Restaurantkritik 25.Juni 2015

Aus zwei Welten

In der Finalrunde der legendären TV-Spielshow Ruckzuck wären zum Oberbegriff München sicherlich Antworten wie Oktoberfest, Fußball, Hofbräuhaus und Weißwürste gefallen. Dabei hat die Landeshauptstadt des Freistaates Bayern historisch-politisch, kulturell und ökonomisch so vieles mehr zu bieten – nicht selten erliegen fremde Gäste dem Flair der „nördlichsten Stadt Italiens“, was nicht zuletzt die horrenden Mietpreise widerspiegeln.

Aber auch kulinarisch hat die Residenzstadt ihren festen Platz in der deutschen Küchenhistorie. Gerade von hier gingen in den 70er-Jahren bedeutsame Entwicklungen der Esskultur aus. Legendär allein die Geschehnisse um Eckart Witzigmann im noch heute mit seiner Inneneinrichtung beeindruckenden Tantris bis hin zu seinem Schaffen in der Aubergine, Deutschlands erstem Restaurant mit drei Michelin-Sternen – ein Meilenstein des nationalen Küchenwunders!

Letzteren Wallfahrtsort gibt es in dieser Form leider nicht mehr, und das Tantris ist vom einstigen Standing inzwischen ein gutes Stück entfernt. Unsere jüngsten Erlebnisse an der Isar – im Dallmayr bei Diethard Urbansky und im Atelier bei Jan Hartwig – hinterließen bei uns jedoch höchst erfreuliche Erinnerungen und zeigen nach einigen Jahren der Stagnation einen allgemeinen Aufwärtstrend. Eine derart belebte Szene dürfte auch für die Hoteliersfamilie Geisel im kulinarisch zurückhaltend-innovativen München der Grund gewesen sein, Tohru Nakamura in den Werneckhof zu holen.

Seit Anfang 2013 ist der 31-jährige Münchner Küchenchef des Restaurants, dessen Leistungen der Guide Michelin wenige Monate später bereits mit dem begehrten Macaron belohnte. Im zur selben Firmengruppe gehörenden Hotel Königshof absolvierte Nakamura seine Ausbildung bei Martin Fauster. Zwischenzeitlich kochte er bei Joachim Wissler im Restaurant Vendôme und in Sergio Hermans Oud Sluis, wo er von 2011 bis 2012 einer der Sous Chefs war. Quasi als Vorbereitung und Feinschliff für seinen euro-asiatischen Stil bildete sich der Deutsch-Japaner anschließend bei Tokioter Spitzenköchen fort. Diese Einblicke bleiben Gaijins, also Nicht-Japanern, normalerweise vorenthalten, jedoch ist der sympathische wie durchaus eloquente Küchenchef der Landessprache mächtig, was ihm den Zugang ermöglichte.

Das gutbürgerliche, urbayerische Ambiente des im Stadtteil Schwabing beheimateten Restaurants mit Holzböden und -decken sowie eng stehenden, klassisch eingedeckten Tischen ist ein krasser Stilbruch zur modernen Küche Nakamuras. Das mag man irritierend oder charmant finden, wir wollen uns von diesem Element erst mal nicht ablenken lassen, sondern sind gespannt, was die Küchencrew auf die Teller und in die Schüsseln bringt...

Schon die Apéros werden weltgewandt präsentiert und besitzen einen gewissen Streetfood-Charakter. Indisch angehaucht ist das knusprige Naanbrot mit Linsencrème, wobei dem etwas trockenen Brot von der feinwürzigen Crème, die wie eine konzentrierte Linsensuppe schmeckt, wieder saftiges Leben eingehaucht wird. Ein Forellenrillette mit Meerrettich und Dill überrascht als geschmackliche Kleinigkeit: fischig, frisch und durch Sojasauce asiatisch gewürzt. Das an den beliebten vietnamesischen Baguette-Snack angelehnte Bánh mì von der Entenleber, ist ein origineller Happen.

Äußerst japanisch und geschmacklich sehr pur bringt die folgende Umami-Bombe unsere Geschmackspapillen in Halb-Acht-Stellung: Dashi aus Kombu-Alge und Bonito.

