Restaurantkritik 27.September 2023

Memories – Erinnerungen, aufgefrischt

Als wir im Pandemiesommer 2020 in den Schweizer Kurort Bad Ragaz reisten, um das ›Memories‹ zu besuchen, handelte es sich um eine Stippvisite. Das war bedauerlich, denn das Grand Resort Bad Ragaz beherbergt neben Sven Wassmers inzwischen dreifach besterntem ›Memories‹ auch das Zwei-Sterne-Restaurant ›Igniv‹ und das mit einem Stern Stern ausgezeichnete ›Verve by Sven‹. Eine solche gastronomische Fülle kennt man sonst eigentlich nur aus Luxushotels in Hongkong und Singapur.

Hier in Bad Ragaz muss man das weitläufige Areal des Grand Resort im Grunde gar nicht verlassen, um ein kulinarisches Wochenende auf höchstem Niveau zu verbringen. So ähnlich haben wir das diesmal vor. Die Reise ist ein kleiner Sommerausflug, kurz nach Ferienbeginn im August.

Die Nachmittage verdösen wir am Gartenpool, mit angenehm temperiertem Wasser, herrlichem Ausblick und dem einen oder anderen Glas Wein. Es ist wenig los, und die entspannende, leicht nostalgische Atmosphäre hier draußen hatte mich bereits vor drei Jahren bezaubert. Am ersten Abend besuchen wir das malerisch gelegene Weinrestaurant ›Alter Torkel‹ im Nachbarort Jenins (Bericht hier), am zweiten Abend das ›Igniv‹ (Bericht hier).

Für den letzten Abend haben wir uns das Memories aufgehoben, aus dramaturgischen Gründen erschien mir das sinnvoll. Bei unserem ersten Besuch vor genau drei Jahren führte Sven Wassmers Restaurant noch zwei Sterne. Trotz mancher Kritikpunkte sahen wir die Höchstwertung des Guide Michelin in Reichweite; eigentlich sahen wir diese Auszeichnung bereits bei Wassmers vorheriger Wirkungsstätte kommen, dem ›Silver‹ in Vals. Einmal mehr zeigt sich hier, dass Sterne nominell zwar an Restaurants vergeben werden, de facto aber dem Küchenchef gelten (weshalb auch gegen den umgangssprachlichen Begriff »Sternekoch« höchstens in bürokratischer Kleinlichkeit etwas einzuwenden ist).

Als wir um kurz nach sieben im ›Memories‹ eintreffen, sind wir die ersten Gäste. Das Interieur strahlt noch immer eine geradezu herrschaftliche Eleganz aus. Marmor, Stuckdecken, edle Hölzer, weiß eingedeckte Tische und eine komplett offene Küche, in der eine Köcheschar konzentriert und leise arbeitet: alles hier atmet den Geist luxuriösen Fine Dinings. Ein betonter Verzicht auf jeglichen Dresscode und der entspannte Service lockern das Ganze etwas auf, trotzdem bleibt die Atmosphäre vergleichsweise formell.

Wir wissen natürlich, dass Wassmers Küche, die weitestgehend mit Schweizer Produkten arbeitet, »klassische« Erwartungen durchaus unterläuft. Genau darauf freuen wir uns. Es gibt nach wie vor ein Menü in sieben bis elf Gängen, dessen Preisgefüge – 279-379 CHF – mittlerweile auch in deutschen Drei-Sterne-Restaurants kaum mehr ungewöhnlich ist. Mit dem sehr angenehmen Sommelier, Sebastian Stichter, besprechen wir kurz die Wein-Optionen – das Pairing verspricht viel Schweiz und Frankreich, eine ansprechende Mischung, bitte gerne.

Zum Aperitif (Louis Roederer »Cristal« 2007) werden einige Snacks aufgetischt: Eine Art »Blüte« aus dünnen Scheiben marinierter Gelbe Bete mit Meerrettich und Apfel changiert angenehm zwischen Säure, eleganter Süße und hintergründiger Schärfe. Ob ein Stück Gurke mit Dill und Kapuzinerkresse irgendeiner besonderen Behandlung unterzogen wurde, lässt sich nicht ausmachen – der Happen schmeckt nach, nun ja, Gurke; die Kräuter halten sich diskret im Hintergrund. 

Interessanter schmeckt eine Yuba-Tartelette mit Amazake und Lorbeerpulver: filigranes Handwerk, seidige Leichtigkeit und delikat-nussiger Geschmack kommen hier aufs Harmonischste zusammen. Das Highlight bildet eine Tartelette mit Eierschwämmli (Pfifferlinge). Der Boden ist hier merkbar dicker gehalten, wodurch das Getreidige des Teigs deutlicher zur Geltung kommt; das dürfte beabsichtigt sein, denn es passt bestens zur Nussigkeit der roh belassenen Pilze. Zitronenthymian, Blüten und Kräuterblättchen frischen das »erdige« Geschmacksbild auf. Ein exzellenter Abschluss für einen in Summe eher verhaltenen Auftakt.

