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Restaurantkritik 10.Oktober 2016

Gesucht, gefunden, gesammelt

Wer glaubt, die New Nordic Cuisine sei längst überholt, unterliegt einer eklatanten Fehleinschätzung. Nicht nur, dass sich das Maaemo in Oslo und das Geranium in Kopenhagen im "Michelin Nordic Guide 2016" über den dritten Stern freuen konnten und somit als erste skandinavische Restaurants die höchsten Weihen des Guides erlangen. Vielmehr ist das, was diese stilprägende Küche ausmacht, mittlerweile mit einigen spektakulären und interessanten Neueröffnungen auch in der hiesigen Restaurantszene angekommen. Durchaus mit einer gewissen Verspätung, aber immerhin.

Im vergangenen Jahr gab ein Restaurant per Pressemitteilung seine Eröffnung bekannt, und wir erinnern uns noch an unsere Rezeption: Das Sosein in Heroldsberg klang für uns wie am Reißbrett nach "nordischem Vorbild" konzipiert, und wir vermuteten im ersten Moment, dass da jemand einfach auf den regional-lokalen Trend aufspringen will. Und dann steckt auch noch eine in Nürnberg ansässige Catering-Firma mit dem uns belustigenden Namen El Paradiso GmbH hinter dem Projekt. Wir waren skeptisch.

Der Hintergrund des Küchenchefs machte uns dann doch neugierig. Felix Schneider, Jahrgang 1985, hatte zuletzt als Küchenchef im Nürnberger Restaurant Aumers la Vie gekocht und zuvor unter anderem auf der Burg Wernberg Erfahrungen gesammelt. Er stammt aus der Gegend und baut auf 1,5 Hektar eigenes Gemüse für das Restaurant an. Angeblich, so hörten wir, sammelt er die Pilze fürs Menü bisweilen selbst und kennt die Namen aller Kühe, deren Fleisch im Keller reift. Klang fast zu romantisch, um wahr zu sein. Also nix wie hin und selbst ein Bild gemacht.

Insgesamt besteht das Küchen- und Serviceteam im Sosein aus acht Leuten – davon ein Sommelier und ein Servicemitarbeiter. In der Regel servieren die Köche die Gänge selbst. Es gibt nur ein Menü, das "Brachfeld & Einkehr" heißt. Ein Name mit Programm, denn wir wir befinden uns gerade in der kargen Zeit vor den ersten gemüsigen Frühjahrsboten.

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In recht zügiger Abfolge, das erinnert schon an einige skandinavische oder spanische Restaurants, werden als "Prolog" bezeichnete Kleinigkeiten aus der Küche geschickt. Wir starten mit Geschmortem Chicorée und Zierquitte/Scheinquitte. Die Blüten des Rosengewächses wurden in Zuckersirup über den kargen Winter gerettet. Mit ihrem süßlichen Sud und dem an Bittermandel (Marzipan) erinnernden Geschmack sind sie zum herben Chicorée eine tolle Ergänzung und führen mit den Schmornoten zu einem fast fleischigen Eindruck. Ein schöner Auftakt.

Für Schwarzwurzel und Sesam garte das Küchenteam den Korbblütler mit brauner Butter sous-vide und flämmte ihn anschließend recht kräftig ab. Pur genossen schmeckt es deutlich verbrannt und ein charakteristischer Geschmack lässt sich in der entstandenen Süße nur noch erahnen. Für die schaumige Paste, die uns mit Geschmack und Textur an eine äußerst feine Tahina erinnert, ist das Gemüsestück ein ideales Transportmittel. Das Rauchig-Verbrannte schmeckt kombiniert dann so gut, dass wir uns die Kleinigkeit in größerer Menge als Snack für einen langen Fernsehabend vorstellen können.

Da im Sosein ganze Schweine verarbeitet werden, erklärt sich bei Schweineblut, Rahm und Saibling die ungewöhnliche Zutat im knusprig-bröckeligen Tartelette. Das Blut sorgt für eine rötlichbraune Farbe. Im ersten Moment haben wir beim Teig einen muffigen Eindruck, erst im Kauverlauf schmecken wir dann das prägnante Aroma durch. Das passt ganz ausgezeichnet zum dickgelegten Rahm, dessen säuerlicher Geschmack Richtung Crème fraîche bzw. Quark geht und der als verbindendes Element dringend erforderlich ist. Das Topping besteht aus unbehandeltem Saiblingsrogen, der aus einer nahegelegenen Fischzucht stammt, blitzsauber und nach frischestem Fisch schmeckt. Sehr interessant.

