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Restaurantkritik 21.Juli 2013

Das Beste zum Schluss

Nun ist es offiziell: Die berühmte gastronomische Erfolgsformel O-S-H, die den Eingang des Oud Sluis schmückt, wird es ab dem 22. Dezember dieses Jahres so nicht mehr geben. Sergio Herman hat sich entschlossen, sein legendäres Drei-Sterne-Restaurant zu schließen.

Gerüchte über das Ende des Lokals kursierten zwar schon lange, und Herman sagte in Interviews immer wieder, dass er aufhören werde, solange er mit drei Michelin-Sternen und sagenhaften 20-Gault-Millau-Punkten an der Spitze steht. Dennoch überraschte (und bestürzte) die Meldung, dass diese Pilgerstätte der Kulinarik bald nicht mehr existiert - in Benelux schaffte es die Meldung gar prompt auf fast alle Titelseiten der Tagesmedien. Auch wir stimmen etwas wehmütig in den Tenor ein, haben uns doch unsere vorangegangenen Besuche stets begeistert. Gleichwohl wird Herman sich nicht zurückziehen. Er fungiert weiterhin als Patron des Pure C im Strandhotel Cadzand und wird mit der Neueröffnung des The Jane Anfang 2014 in Antwerpen voll eingespannt sein, wenngleich er dort allerdings nicht die Küchenleitung innehaben wird, sondern seinem langjährigen Souschef Nick Brill den Pass überlässt. Hinzu kommen seine zahlreichen medialen Engagements und Projekte.

So oder so, wir schätzten uns glücklich, das Sluis nur eine Woche vor der offiziellen Bekanntgabe der Schließung noch einmal erleben zu können und waren gespannt auf die aktuelle Performance in einem der einflussreichsten Restaurants Europas.

Als Erstbesucher könnte man das Restaurant leicht übersehen: Von Journalisten meist unter Auslassung der Umgebung als behagliche Oase mit grünem Vorgarten geknipst, erwartet man ein ländliches Umfeld. Tatsächlich aber befindet sich das Oud Sluis mitten im Ort, direkt an einer Fußgängerzone voller Boutiquen, Cafés und Souvenirläden. Wirkt das Gebäude selbst nostalgisch-bürgerlich, haben die Gasträume eher clubähnlichen Charakter. Auch mittags sind die Jalousien herabgelassen, nur wenig Tageslicht dringt ins Innere. Die Akustik wird von deutlich hörbarer, zwischen Elektro und Eighties wechselnder Musik geprägt. Als Folge scheinen sich die Gäste deutlich lauter und ungehemmter zu unterhalten, was wir begrüßen. Die Einrichtung ist auf gediegene Art modern - schwarz, weiß und creme dominieren. Dem ununterbrochen rotierenden Service wird hier das absolute Limit abverlangt, sodass wir uns fragen, ob die Jeans und Turnschuhe der Crew wirklich nur dem lässigen Zeitgeist geschuldet sind. Ein Blick durch das Panoramafenster zur Küche zeigt, dass auch dort das Wort "Ruhe" nicht zu existieren scheint: Das junge Team bewegt sich in olympisch anmutender Geschwindigkeit. Insgesamt ist die lebhafte, mitunter wuselige Atmosphäre durchaus gewöhnungsbedürftig, hat man sich aber erst mal "eingegrooved", fühlt man sich pudelwohl. Die perfekte Ausgangssituation, um in den Lunch zu starten.

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Als erstes von insgesamt sieben Amuses reicht uns der Service ein Häppchen aus Basilikum, Parmesan, Fenchel, Oliven und Sardellen. Schmackhaft und doch leicht, essen wir es in einem Happen vom Steinplättchen.

Darauf folgt der sogenannte Crazy Mushroom. Die Kombination von Pilzen, Avocado und Brioche enthält zwar keine Halluzinogene, beflügelt aber durch seine hochfeine Aromatik.

Auch Wolfsbarsch-Tatar, Bergamotte, Limetten und Jalapeño, welches in der ausgehöhlten Limettenschale serviert wird, begeistert uns durch Frische und anregende Schärfe.

