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Restaurantkritik 24.Mai 2017

Rügen ohne Reue

Die letzte Station unserer Mecklenburg-Reise führt uns in den östlichsten Norden, auf die Insel Rügen. Im Seebad Binz herrscht zu fast jeder Jahreszeit touristischer Hochbetrieb, der sich nicht nur durch die zahlreich durch die Ortschaft flanierenden Ehepaare (oft in farblich abgestimmten "Jack Wolfskin"-Partnerlook-Jacken), sondern auch an der schieren Dichte an Ferienwohnungen und Hotels bemerkbar macht. Im Restaurant 'Freustil' im Hotel Vier Jahreszeiten nehmen Ralf Haug und sein Team ihre Gäste mit auf einen "Streifzug durch die Heimat, über Äcker, durch Gärten und Wälder der Insel Rügen". Das hört sich für uns erstmal nach einem 20km-Orientierungsmarsch mit schwerem Gepäck an, es macht uns aber trotzdem neugierig und so kehren wir mit einem deutlich ausgeprägten Hungerfühl ein. 

Das Restaurant selbst ist zwar dem Hotel angeschlossen, arbeitet aber gänzlich autonom. Das macht sich auch optisch bemerkbar: Die liebevoll-verspielte, aber niemals kitschige, bistro-artige Einrichtung sowie die herzliche Art der Belegschaft, mit den Gästen, aber auch untereinander zu agieren, schaffen sofort eine Wohlfühlatmosphäre und unterscheiden sich signifikant vom Hotelrestaurant-Flair.

Seine neue Heimat fand Ralf Haug, der seinen Michelin-Stern im Restaurant 'Nixe' ein paar Straßen weiter zuvor fünf Jahre verteidigte, im Sommer 2013. Einige Monate später bestätigte der Michelin Haugs Entscheidung mit dem gewohnten Macaron. Anders als seine Mecklenburger Fine-Dining-Kollegen orientiert sich Haug am nordischen Ansatz, die eigene Region und dessen Produktvielfalt unverfälscht auf die Teller zu bringen. Weither eingeflogene Luxusprodukte sind nicht sein Fall – das macht sich schon bei der Philosophie der Küche deutlich, wie auf der Webseite des Restaurants zu lesen: "Bei aller Euphorie achten wir die wertvollen Ressourcen des Planeten und sehen uns eher als Bewahrer denn als Herrscher über eine einmalige Tier- und Pflanzenwelt." Wir freuen uns auf das Menü, das Gerichte aus dem "Freustil"- und dem fleischlosen "Naked Nature"-Menü kombiniert. Auf geht’s …

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Wir starten mit einem Amuse-Viererlei aus gepickeltem Gemüsli, Ziegenjoghurt mit Himbeeressig und salzigem Ahornsirup, einem geräucherten Wachtel-Ei sowie einer heißen Gemüse-Bouillon. Ein "roher", natürlich und ehrlich schmeckender Einstieg. Das ist sehr gut – im krassen Gegensatz zum empfohlenen Sanddorn-Schaumwein-Aperitif, der leider viel zu bitter und sauer alles erschlägt, was kulinarisch mitreden möchte.

Unter einer Schicht aus Radieschen versteckt sich ein hervorragend gearbeitetes, subtil gewürztes und geflämmtes Rehtatar, das dank seines intensiven Wildgeschmacks prima zur subtilen Gemüse-Schärfe der Radieschen passt. Lediglich die Gewürzmischung obenauf ist uns einen Tick zu präsent und pfeffrig.

Vollmundig, erfrischend und leicht rauchig kommt der Hüttenkäse mit Eibutter und Karotte aus dem "Naked Nature Menü" daher. Die Dosis macht’s: Cremige und bissfeste Komponenten stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Ein klarer, produktfokussierter Teller ohne Spielereien. Prima!

Kreativ angerichtet wird uns Jakobsmuschel "Polarkreis 2016" gereicht. Auch hier zeigt Ralf Haug Mut zur Reduktion: Wieder steigen leichte Raucharomen in unsere Nase, die Muschel steht – bis auf einen kühlen, erfrischenden Cracker – für sich selbst. Das darf sie auch, ist sie doch von hervorragender Qualität. Köstlich.

Eine intensive Kürbismilch umschließt zwei Stücke der Landhuhn-Brust. Das Süppchen ist präzise abgeschmeckt, kommt intensiv und unverfälscht daher; der Kürbis hat durchgehende, leicht süßliche Präsenz. Das Hühnchen ist als "Einlage" hauchzart und versteckt sich nicht hinter einer Aromen-Armee, sondern bringt, ähnlich wie bei einer Hühnersuppe, klare Herzhaftigkeit bei. Texturell unterschiedlich gearbeitete Deklinationen des Kürbis bringen etwas Abwechslung in den Zweiklang aus Boden und Tier – das gefällt!