Weiter geht es wieder mit Schweinereien: Der Service serviert uns eine Auswahl selbst produzierten Schinkens. Vom Mangalitzer Wollschwein gibt es zartschmelzenden, kräuterigen Pancetta und kräftigen Schinken aus der Keule. Der Entenschinken ist äußerst delikat und hat Anklänge von Miso – kein Wunder, da er mit Koiji-Pilz geimpft wurde. Sehr gute Fleischprodukte.

Noch mehr Lokalkolorit gefällig? Die Antwort lautet im Sosein Fränkische Schlachtschüssel, wobei das Ergebnis von einer plumpen Fleischansammlung weit entfernt ist. Und doch ist bei dieser Petitesse Deftigkeit auf den Punkt gebracht. Dafür sorgt die mehlige, alte Kartoffelsorte Mrs. Blush, die in einem Sud aus mit Butter gebundenem, fermentiertem Rotkohlsaft liegt. Auf ihr thronen feine Späne von Wollschwein-Leber, die eingesalzen und geräuchert wurden. Gerade dieser Kombination aus Säure und Raucharomen ist es zu verdanken, dass wir das Gericht gerne noch einmal ordern würden – toll! Wobei wir uns nach diesen drei Kleinigkeiten fragen, was wohl mit dem Rest des vollständig verarbeiteten Schweins passiert ist?

Man kann Brot und Butter auch richtig zelebrieren. Wir finden das angemessen, wenn die Qualität ausgewöhnlich gut ist. Von der heutigen Lehrstunde in Sachen Brot ist uns in Erinnerung geblieben: Das Sauerteigbrot hat eine 65-stündige Teigführung, Weizen ist der Hauptbestandteil, und beim Backen entsteht eine wilde Krume. Aber das Wichtigste ist der Geschmack, und der ist hier weniger säuerlich, da statt Milchsäurebakterien mehr Hefe zum Einsatz kam. Das Brot schmeckt nussig und aufgrund des hohen Weizenanteils mild genug, dass die kräftige, zwölf Wochen gereift Butter schmeckbar bleibt. Das Ergebnis ist, dass wir mehr Brot essen, als vernünftig ist, ...

... da wir mit Saibling roh, gelbes Gemüse und Zierquitte ins eigentliche Menü starten. Der Fischbauch ist inspiriert durch Ceviche und daher roh mariniert, wobei neben Zwiebeln Quitte für die Säure (eingelegt und als gepresster Saft) und grüner Chilli zum Einsatz kommen. Für ein wenig ausgleichende Balance sorgt die Süße des Gemüses. Etwas schade ist, dass die Säure und Schärfe der Marinade den feinen Fisch dominieren und außer der Textur zu wenig Eigengeschmack übrigbleibt.

Mit Emu-Ei mit Kresse, Haselnuss und Champignons folgt eine fein austarierte vegetarische Vorspeise. Das Ei vom Laufvogel, kulinarisch auch für uns eine Premiere, stammt von einem regionalen Züchter. In seiner an ein Green Egg erinnernden Schale gekocht, bleibt ein gallertartiges Eiweiß und ein kräftiges, cremiges Eigelb übrig, wovon wir je zwei Stücke auf dem Teller finden. Das Gericht ist sehr mild gehalten, und so nehmen wir die Nuancen im Spiel zwischen den Texturen von cremig zu knackig und einem Geschmack von nussigen, pikant-grünen Noten wahr. Auf dem Tellerboden befindet sich eine Brunnenkressecrème, darauf die Eistücke, Scheiben der Wurzel von knochiger Kapuzinerkresse und ein verbindender Haselnuss-Schaum, der mit Jahrgangssardelle aufgemixt wurde (den Jahrgang konnten wir allerdings nicht ausmachen). Das schmeckt eingängig gut und süffig, dabei jederzeit natürlich, vielschichtig und einmal mehr interessant.