Danach wird es beim Amuse gueule mit Okonomiyaki, Jakobsmuschel, Bergamotte und eingelegten Buchenpilzen deftiger. Auf den Pfad der Feinheit führt uns der Belag des Okonomiyaki zurück. Der auf einer heißen Eisenplatte (Teppan) gegarte Teigfladen aus Wasser, Kohl, Mehl, Ei und Dashi wird  auch als „japanische Pizza“ bezeichnet, und der Appetitanreger gefällt uns trotz leicht gummiartiger Konsistenz und deutlicher Ingwer-Schärfe sehr gut. Charmanter Nebeneffekt: Dieses gerne zu Trinkgelagen gereichte japanisches "Fastfood" ist gewiss eine gute Grundlage für die weitere Weinbegleitung.

Eleganz und Geschmack paart der tatsächliche Menüauftakt, über dessen Spannungskurve und Herangehensweise ein wenig der Sergio-Herman-Geist schwebt: Rose vom Kalb, Räucheraal, Blumenkohl und Blaumohn, Buttermilch-Yuzu-Vinaigrette und grüner Apfel. Das Fleisch harmoniert ausgezeichnet mit den Rauchnoten des fetten Speisefisches, und die Nussigkeit des Kohls findet sich im aromatischen Blaumohn wieder. Verbindend und erfrischend wirkt die Vinaigrette – hier greift ein Rädchen optimal ins andere und beschert uns einen starken Auftakt.

Bei der Bouillon von der Strandkrabbe mit Crevettes bouquet, Rotkohl und japanischer Ingwerblüte „Myoga“ sollte der Gast kräftiges Krustentier-Aroma zu schätzen wissen, da die dunkle und auch ohne Zugabe von Salz sehr würzige Bouillon noch intensiver als eine Hummer-Bisque ist. Neben dem Fleisch von der Strandkrabbe, das auch zu Tatar verarbeitet und ausgebacken wurde, begeistert uns frischester Garnelengeschmack. Kein Wunder: die wegen ihrer Verfärbung bei der Garung auch als Crevettes rose bezeichneten Garnelen kamen aufgrund guter Kontakte lebendig im Restaurant an und werden roh serviert. Diese geschmackliche Wucht wird durch beinahe fröhliche (Farb-)Tupfer des süßlichen Rotkohls und des eher herben Schwarzkohls abgemildert. Wow!

Erinnerte uns die Rose zuvor an die Denkweise Sergio Hermans, besinnt sich Nakamura beim nächsten Gericht auf Produzenten aus der Region um das Oud Sluis, die er von seiner Zeit dort kennt. Bei Auster, Blaumuschel und Herzmuschel, Amontillado Sherry, Gorgonzola dolce sowie Sellerie stehen die hervorragenden Schalentier-Produkte aus der Ortschaft Yerseke in der niederländischen Provinz Zeeland im Mittelpunkt. Die Muscheln, bei denen auch die flache Auster sanft gegart wurde, haben bereits pur einen sensationellen Geschmack und leben bei aller Muscheligkeit vom Spiel mit unterschiedlichen Konsistenzen. Eine malzige Pumpernickelcrème und etwas gepickelte Zwiebeln ergänzen das Gericht auf subtile Art und Weise. Selten war auch ein Schaum so sinnvoll wie hier, denn dadurch funktioniert die Alkohol-Käse-Kombination überraschend und ausgesprochen gut.

Bei der wilden Dorade Royal, Algen und Kartoffel, Sojaponzu und Zitronenmelisse überzeugt uns als erstes der gegrillte und dann auf einem Salzstein präsentierte Fisch. Eine Behandlung, die dem schmackhaften und festen Fleisch des Meeresbewohners äußerst gut bekommen ist und ihn nicht gegen dominante Begleiter untergehen lässt. Grundsätzlich gefällt uns die schlüssige Kombination von Fisch und Algen – pur, als Crème, frittiert und in einem Cannelloni. Dennoch wäre etwas weniger mehr gewesen, gerade weil sich das Langoustinen-Fisch-Tatar aufgrund seiner Aromatik und „Schmierigkeit“ als problematisch erweist und die Kartoffeln als sättigende Beilage hinzukommen.

Beim Zicklein mit Freekeh, Mandelcrème, orientalischen Aromen, knusprigem Couscous mit Sumac und Gewürzjoghurt gelingt es dem Küchenchef, das feinaromatische Ziegenfleisch in einen nahöstlichen bis orientalischen Kontext zu setzen, ohne dass ein von Gewürzen überlagerter Mischgeschmack entsteht. Vielmehr fungieren der säuerliche Sumac (eine auch Essigbeere genannte, gemahlene Steinfrucht) und der in grünem Tee eingelegte, rauchige Freekeh (unreif geernteter und gerösteter Weizen) als sinnvolle und dezente Hintergrundaromen zu Bries, Nacken und Schulter vom Kitz. Ein ausgebackenes Couscous-Bällchen mit lebriger Füllung fügt neben Geschmack Textur hinzu, die Mandelcrème und angeröstete Topinamburstücke sorgen außerdem für einen nussigen Zusammenhang, während Joghurt, Kräuter und angeschwenkte Salatherzen Frische und Auflockerung besteuern. Dadurch bleibt dieser Gang am Gaumen jederzeit differenziert schmeckbar und wirkt nicht plakativ orientalisch – sehr gut.

