Restaurantkritik  1.August 2023

Tim Raue – Crossover in Kreuzberg

Das Berliner Stammhaus von Tim Raue gehört zu den bekanntesten Restaurants in Deutschland. So ehrenvoll zwei Michelin-Sterne sind, dürfte diese Prominenz vor allem der medialen Präsenz des Patrons zu verdanken sein, auf internationaler Ebene der kontinuierlichen Platzierung auf der »World's 50 Best«-Liste. Zweifellos hat es geholfen, die Stadt zu einem Gastro-Hotspot zu machen. Eine Pflichtadresse, sozusagen. Deshalb eine Offenbarung gleich vorab: ich selbst bin noch nie in der Rudi-Dutschke-Straße eingekehrt, als einziger aus dem Sternefresser-Team, und als wahrscheinlich einziger Essensbegeisterter in ganz Deutschland. Am heutigen Freitagmittag wird diese blamable Lücke geschlossen. Der Vorteil: gänzlich »unschuldige« Eindrücke, frei von Vergleichen und Verklärungen. Ein bisschen Skepsis schwingt allerdings mit, angesichts eines Ur-Berliners, der »asiatisch« kocht.
Aber die Ankunft kommt schonmal gut. Der Hinterhof-Eingang strahlt jene coole Urbanität aus, die nicht nur deutschen Spitzenrestaurants so oft fehlt. Zugleich macht ein Stück der original »Mauer« deutlich, wo wir uns hier befinden (ob jeder Gast diese Anspielung begreift, steht auf einem anderen Blatt).

Drinnen setzt sich der positive Eindruck fort, mit einer ungewohnten Farbpalette zwischen Preußischblau, holzbraun und weiß, und einem Style, der auf seltsame Weise zwischen Retro und Modernismus oszilliert. An den Wänden großformatige modern art und an der Servicecrew modisch gepimpte Anzüge (ebenfalls in blau). Die Stimmung ist lebhaft, das Publikum bunt gemischt, alles angenehm unprätentiös. Das Restaurant wird sich bis zum letzten Platz füllen, am sympathischen Nachbartisch wird bereits die zweite Flasche Krug geöffnet, auch das ohne viel Aufhebens.

Beim Essen gibt es diverse Menü-Optionen. Nach kurzem Abwägen entscheiden wir uns für das Mittagsmenü mit jeweils fünf unterschiedlichen Gängen (148 €), inklusive der – für mich besonders wichtig – bekanntesten Klassiker des Hauses. Beim Wein gehen wir flaschenweise vor und starten mit einem Puligny Montrachet der Domaine Jomain (1er Cru »Les Pucelles« 2020).

Zum Aperitif (Champagner »Cuvée Marie-Anne« Sauvage) werden die Amuses aufgetischt, ein oft fotografierter Reigen an kleinen Schalen und Tellern, den man wiedererkennt, ohne je zuvor hier gewesen zu sein. Ein paar Blätter zartbitterer Wintersalat erhalten durch Granatapfeldressing komplimentierende Süße und durch Sumach kurzweilige Würze; dünn aufgeschnittener Sichuan-Schweinebauch gefällt durch zarten Biss, sattes Umami und maßvolle Schärfe. Würzig karamellisierte Cashewkerne bieten soliden Knabberspaß, während geräucherte Saiblingsleber mit Saiblingslebercreme und Basilikum ein originelles Produkt auf originelle Weise zwischen »dunklen« und »hellen« Aromen inszeniert.

Beim Purple-Curry-Marshmallow mit Kokoscreme spielt die Küche gekonnt mit fruchtiger Schärfe und nussiger Süße, während ein gerollter Streifen Hokkaido-Kürbis mit Orangenessig und Muskatblüte zu sehr Richtung Süße tendiert. Eine Marinade aus Reisessig und Holunderblütensirup verleiht dünn gehobelter, saftiger Chayote eine Menge Geschmack, der diesem Kürbisgewächs von Natur aus gänzlich fehlt.