Eine erhebliche Steigerung bringt – nach dem Servieren von exzellentem Sauerteigbrot und ebensolcher Butter – der erste Gang: Auf einer Creme aus Meerrettich der Schweizer Manufaktur »Schlossere« ruht eine Nocke Oona-Alpenkaviar, cremig, feinwürzig und nur leicht salzig – Meerrettich und Kaviar, darauf muss man erstmal kommen, eine traumhafte Kombination. Außerdem ist da ein Relish aus feinsten Gurkenwürfeln, gewürzt mit Senfkörnern, was in einem neckischen Texturspiel aus körnigem Kaviar, knackigen Gurken und ploppender Senfsaat resultiert. Die seidige Creme hält alles zusammen, verleiht Fülle und Schmelz.
So gut diese kleine Kreation ist, lässt sie nicht den Durchmarsch erahnen, der uns bei den folgenden Gängen erwartet …

Der Höhenflug beginnt mit einem Klassiker Sven Wassmers: Saibling mit gebranntem Sennenrahm und Tannenöl. Das Filet wurde über Tanne und Heu sanft gegart, am Tisch löffelt Wassmer die sämige, nach Wald und Unterholz duftende Sauce darüber. Das sieht nach nicht viel aus – und schmeckt absolut spektakulär. Der Fisch aus dem Val Lumnezia ist buttrig, aber nicht »weich«, sondern mit leicht elastischem Widerstand und tiefem Geschmack. Es sind solche Details in Struktur und Aromatik, die Weltklasse von einer »nur« hervorragenden Qualität unterscheiden. Und dann die Sauce … diese Sauce … üppig, aber nicht mastig, leicht süß und doch herb, nach Tanne und Karamell duftend, aber nicht parfümiert.
Die Reste dieses Elixiers werden mit einem Stück Sauerteigbrot …

... vollständig vom Teller geputzt. Warum wir hier nicht schon letztes Mal eine Götterspeise ausgerufen haben ist mir ein Rätsel.

Und es geht direkt weiter. Dünn plattierte Quader vom Schweineschwanz hat man mit Spitzkohl zu drei kleinen »Türmchen« geschichtet. Das ungewöhnliche und unerhört aromatische Fleisch besteht aus einer krossen und einer kernig-zarten Schicht, zusammen mit dem zarten Kohl ergibt sich das Geschmacksbild eines sensibel in die Spitzenküche überführten Schweinebratens mit Kraut. Verschiedene Kräuter und eine dunkle Creme aus fermentiertem Apfel verleihen dem rustikalen Grundcharakter das entscheidende Quäntchen Finesse. Ein dicht reduzierter Senfkorn-Jus steuert appetitliche Säure bei. Das Gericht hat vielleicht nicht die Weltklasse des Saiblings, doch wir sprechen hier von Kategorien ganz weit oben.

Und überhaupt: die Kategorie »Weltklasse« wird bei der Regenbogenforelle »Müllerin Art« wieder spielend erreicht. Zwei Scheiben vom Filet des Fischs umschließen eine leichte Bärlauchcreme – dieses meist furchtbar vulgär schmeckende Kraut erfährt hier eine ungeahnte Verfeinerung. Am Tisch löffelt der Service eine großzügige Menge Heumandel-Miso-Hollandaise über den Fisch. Die erste Gabel dieses Ensembles macht mich sprachlos. Vor Glück. Da ist die Würze vom Fisch und das Umami von der samtigen, heißen Sauce, deren minimale Süße von der Barläuchreme und säuerlichen Bärlauchkapern ausbalanciert wird.

Als überraschender Clou erweisen sich kleine Mandelstücke, die ein weiteres Fenster aufmachen, hin zu kross und röstig. Alles greift hier mit süffiger Präzision ineinander. Nichts ist trivial, sondern jedes Detail vollkommen Durchdacht. Götterspeise Nummer zwei.

Soviel vorab: Dieses Niveau wird nicht verlassen. Den ganzen Abend über konnten wir beobachten, wie in der Küche Knöpfle aus einem Kühlfach geholt, in einer buttrigen Masse heißgeschwenkt und anschließend mit Trüffelpüree und frischem Trüffel garniert werden – ein faszinierend akribisches Schauspiel (Verächter von Quetschflaschen und Pinzetten schauen besser weg).

Der fertige Teller sieht trotz der Anrichte-Akribie recht unspektakulär aus – doch geschmacklich könnte dieses Adjektiv nicht falscher sein. Unter einem duftenden Trüffelberg verbergen sich »Chnöpfli«, geschwenkt in gerösteter Hefebutter und »Käsewasser« – ein, wie ich später in Wassmers Kochbuch lese, aufwändig produziertes Extrakt aus gereiftem Gruyère und Sbrinz. Dazwischen Tupfer von Trüffelpüree.