Wären wir mit dem in Miso glasierten Ibérico Pluma, Kinn à la „Bulgogi“, Artischocken und geräuchertem Tofu nicht am Ende der herzhaften Gerichte angelangt, wir wüssten nicht, wie die Küche dieses hocharomatische Vollgas-Gericht noch steigern wollte. Das Muskelfleisch des geschmacksintensiven Schweins gewinnt durch die Miso, einer auch abseits japanischer Küchen zur Trend-Zutat herangereiften fermentierten Gewürzpaste auf Sojabohnen-Basis. Einer hervorragenden Bratensauce ist cremiger Tofu gegenübergestellt, und mediterrane Artischocken finden im auch als chinesische Artischocke bekannten Knollen-Ziest ihr Pendant. Die mediterran-asiatische Melange funktioniert gut: Das ist einfach sowie verständlich zu essen und bietet gleichzeitig eine feine Differenzierung durch Säure, Bitterkeit, Rauchnoten und Süße aus dem Gemüse. Mit dem à part gereichten Kinn in der Zubereitung eines koreanischen Barbecue-Gerichts wird der Gang dann noch um knusprig-süffige Deftigkeit erweitert. Saustark! Langsam gehen uns die zustimmenden Ausrufe aus...

Natürlich probieren wir von der kleinen, aber feinen Käseauswahl von Kaasmeester Michel van Tricht & Zoon. Das schmeckt unbestritten gut, ist im Kontext des gesamten Menüs für uns aber absolut verzichtbar. Vielleicht wäre es da doch spannender, einen einzelnen Käsegang im Stile der vorangegangen Gerichte zu kreieren?

Der Dessertauftakt gelingt mit Banane, Grüner Tomate, Limette und Cru de Cacao, wobei die Pâtisserie ein wenig Würze und Salzigkeit mit in den (hier nicht zu) süßen Bereich hinein nimmt. Die Portionsgröße ist genau richtig dimensioniert – bei mehr könnte Langeweile drohen.

Das zweite Dessert, weiße Schokolade, Pecannuss, Goldene Enokis und Preiselbeeren, ist rund um eine Art Kuchenboden recht konventionell angelegt. Ohne die erdigen Noten der süß-sauren Preiselbeeren und besonders die süß-fruchtig schmeckenden Pilze wäre es sogar ein wenig banal.

Das war enorm spannend! Tohru Nakamura nahm uns auf eine interessante Entdeckungsreise mit, die – das macht wohl der Einfluss der modernen niederländischen Schule aus – nicht vor Ländergrenzen Halt macht. Was sich gedruckt wie ein gefährlicher Parforceritt liest, der in geschmackliche Überlagerungen und Klischees abdriften könnte, wirkt auf den teilweise direkt aus Japan mitgebrachten Tellern und Schüsseln schlüssig essbar und – sehen wir einmal von der Dorade ab – zumeist wie aus einem Guss. Geschmacklich bleibt es trotz teilweise widersprüchlicher Produkte (Muscheln mit Sherry und Gorgonzola) und Zutaten aus anderen Länderküchen beinahe durchweg elegant; nur beim Amuse-Gueule und der À-part-Reichung zum zweiten Fleischgericht schießt die Küche mit der Deftigkeit fast übers Ziel hinaus. Nakamura schaffte es, einen süffigen Wohlgeschmack zu kreieren, der nicht auf klassischen Geschmacksbildern beruht. Dazu geht es mit koreanischen, japanischen und niederländischen Einflüssen und Zutaten aromatisch einfach zu anders und neuartig zu.

Daher lässt sich die ungewöhnliche Küche im Werneckhof auch nicht auf Schlagwörter wie Fusion, euro-asiatisch oder gar japanisch-inspiriert reduzieren. Entscheidend ist dennoch Nakamuras Heimat zwischen den Welten, die ihm andere Blickwinkel über den sprichwörtlichen Tellerrand ermöglicht. Hier wird keine europäische Klassik mit asiatischen Elementen aufgemöbelt und kein japanischer Purismus europäisiert – es geht aus Sicht des Kochs schlichtweg um den bestmöglichen Geschmack sowie die Begleiter eines Produkts.