Gemein ist sämtlichen Petitessen eine souveräne Schlichtheit und die Verfeinerung scheinbar profaner Produkte. Das zweifellose Highlight verbirgt sich derweil in einem unscheinbaren Becher: ein heißer Krustentiersud mit Süßkartoffel und Butter zeugt von exzellentem Handwerk und begeistert mit vollmundig-vielschichtigen Aromen. Diese Köstlichkeit dürfte gerne auch als größere Portion zu haben sein.

Der erste Gang des Menüs besteht aus einer Scheibe Gänseleberterrine, die durch eine Marmorierung mit Matcha-Pulver eine ansprechende Optik und eine ungewohnte japanische Note bekommt. Die Terrine ist ideal temperiert – schnittfest, aber trotzdem cremig – und wird auch sonst gänzlich anders eingefasst, als man es üblicherweise kennt: Hauchdünn knuspernde Nori-Röllchen und die elegante Schärfe frischer Wasabipaste verschieben das Geschmacksbild weiter Richtung Japan, angetrocknete Trauben und ein nicht zu süßes Traubengelee steuern mit sanfter Fruchtigkeit gegen – sehr stark, das alles. Der Clou sind einige Blätter Jiaogulan, ein süßlich-herbes Kraut aus Südchina, das eine schöne Frische einbringt. Man kann darüber streiten, ob Gänseleber noch zeitgemäß ist, doch so originell wie hier wird sie selten inszeniert.

Leiser kommt eine Kreation aus Kohlrabi, Erbse und grünem Meerrettich daher. Dünne Scheiben süß-sauer marinierter Kohlrabi bedecken ein Ensemble aus Erbsen, Erbsencreme und Sauerrahm, duftiger peruanischer Minze und feinherbem Schnittlauchöl. Jede Gabel schmeckt anders, changiert zwischen würziger Frischer und cremiger Süße; über allem liegt – bildlich und geschmacklich – die schmeichelnde Süßsäuerlichkeit des marinierten Kohlrabis. Das entscheidende Aperçu bilden Eisperlen aus grünem Meerrettich, die kühlend den Gaumen kitzeln und die coole Frische des Gerichts um ganz leichte Schärfe ergänzen. Die schlüssige Schlichtheit dieser Komposition ist beeindruckend.

Wohltuend reduziert nimmt sich auch der nächste Gang aus, bei dem gedämpfter Seehecht von einer aufgeschäumten Miso-Beurre Blanc umspielt wird. Exzellenter Fisch, vollmundige Sauce und dezent fruchtige Noten von Mandarine (Zesten und Gelee) erfüllen bereits sämtliche Anforderungen an ein genussvolles Gericht. Hinzu kommen ein paar Tupfer Selleriepüree mit Habanero, Kurkuma-Rübchen und kleine Scheiben gekochter Ingwer als wirkungsvoll pikante Begleiter. Nicht aufdringlich, aber präsent. Von der überbordenden Würze und Schärfe, die Tim Raues Küche oft nachgesagt wird, zeigt sich bislang nichts.

Mit dem Wasabi-Kaisergranat folgt der wohl bekannteste Klassiker Tim Raues. Meine skeptische Gespanntheit weicht nach dem ersten Bissen der Erkenntnis, dass das im Wok gegarte, anschließend mit Wasabi-Mayonnaise und Reisflakes »panierte« Krustentier den Status eines signature dish zu recht trägt: Knusprig und saftig, heiß und würzig, mit perfekt dosierter Wasabi-Schärfe, deren Gaumenkitzeln sofort nach dem nächsten Bissen verlangt.
Das imposante Krustentier-Konstrukt ruht auf einer Sauce mit Nuoc Mam (Fischsauce), Mango und Karotte, die einerseits als eine Art Katalysator die Papillen flutet, in ihrer süßlichen Wuchtigkeit aber auch dominant wirken könnte. Umso erstaunlicher ist, dass der Kaisergranat nicht untergeht – wahrscheinlich kann die Kreation nur mit einem Krustentier bester Güte so glänzend funktionieren. »Subtil« ist dieses Gericht sicher nicht. Aber wen interessiert das, wenn es so gut schmeckt?