Das auf dem Rost servierte "Zeeland-Aal-BBQ" setzt den erstklassigen Amuse-Reigen fort. Der Aal wurde mit Soja lackiert und wird mit etwas Sesam serviert. Dazu passt die leichte Schärfe des Radieschens. In einem Schälchen finden wir Lakritze in Form einer Spinne sowie Tintenfisch. Alleine in diesem Amuse steckt eine schier unbeschreibbare Komplexität, der Gaumen wird von einer Unmenge Aromen bespielt, und doch wirkt alles klar und pointiert.

Die "Gedämpften Brötchen" mit Zeeland-Auster und Schweinebauch versetzen uns ans Meer. Hier besticht vor allem das Spiel aus weichem Brötchen und kalten Perlen mit der salzigen Austernnote, die durch den knusprigen Speck eine verblüffende Rustikalität bekommt.

Mit Seeschnecke, Sellerie, Apfel, Yuzu und Rosinenbrottoast bekommen wir ein letztes, herrlich schmackhaftes Häppchen serviert. Unter diesem versteckt sich eine trinkbare Emulsion, die das Amuse um herbale Noten erweitert.

Nach diesem Höhenflug an Amuses müssen wir erst einmal tief durchatmen und die komplexen Genüsse nachwirken lassen. Rückblickend wird klar, dass man die vielfältigen Happen als gesamtheitliche Komposition begreifen muss. Durch die rasche Servierfolge hat man das Gefühl, ein sich allmählich zusammensetzendes Gericht schrittweise zu verspeisen. Unsere Erwartungshaltung auf die bevorstehenden Gerichte ist nun jedenfalls enorm.

Der erste Gang unseres Menüs wird schlicht mit den Worten Krabbe, Sanddorn, Salat süß-bitter-sauer, Eis umschrieben. Tatsächlich handelt es sich um eine vielfältige Tellerkomposition, die mit dem Angießen eines Fonds vollendet wird. Das dadurch entstehende Sanddornsüppchen sieht nicht nur betörend schön aus, sondern leitet auch exzellent ins Gericht ein. Die ganze Freude der Botanik bietet dann der Salat. Hier vereint sich hervorragende Produktqualität mit handwerklicher Präzisionsarbeit. Die Gemüseschnitze sind dick genug, um noch Biss zu haben, aber dünn genug, um elegant zu wirken und nicht zu dominieren. Durch die Säure des Sanddorns, die Bitternoten des Salats und eine leichte Süße ergibt sich eine vielschichtige und fein austarierte Komposition. Bravo!

Danach eine Einstimmung auf den bevorstehenden Hummergang, deren Komponenten wir leider nicht mehr zusammenbekommen. Hier bringen vor allem die gefrorenen Taler eine herrliche Erfrischung. Zwischen Gaumen und Zunge schmelzen sie und explodieren förmlich vor aromatischer Wucht. Ein wenig erinnert das an das in Kindertagen selbstgemachte Eis aus gefrorenem Orangensaft - und es macht ähnlich glücklich...

...wie auch der Hummer aus Oosterschelde mit Spargel vom Bauern Dikker, geräuchertem Eigelb, Pflaumen-Risotto und Eisenkraut. Dieses ästhetisch bestechende Gericht steckt voller geschmacklicher Vielfalt und Liebe zum Detail. Die Mischung aus der Fruchtigkeit des Pflaumen-Risottos und der dezenten Räucheraromatik des alle Zutaten vereinenden Eigelbs, aus dem bissfest-saftigen Spargel und der erdenden Frische des Eisenkrauts fügen sich zu einer herausragenden Komposition. Lediglich der etwas fest geratene Hummer lässt uns darüber nachdenken, ob man den überhaupt gebraucht hätte. Wir jedenfalls würden ihm angesichts der Vollkommenheit des übrigen Ganges nicht nachtrauern.