Foto: Tohru Nakamuras CookTank-Gericht "Jakobsmuschel – Deep, upside-down und flat"

An diesem kontrastreichen Abend erlebten wir einen ungewöhnlichen, angenehm gereiften – und das ist ausdrücklich positiv gemeint – Service durch den erfahrenen Gastgeber und Sommelier Ireneo Tucci, der stets bestens informiert und charmant agierte. Insgesamt war das für uns ein Unterschied zu den oft sehr jungen, wenngleich bestens ausgebildeten Kollegen, auf die wir meistens treffen. Kurz nach unserem Besuch verließ der Italiener allerdings den Werneckhof und übergab das Servicezepter an seine Nachfolgerin als Maître d’ Julia Pleintinger. Uns hätte bereits stutzig machen können, dass mit Gerald Desmousseaux ein weiterer Sommelier am Abend unseres Besuchs präsent war. Der Franzose, der zuvor im Adler Rosenberg arbeitete, begleitete die komplexen Gerichte gekonnt – beim nächsten Besuch werden wir allerdings auch einen Sake einfordern! Die umfangreiche Weinkarte ist durchaus adäquat bepreist.

Fazit

Weltgewandt und hochmodern – Tohru Nakamura kocht einen sehr individuellen Stil, der uns beeindruckt hat: von leicht bis deftig und dabei stets lecker und originell.

Fressfreunde

Das Filet

"Ich war im Winter vor einem Jahr da und war teilweise etwas irritiert, weil Interieur und Küche soweit auseinanderliegen wie die Schweiz und das Meer. Dass der Serviceleiter zwischendurch noch versucht, sein italienisches Olivenöl zu verkaufen, wirkte auch irgendwie merkwürdig. Nakamuras Küche hat man die Sergio-Herman-Vergangenheit im besten Sinne angemerkt. Geschmacklich meist stark, teilweise nicht alles ganz auf dem Punk."

Küchenreise

"Hervorragende Küche (Oud Sluis-inspiriert mit einem Touch Vendome/Königshof, um Bezug zu früheren Stationen von Nakamura zu nehmen) - modern, lebendig, cool! In skurillem Umfeld, dass man wohl nur als Alteingesessener Schwabinger zu deuten weiss..."

Wein

2010 Dosage Zero von Ca del Bosco 

2013 Albana „Gariete“, Tenuta Folesano, Emilia Romagna, Italien

2012 Macon-Lugny „Saint Pierre“, Bouchard Père & Fils, Mâconnais, Frankreich

2013 Assyrtiko, Hatzidakis, Santorini, Griechenland

2012 Silvaner „Sehnsucht“, Horst Sauer, Franken

1997 Château La Louvière, Bordeaux, Frankreich

2012 Garnacha „San Martin“, Navarra, Spanien

2006 Uve decembrine, Giovanni Dri, Friaul, Italien

2010 Quarts de Chaume, Domaine des Baumard, Loire

10 years old Tawny Port „Quinta de Gaivosa“, Sousa, Douro, Portugal

Digestif: Zibärtle von Weckerle aus Schwaningen

Fragen an die Suffmeister (a.k.a. Sommeliers) Julia Pleintinger & Gerald Desmousseaux

1. Anzahl der Positionen
Wir haben ca. 450 Positionen auf der Karte.

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Schwerpunkte liegen auf Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Die günstigste Flasche ist der 2011 Riesling Kabinett trocken "Röttinger Feuerstein" von Jürgen Hofmann in Franken und liegt bei 28€. Am höchsten schlägt der 1986 Château Lafite Rothschild mit 1500€ zu Buche.

4. Die ungewöhnlichste Rarität? 
1969 Château Cheval blanc in der Magnum für 990€.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Das ist der 2012 Silvaner Cuvée "Extrem SAUGEIL" von Horst Sauer/Geisel Weinbau für 65€.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
2013 Furmint "Sipon" vom Weingut Gross an der Weinstraße und 2012 Frühburgunder "Kirchenstück" vom Weingut Gerhard Klein aus Hainfeld in der Pfalz.

7. Ihr Lieblingswein?
Einen Lieblingswein haben weder Gerald noch ich. Wir trinken privat beide gerne Chardonnay und Syrah. Einen Lieblingswein können wir dennoch nicht nennen, da es immer auf die Trinkreife des Weines, die Situation oder den Anlass, die Umgebung und die Stimmung ankommt.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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