In eine verwandte Richtung geht es, mit weniger Erfolg, bei Dim Sum »Ente À L'Orange«. Drei Teigtaschen im Xiaolongbao-Stil sind mit Five-Spices-Hackfleisch von der Pekingentenkeule gefüllt; auf jeder Tasche findet sich ein Salat von Kürbis, Kumquat und Kalamansi. Die Saucen teilen sich in einen cremigen Schaum von Entenbrühe mit Steinpilzpulver sowie einen Enten-Orangen-Sud; dazwischen noch Pepperoni-Chili-Öl. Im ersten Moment lullt einen das Zusammenspiel von Nudelteig, Hackfleisch und üppigen Saucen wohlig ein, aber schon beim zweiten Bissen wirkt die kompakte Fleichfüllung zu schwer, die Orange zu süß, die Saucen zu massig. Schade.

Wesentlich besser funktioniert das parallel servierte Spanferkel-Eisbein, auch dies ein Klassiker, nach einem Rezept von Tim Raues Großmutter Gerda. Das prächtige Stück wird vom Service tableside zerteilt und angerichtet. Beim Zuschauen erahnt man bereits die Zartheit unter der verführerisch krachenden Schwarte. Der erste Bissen bringt die Bestätigung: das Fleisch ist so saftig-zart, dass man es fast weglutschen kann. Ein Dashi-Gelee unterstützt die Umami-Intensität, eine Creme von japanischem Senf sowie gesalzener und gesäuerter Ingwer halten mit schärfender Frische dagegen. Ein Hochgenuss.
In China und anderen Teilen Asiens ist es nicht unüblich, derart rustikalen Gerichten einen festen Platz in der avancierten Küche einzuräumen, denn gerade in ihnen zeigt sich hohe Handwerkskunst. In einem deutschen Spitzenrestaurant gehört Mut dazu. Der satte Wohlgeschmack gibt Tim Raue recht. 

Inzwischen ist auch der zweite Wein in der Karaffe, ein 2020er Jurancon Sec »La Virada« der Domaine Camin Larredya, als Empfehlung des Sommeliers.

Weiter zu den nominellen Hauptgängen. Die Ente »Marie-Anne«, besteht aus drei Teilen. Auf dem Hauptteller finden sich zwei Scheiben knuspriger Entenbrust, flankiert von einem Stück saftig-weichem Lauch mit Apfelkompott, sowie fülliger Creme von Five Spices-Pfannkuchen. Das Fleisch dürfte für unser Empfinden ein bisschen röter sein, aber das wird von einem verführerisch glänzenden und geheimnisvoll schmeckenden Jus ausgeglichen, der durch die Verarbeitung der gelatinösen Entenfüße eine samtige Viskosität bekommt.

Auf einem separaten Teller gibt es cremige Terrine von der Entenleber, die mit gezupftem Entenfleisch und Kopfsalat zu einer Art Türmchen angerichtet ist. Vor allem der saftige Salat sowie etwas Gurke und Ingwer erweisen sich als clevere Bestandteile, weil sie der Komposition eine sommerliche Leichtigkeit verleihen. Die Schau stiehlt jedoch ein unheimlich klar schmeckender Entenfond mit opulenter Einlage aus Chawanmushi, deftigem Entenklein, Wintermelone und zarten Bambuspilzen. Aus dieser Vielfalt von Geschmäckern, Texturen und Gewürzen entwickelt sich eine süffige Komplexität, die man nur als meisterhaft bezeichnen kann.

Der zweite Hauptgang thematisiert Wagyu-Rind. Auf dem Hauptteller findet sich eine geschmorte Wagyu-Backe, so zart, dass man sich das Messer sparen kann; kleine Reisflakes sorgen für neckische Knusprigkeit, ein Jus auf Basis der koreanischen Gewürzpaste Gochujang steuert kitzelnde Schärfe bei. Paprikagemüse sowie Paprikaöl mit grünem Sichuanpfeffer verstärken die wärmende Süffigkeit dieses Tellers. Nur der Eigengeschmack des Wagyu tritt dabei ziemlich in den Hintergrund.