Die Zusammenstellung von Wurzelgemüsen, Rübchen und Radieschen, Erbsen, Roter Bete und diversen Salatblättern besticht durch grandiose Produktqualität und eine schöne Abstufung der Garpunkte. Die knusprigen Polentastücke bringen Textur in den "Salat", der Ziegenjoghurt eine schöne Cremigkeit. Da kommt in der Tat Frühlingsstimmung auf, wenngleich uns das Gericht bei aller Gefälligkeit nicht nachhaltig beeindruckt. Dazu fehlt uns dann doch das gewisse Etwas jenseits der schieren Produktqualität. Abgesehen davon ist die "Eatability" diskussionswürdig: Die Glasschälchen sind nicht komplett eben und rutschen daher beim Essen wackelnd aufeinander herum. Eine Fixierung (Stopper am Boden?) könnte da leicht Abhilfe schaffen.

Umso begeisternder fällt der nächste Gang aus. Der Glattbutt mit geräuchertem Aal, Fenchel, Sellerie, jungem Lauch, Erdnüssen und indonesischem Jus wird in zwei Schalen serviert und reiht sich direkt in die Liste unserer Götterspeisen ein. Auf der einen Seite ist da der herrlich saftige Glattbutt, der prächtig mit den jodigen Noten der Schwertmuschel und der Deftigkeit des Aals harmoniert. Im anderen Schälchen eine salatähnliche Komposition, die sich durch Frische, feine Säure und eine asiatische Schärfe auszeichnet. In Verbindung ergibt sich ein mit jeder Gabel neu und anders wirkendes, unfassbar gut schmeckendes Gericht, das klar von der leichten, hochintensiven Küche Thailands inspiriert ist. Bemerkenswert: Beide Schalen, Edelfisch und Gemüse, stehen nicht nur gleichberechtigt nebeneinander, sondern brauchen einander, um als Gesamtkomposition zu funktionieren.

Als Einstimmung auf den Hauptgang werden Fell- und Lederstücke auf den Tisch drapiert. Das ist vielleicht ein klein wenig zu viel Show, aber das eigentliche Gericht, Holstein-Rind mit Haut und Knochen, ist dafür über fast jeden Zweifel erhaben. Auf dem Hauptteller befindet sich eine Tranche köstlichen Holstein-Rinds, butterzart und aromatisch, wenn auch leider etwas untertemperiert. Trotz dieses kleinen Fauxpas beeindruckt die Komposition durch einen komplexen Aufbau, für den nicht zuletzt mehrere à parts sorgen: ein bemerkenswert kräftig abgeschmecktes Rindertatar mit Roter Bete, ein kleiner Rindereintopf und ein Löffel mit pochiertem Knochenmark. Für zusätzliches Umami sorgen die Parmesanspäne auf dem Hauptteller, die uns allerdings einen Tick zu scharf ausfallen.

Nach dem tollen Hauptgang verstreicht leider einige Zeit, bis uns die Pâtisserie verwöhnen will. Einerseits tut eine Pause gut; fällt sie aber zu lang aus, kann das den Spannungsbogen fatal abfallen lassen.

Glücklicherweise wird die Geduldsprobe mit einem grandiosen Dessert entschädigt. Die klassisch anmutende Kombination von Schokolade und Kirsche wird durch die Einbindung von Rhabarber und Basilikum in eine völlig neue Richtung gelenkt. Während die Schokolade eine angenehm untergeordnete Rolle spielt, zeigen sich vor allem Aromatik und Säure der Früchte und des Gemüses als wesentliche Elemente. Die Nuancen werden von der geeisten Schoko-Kugel bis hin zur "falschen" Kirsche auf mannigfaltige Weise herausgearbeitet. Das ist geschmacklich wie texturell gleichermaßen spannend und köstlich. Hier fehlt einfach nichts - eine wahre Götterspeise.

Nach diesem großartigen Dessert folgt ein weiterer Augenschmaus:

Grüner Apfel, Aloe Vera und Weizengras ist ein zartes, regelrecht feminines Dessert. Die milde Frische der Aloe Vera sowie die für luftige Leichtigkeit sorgende Säure des Apfels lassen jegliche Sättigungsgefühle verfliegen. Für die volle Dessertfreude könnte der Gang allerdings ein wenig mehr Süße vertragen.