Nun kommt die nächste Fleischrunde, aber nicht mit dem Rest vom Schwein, sondern mit Rind – und auch dem widmet man sich hier mit Inbrunst. Das Fleisch für Ochsenfleisch mit Wurzelgemüse und Meerrettich hing für 120 Tage im Kühlraum ab. Dass es von einem Bauern stammt, der sich mit der Kreuzung aus Fleckvieh und Wagyu beschäftigt, erweist sich als Glücksfall. Dem in seiner Struktur bissfesten Fleisch merken wir die Trockenreifung an und sind glücklich, dass dabei der Fleischgeschmack erhalten blieb – das gebratene Fleisch schmeckt großartig. Es wird wie ein klassischer Tafelspitz von Gemüse und Meerrettich eingefasst, wobei der besondere Kick hier vom getrockneten und in der Consommé hydrierten Gemüse und von Meerrettichblättern ausgeht. Letztere trieben beim im Sosein-Kellergewölbe in Erde gesteckten Meerrettich aus – ein tolles Gericht.

Für einen von uns hat auch der folgende Gang eine ihn an Österreich erinnernde Aromatik: Waller, schwarze Zwiebel, gebundener Dashi, Grünkohl und Rauchöl. Das liegt wahrscheinlich an den zwiebeligen Schmornoten, die deutlich spürbar sind. In einem längeren Prozess verzuckerte das "Forschungsteam" die Zwiebeln, bis fast nur noch Umami-Geschmack blieb. Der Rest ist kochtechnisch relativ schnell erzählt: sautierter und dadurch knackig-herber Grünkohl, ein köstlicher Sud aus mit Waller-Leber aufgemixtem Dashi und das Rauchöl vom Birnenholz. Das Ergebnis ist von epischer Breite: Vom weichen, beinah wie souffliert wirkenden Fisch zum etwas salzigen Grünkohl ergibt sich ein Geschmacksbild, das einen köstlichen Bogen von elegant zu herzhaft-schroff zieht.

Ein hierzulande nicht allzu geläufiger Schnitt vom Rind steht bei Nierenzapfen, Blumenkohl, Emulsion von Räucheraal und Einlegetomate klar im Focus. Das in Frankreich als Onglet weitaus bekanntere Fleisch ist ein marmorierter, kurzfaseriger Muskel, der das Zwerchfell stützt und nach dem Garen sehr zart wird. Doch nicht nur diese Charaktereigenschaft ist unserem respektablen Stück eigen, es schmeckt auch traumhaft gut. Die kräftige Kruste harmoniert mit der rauchigen Säure der Emulsion, die eine klassisch angelegte Sauce nicht vermissen lässt. Auch der Blumenkohl liefert Säure, da ein Teil vergoren wurde. Die restlichen Bestandteile – in bester Root-to-flower-Manier –  sind ein Püree, geröstete Elemente und die Blätter, die ein wenig herbes Grün zufügen. Welch ein Satansbraten!

Manchmal entstehen beim Essen einfach Bilder vor Augen. Bei Schlehe und Douglasie sagt einer von uns "Der Förster fällt einen Baum" – und in der Tat riecht es durch die im Winter geerntete Tanne harzig wie ein frischgeschlagener Weihnachtsbaum. Die Schlehe addiert eine beachtliche Säure, die von etwas Schokocrumble abgefedert wird. Das schmeckt gleichsam spannend und neu, bleibt dabei doch irgendwie vertraut. Dass wir unseren Körpern mit dem hohen Vitamin-C-Gehalt auch noch etwas Gutes tun, ist ein netter Nebeneffekt. So Wald, so gut.

Dill und Sanddorn fällt dann fast noch puristischer, aber nicht freudlos aus. Jetzt sind wir keine allzu großen Sanddorn-Freunde, aber in diesem Kontext lassen wir uns die kühle Variante auf dem Spiegel von Sanddornkaramell gefallen. Der Dill taucht hier als Eis aus dickgelegter Milch auf dem Baiser auf. Gerade zusammen mit den erfrischenden, leicht süßen und in Dillblüte marinierten Gurkenstückchen und dem Mundgefühl des Dill-Baisers ergibt sich für uns ein stimmiges und zeitgemäßes Dessert im Spannungsfeld von Frucht und Gemüse sowie Süße und Säure.

Nach einem wohlproportionierten Menü passt auch die kleine Petits-Fours-Auswahl noch rein.

Unser Besuch im Sosein fand rund ein halbes Jahr nach der Eröffnung statt und war nicht nur dafür ein beeindruckender Stand der Dinge. Ein großartiges Menü, wobei der Begriff Menü schon wieder zu konventionell klingt. Es war eine Abfolge durchdachter Gerichte, fernab von Kopie und Klischee, eine Demonstration von Natürlichkeit und Geschmack. Einfachheit und Komplexität vereint in einer hochmodernen Naturküche. Nicht didaktisch und verkopft, sondern präzise und verständlich, dabei mit einer gewissen Herausforderung für den Gast. Als unliebsame Überraschung im Verdauungstrakt kann sich bei empfindlichen Gästen der recht hohe Anteil an milchsauer Vergorenem entpuppen – wer also schon bei Sauerkraut schwächelt, sei vorgewarnt.