Auf einem separaten Teller findet sich eine dünne Scheibe roh mariniertes und gebeiztes Wagyu-Bürgermeisterstück, garniert mit Sauerrahm und geschmorter Grüner Paprika. Hier kommt der Geschmack des dicht marmorierten Fleischs vorzüglich zur Geltung. Das Highlight bildet, ähnlich wie bei der Ente, die flüssige Darreichungsform, nämlich ein pikanter Beeftea mit einer Einlage aus buttrigem Shortrib, eingelegter Grüner Paprika und Weisskohl; ein Hauch Kreuzkümmel und etwas Orangenöl lenken das Aroma in eine ätherisch-orientalische Richtung.
Im Direktvergleich gefällt uns der Enten-Hauptgang besser, aber sehr gut ist das hier immer noch.

Das erste Dessert stellt mit Kiwi eine Frucht in den Mittelpunkt, die man in der Spitzengastronomie selten antrifft. Raue präsentiert sie als frische, perfekt gereifte Frucht und als cremiges, fruchtig-scharfes Sorbet mit grünem Thai-Pfeffer und Jalapeño – eine großartige Idee. Gleichberechtigte Mitspieler sind eine intensive Kokoscreme, gefrorene Kokos-Meringue und luftige Mini-Baisers von der Kokosnuss. Ein Sud aus Shisokresse und Kokosessig setzt Akzente zwischen Süße, Säure und Kräuterwürze. Diese Kreation besteht aus lediglich drei Grundzutaten, die so originell und stimmig verarbeitet sind, das alles da ist, was man sich von einem Dessert wünscht. Stark.

Etwas wilder wirkt das zweite Dessert, welches thailändische Nam Dok-Mango, Limette und Reis kombiniert. Schmale Streifen der typisch buttrigen Mango sind mit Mango-Cremeux und Mango-Gel angerichtet, dazu gibt es Kaffirlimetten-Sorbet und einen feinherb-frischen Sud aus Kopfsalat und Gurke. Gerösteter Reis dient als Grundlage für eine samtige Creme, Chips und exzellentes Eis; zusammen mit einigen Mauerpfeffer-Blättchen in Vanille-Zitronengras-Öl (für die Raue-typische Kombi aus Fruchtigkeit und Schärfe) könnte diese Reis-Variation fast ein eigenes Dessert darstellen. Hier nun fügen sich die vielfältigen Komponenten zu einem »südostasiatisch« anmutenden Dessert, das auf spielerische Weise fast alle Geschmacksrichtungen vereint, von Süße und Säure bis zu Bitterkeit und Schärfe. Erneut hervorragend.

Für die Petits fours ist nach diesem Menü, das auch in fünf Gängen ziemlich sättigend wirkt, leider kann Platz mehr, beim besten Willen.

Inzwischen ist es kurz vor sechzehn Uhr und das Restaurant fast leer. Die Ruhe nach dem Sturm. Auch unsere Papillen müssen sich erst wieder etwas beruhigen, denn so zurückhaltend die Eröffnung des Menüs war, steigerte sich die Intensität mit jedem Gericht. Tim Raues kulinarische Alles-oder-nichts-Mentalität mag nicht jedermanns Sache sein, aber zweifellos hat er sich eine ganz eigene Nische geschaffen. Nur wenige deutsche Küchen haben einen vergleichbaren Wiederkennungseffekt.

So oder so, hat das meiste einfach verdammt gut geschmeckt, gerade auch beim ersten Mal. Raue findet Inspiration in verschiedenen Länderküchen zwischen China und Japan, zwischen Umami, Süße, Säure und Schärfe, und das »voll auf die Zwölf« einiger Kreationen kann wahrscheinlich nur im Kontext eines solchen Asia-Crossover funktionieren (manchmal funktioniert es auch nicht, siehe die Dim Sum). Die besten Gerichte hatten Kraft, büßten dadurch aber nicht an Finesse ein. Irgendwie passt dieser Mix auch zu Berlin, wo man sich gerne besonders global und ein bisschen extremer gibt . So wie heute hier. Tim Raue kocht »asiatisch« und ist doch quintessenziell »Berlin«. Paradox klingt das nur, bis man zum ersten Mal hier war.

Kai Mihm

WEIN

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