Als finales Dessert gibt es Passionsfrucht, Kokos, Avocado und Acai-Beere. Der fruchtig-süß angelegte Teller besticht durch eine konzentrierte Aromatik und abermals ein erfrischendes Säurespiel. Kokosöl gibt dem Dessert das letzte aromatische Finish.

Die Petits Fours werden in einer vom Designer Kama konstruierten Schachtel präsentiert. Das Gesicht besteht aus Augen (Schwarze Sesamkörner, Haselnuss, Limone), Mund (Rose, Lychee und Vanille) und Nase (Veilchen, Beerenfrüchte). Hier erleben wir das erste betont spielerische Element dieses Menüs. Die Ära der spielerisch-manieristische Elemente, die Hermans Menüs in den vergangenen Jahren prägten - man denke an die Legosteine, die Mondlandschaften oder die Rosenkränze -, scheint passé. Die puddingartigen Gags zum Abschluss unseres Menüs wirken wie eine letzte Reminiszenz, und wir haben an ihnen eher visuelle Freude, denn geschmacklich fällt das "Gesicht" eher banal aus.

Beim Petits-Fours-Trio von Zunge (bitter, süß, sauer, salzig), Mund (Schokolade und Passionsfrucht) und Ohr (Ananas, Joghurt, Tonka, Kaffirlimette) spielt Herman vor allem mit der Hemmschwelle, die cremig-weichen und ohne Besteck servierten Süßigkeiten mit der bloßen Zunge abzuschlecken. Der skurrile Stilbruch, im Gourmetrestaurant an einem Porzellanohr zu lutschen, hat durchaus seinen Reiz. Insgesamt gefällt uns das aber eher als provokante Idee denn als kulinarische Offenbarung.

Insgesamt erlebten wir im Oud Sluis fünf glänzende Stunden. Die nahezu perfekte Kulinarik versetzte uns in eine Art Dauereuphorie. Hermans Küche besticht nicht nur durch eine unschlagbare Produktqualität und eine originelle Präsentation, jeder Gang zeichnet sich zudem durch bemerkenswerte Detailverliebtheit und handwerkliche Präzision aus, ohne dass es nach Strebertellern aussieht - vom wunderbaren Wohlgeschmack ganz abgesehen.

Dieses Dauerhoch in Verbindung mit der treibenden Musik lässt einen Besuch im Oud Sluis wie einen Ectasy-Rausch in der Disco erscheinen. Allein die zwei längeren Warteeinheiten während des Menüs empfanden wir als etwas auslaugend.

Mit Lotte Wolf (ohne Foto) hat das Oud Sluis eine fantastische Sommelière, die uns zu den komplexen Kompositionen Hermans stets treffende Weine einschenkte. Sie versteht es, dem Gast auf charmante Weise sowohl die Geschichte hinter dem Wein als auch seine Stimmigkeit zum Gericht zu erläutern. Ihre Auswahl war auf unforcierte Weise originell. Dem steht der Service unter Leitung von Sergio Hermans Bruder Michel in nichts nach.

Fazit

Clubähnliche Atmosphäre, jugendliche Lässigkeit und großmeisterliche Perfektion. Bei Sergio Herman erlebten wir einen Lunch der Superlative. Selten waren Gerichte näher an der Perfektion und das Ambiente ungezwungener. Wir sind schon jetzt gespannt, was uns Maestro Herman in der Zukunft bringen wird.

Wein

Weine im Restaurant von Sergio Herman in den Niederlanden

NV Champagne Dehours Réserve "Sergio Herman", Frankreich

2012 Sake AFS, Kidoizumi, Japan

2008, Benito Santos, Albarino, Rias Baixas, Spanien

2011 Gayda, Figure Libre Cuvee Sergio Herman, Languedoc, Frankreich

2011 Cincerino, Marziano Abbona, Langhé, Italien

2008 Amayna, Chardonnay, Chile

2008 Ataraxia, Serenity, Südafrika

2010 Tommasi, Recioto della Valpolicella, Venetien, Italien

2007 Rabl, Grüner Veltliner, Vinum Optimum, Kamptal, Österreich

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