Jean Sulpice hat einen klaren Stil entwickelt, keine Frage. Seine Kreationen sind von den Kräutern der Region geprägt – in mindestens fünf unserer Menügänge (die Amuses nicht mitgezählt) spielten sie eine entscheidende Rolle, von Enzian bis Safran. Das gibt seiner Küche Spannung und Persönlichkeit. Trotzdem konnten uns nicht alle Gänge voll überzeugen, wirkten etwa die Ravioli und der Rehrücken etwas eindimensional, ohne verfeinert-rustikal (wie im La Bouitte) oder modern-puristisch (wie im Clos des Sens) zu sein. Dem gegenüber standen exzellente Gerichte wie die Velouté, die Forelle, das Rotbier-Dessert und der Zitrusfruchtsalat – von den fantastischen Amuse-Tartelettes ganz zu schweigen.

Der Service war bei unserem Besuch sehr angenehm, locker, humorvoll, zugewandt und kenntnisreich. Allein die Restaurantleiterin schien nur ausgewählte Tische mir ihrer Präsenz zu beehren. Was bleibt? Ein in Summe sehr gutes Menü mit so manchem Highlight, in einem landschaftlichen Umfeld, dessen Pracht seinesgleichen sucht – und mit einer Auswahl an weiteren Toprestaurants, die den Lac d'Annecy eigentlich zu einer Gourmet-Destination par excellence macht. Ob Jean Sulpice dereinst den Status von Marguerite Bise erreicht, wird sich zeigen. Aber die Voraussetzungen könnten schlechter sein...

Fazit

Jean Sulpice beeindruckt mit einer stilistisch eigenwilligen Küche, die mitunter grandios schmeckt, der es vereinzelt aber auch am letzten Quäntchen "Konsequenz" und Feinjustierung fehlt.

Text: Kai Mihm

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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