Sommelier Dominik Altenkamp bringt zu diesen gewiss nicht einfach zu begleitenden Speisen stimmige Weine ins Glas. Der Gast sollte durchaus offen gegenüber Neuem oder Ungewöhnlichem sein. Man hat sich im Sosein zwar nicht einer bestimmten Art oder Richtung verschrieben (sei es bio-dynamisch, Naturwein oder Orange), doch ist die Auswahl geprägt von den rigorosen Qualitätsansprüchen der K & U Weinhalle aus Nürnberg als Lieferanten. Die fehlende Festlegung tut der Begleitung durchaus gut, da so viel mehr Möglichkeiten bleiben, gerade auch im Weinland Franken. Uns überrascht rückblickend nicht, dass auch die alkoholfreie Begleitung gehörige Aufmerksamkeit erhält, da sie geschmackssicher ist und bestens passt.

Und das alles ausgerechnet in der fränkischen Provinz? Nun, neben dem so anstrengend auf seine Hipness bedachten Berlin ist diese Region vielleicht genau das richtige Fleckchen Erde, wo solch ein Solitär sich behaupten kann, weil hier immer ein wenig die regionale Identität bei Speis und Bier gesichert werden konnte. Wir sind hochgespannt, wie es weitergeht.

Eine teilweise erklärungsbedürftige Küche erfordert immer gut informiertes Servicepersonal. Und natürlich geht es im Sosein locker zu. Dazu tragen das relaxte Wirtshausambiente und gerade auch die Köche bei, die die Küche zum Servieren des Öfteren verlassen. Und dass beim Brotservice der Anschnitt des Brots lautstark gefeiert wird, haben wir in dieser Form auch noch nicht erlebt. Das macht Laune. So muss es sein.

Fazit

Das Sosein ist eine der spannendsten Neueröffnungen der letzten Zeit und ein heißer Favorit für den Stern am 1. Dezember. Regionalität, Innovation und Geschmack gehen hier Hand in Hand und machen Vorfreude auf kommende Menüs.

Weine

Weinauswahl im Restaurant Sosein in Heroldsberg

2014 Sauvignon Blanc, Seeger

2014 Müller-Thurgau Feuerstein, Weinbau Krämer

2009 Myophorium, Ruck

2014 kalkundkiesel weiß, Claus Preisinger

1992 Grüner Veltliner Solist, Kirchmayr

Moscato d'Asti, Del Tufo

2014 Riesling Auslese, Wittmann

Säfte

Säfte im Restaurant Sosein in Heroldsberg

Multisaft

Betemolke

Grüne Tomate mit Staudensellerie und Ei

Apfel-Majoran

Traube jung & alt

Birne-Schlehe-Douglasie

Mandelmilch+Dill

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Dominik Altenkamp

1. Anzahl der Positionen
Wir haben ca. 90 Positionen.

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Avantgarde-Weine, Spontangärung, Bio- und Orange-Wines.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Die günstigsten Weine gibt es für 39€ (z.B. 2014 Müller-Thurgau Feuerstein von Weinbau Krämer), wobei der teuerste Wein 1260€ kostet (2011 Cabernet Sauvignon Hershey Vineyard vom Dana Estate)

4. Die ungewöhnlichste Rarität? 
Das ist die 2012er Sosein Hommage von Wine&Style Würzburg.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Da wir hauptsächlich die Getränkebegleitungen verkaufen, haben wir keinen meistverkauften Wein. Jedoch wird überwiegend die alkoholische Getränkebegleitung gewählt.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
2015 Silvaner "Heimat" von Michael Völker – spontanvergoren, dicht, komplex, hefig und ein richtig geiler Silvaner mit Potential!

7. Ihr Lieblingswein?
Mein Lieblingswein ist der 2014 kalkundkiesel von Claus Preisinger aus dem Burgenland – komplett anders, als andere Weine und jedes Glas ist ein neuer Dreh am Aromenrad.

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden? 
Bis dato gab es noch keine außergewöhnlichen Bestellungen.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

Eure Meinung?

Radikal regional – ein Konzept nach Eurem Geschmack?

 

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