Die "Waldillusion" experimentiert mit Temperaturen: Ein mit Pilzen gefülltes Falafel steht einem süß-säuerlichen Beereneis entgegen – diese Illusion dürfte den einen oder anderen Gast überfordern. Wir finden jedenfalls Freude an der ungewöhnlichen Kombination, bei der sich eher dunkle Geschmäcker von Kastanien und Pilzen mit kalten Beeren mischen, die ja ebenso Teil des Waldes und seiner Sträucher sind. Ohne diese Beigabe wäre uns der Teller zu trocken und erdig. Eine schöne Idee.

Bunt und saisonal geht es mit dem Färöer-Lachs 50° mit Gemüsegarten, Buttermilch und Dill weiter. Die Kombination aus Fisch, Milchsäure und Dill ist gelernt, geradlinig und frisch – den lauwarmen und zarten Lachs hätten wir in dieser schmackhaften Zusammenstellung fast gar nicht gebraucht.

Als fleischiger Hauptgang kommen Ochse, salzgebackene Bete, Stampfkartoffel und grüne Sauce auf den Tisch. Die Arbeit mit À-parts im Hauptgang kann manchmal nach hinten losgehen, besonders dann, wenn die Komponenten auf den Zweit- und Dritttellern gerne mit der Hauptkomponente kombiniert werden wollen. Im Freustil funktioniert das aber hervorragend: Wir bedienen uns abwechselnd an den rustikal und großteilig gearbeiteten Elementen. Die herzhafte Harmonie aus Ochse und grüner Sauce addiert sich mit der cremigen Kartoffel samt knusprigem Kartoffelstroh und der erdigen Bete zu einem tollen, urigen, kurzum runden Geschmack.

Als Pré-Dessert erreicht uns ein zerlegter Kirsch-Sahne-Becher, sowie etwas Kaffeecrème und ein Kirsch-Shot. Wir fühlen uns wie in einem Café an der Strandpromenade – durchdacht und gut.

Als eher erdige, mit Bitterstoffen spielende Komposition kommt "Sweet Herbs" als erstes Dessert auf den Tisch. Petersilien-Espuma, Basilikum-Eis und Kügelchen aus Kerbel liegen auf einem mit vielen grünen Kräutern aromatisierten Schwamm. Wir sind begeistert von der kühlen, cremigen und perfekt proportionierten Frische, die direkt, mutig und unverfälscht gegen unsere Papillen knallt.

Ein echtes Highlight in Sachen "Geschmack trifft auf Originalität" ist das Dessert "Fast ein Pflaumenkuchen". Als hätte Oma die Zutaten des Kuchens auf dem Küchenbrett stehen gelassen naschen wir uns durch die Dekonstruktion, die dem "Beta-Stadium" eines Kuchens gleicht. Das Beste: der Quirl mit Kuchenteig zum Abschlecken, der bei uns Kindheitserinnerungen weckt. In Summe schmeckt es dann, dank kandierter Pflaumen und unverschämt süßer Vanillecrème, tatsächlich wie ein köstlicher Pflaumen-Streuselkuchen. Eine großartige Idee, die noch dazu hervorragend umgesetzt ist.

Zu guter Letzt die Petits Fours: Die abgeknabberte "Hexenkerze" (ein Eisklassiker aus DDR-Zeiten) sowie das kleine Schaumküchlein sind eine hübsche wie leckere Reminiszenz an die Region.

Das hat Laune gemacht! Selten erlebten wir ein Menü, das die Adjektive "verspielt" und "geradlinig" derart gut in Einklang brachte, wie den heutigen Lunch im Freustil. Ralf Haug schafft es, seinen stringenten wie unprätentiösen Kompositionen einen langen aromatischen Nachhall zu verpassen. Seine Gerichte verlieren sich nicht in Details oder überfordern mit endlosen Beilagen. Ganz im Stil der Vorreiter ein paar Seekilometer weiter nördlich sind Gerichte wie die Jakobsmuschel, die Kürbismilch mit Hühnchen sowie der Ochse großartige Exempel für ein neues norddeutsches Selbstbewusstsein: regional, reduziert und schmackhaft. Dabei reizt Haug die Grenzen der Produktküche nach links und rechts humorvoll aus: Pilz-Falafel mit Beereneis und das fantastische Pflaumenkuchen-Dessert zeugen von Kreativität und – glaubt man der fast schon urlaubshaft ausgelassenen Stimmung der Mitarbeiter – viel Spaß. Über allem steht jedoch nicht primär die Idee, die Natur und ihre Produkte wie in einer Werkschau unangetastet zu präsentieren, sondern sie werden stets geschmackvoll zubereitet und eingebunden. Ein erfrischendes Beispiel dafür, dass es kein bierernstes Manifest braucht, um die Heimat genussvoll auf die Teller zu bringen.

Fazit

Das 'Freustil' in Binz bringt seine Region unverfälscht, aber dennoch kreativ auf die Teller. Die perfekte Urlaubsküche, die einfach nur schmecken will.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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