Diese Kombination aus zarten Eiernudeln, kräftigem Käse und duftigem Trüffel schmeckt exakt so gaumenschmeichelnd, wie es sich liest. Halt, nein, es schmeckt sogar noch besser, denn als entscheidende Komponente erweist sich Kümmel – ja, Kümmel, dessen knackender Biss und duftiger Geschmack das Gericht nochmals weiter »öffnet«. Ein rundum fantastischer Gang. Nur vielleicht ein bisschen zu klein portioniert – tatsächlich würden die Knöpfle sich bestens für einen Nachschlag direkt aus der Pfanne eignen. Mit anderen Worten: Götterspeise Nummer drei.

Prinzipiell folgt der nächste Gang dem süffigen Prinzip der bisherigen Gerichte. Ein Bruststück vom Schwarzfußhuhn ist auf flaumigem Kartoffelpüree à la Joël Robuchon angerichtet. Fermentierte Pilze (Umami!) und eine gekräuterte Sauce mit gepalten Erbsen sollen das Ganze noch schmackiger machen. Theoretisch stimmt hier alles. Praktisch fällt das Huhn einen Tick zu trocken und geschmacklich etwas blass aus; sicher nicht schlecht, doch die Referenzqualität aus der ›Villa Madie‹ bleibt ein ferner Gedanke. Auch einem Hühnerhaut-Chip fehlt die erwartete Verdichtung würzig-gerösteten Hühnergeschmacks, und das wunderbare Kartoffelpüree käme freigestellt besser zur Geltung. Das ist alles immer noch sehr gut, aber wir kommen halt aus »göttlichen« Sphären.

Beim Hauptgang zieht das Level wieder an. Ein trockengereiftes Filet von »alter Mutterkuh« wurde auf Holzkohle langsam zu dunkelroter Perfektion gegrillt. Serviert wird das qualitativ herausragende Fleisch lediglich mit einem seidig glänzenden Jus und einer »Yummy Paste« genannten Creme – ein mundwässerndes Umami-Konzentrat aus fermentiertem Wurzelgemüse, Hefe und Jus.

Trotz dieser geballten Umami-Verdichtung wird es nie zu viel, bleibt der Teller fein und elegant. Ähnlich gut hatten wir dieses Gericht bereits letztes Mal (und sehr ähnlich schon damals im ›Silver‹). Hier nun ist das Fleisch mit einer Mischung aus Hanfsamen, Blaumohn, getrocknetem Cassis, Salzzitrone, Sanddornkosho und Gundermann bestreut – herzhaft, fruchtig, feinsäuerlich. »Alpines Togarashi« nennt Wassmer diese Mischung, in Anspielung auf eine klassische japanische Gewürzmischung. Es sind solche kleinen Variationen und Optimierungen, die jedesmal verblüffen.

Auch beim nächste Gang handelt es sich um ein Signaturgericht: am Tisch wird eine Kugel Sorbet mit fassgereiftem Negroni aufgefüllt. Wir kennen diese Erfrischung aus dem ›Silver‹, dort mit Grapefruitsorbet, und aus dem ›Memories‹, zuletzt mit Johannisbeersorbet. Beides war hervorragend, doch beides war nicht so exzellent wie die aktuelle Variante mit einer Kugel Himbeersorbet, dessen schmeichelnde Süße und samtige Cremigkeit die elegant-alkoholischen Bitternoten des Cocktails auffängt. Besser geht das nicht.

Bei den Desserts sind wir besonders gespannt, denn erst kurz vor der Reise erfuhr ich zufällig, dass der exzellente Pâtissier Andy Vorbusch das Haus letzten Herbst verlassen hat.

Seine Nachfolgerin heißt Rhea Heeb und präsentiert heute eine Kombination aus Rhabarber, Erdbeere und weißer Schokolade. Diese vertraute Dreierkombination gefällt durch souveränes Handwerk und einnehmende Süffigkeit: Süße, Säure, Cremigkeit – alles da. Zugleich erhält die Kreation durch kleine Abweichungen eine gewisse Finesse: Rhabarber, der nicht nur als Eis, Granita und eingelegt im Spiel ist, sondern auch roh; weiße Schokolade nicht nur als Mousse, sondern auch karamellisiert; Erdbeeren getrocknet und eingelegt – wenngleich uns hier ein paar naturbelassene Früchte fehlen, die das Ganze rund(er) gemacht hätten. In Summe schmeckt das nicht »aufregend«, aber für das, was es ist, sehr gut.

Beim zweiten Dessert wird ein ätherischer Arvennadeln-Schaum von »Bienenbrot« (Waben) und Stücken eingelegter Schwarzkieferzapfen getoppt, süß und »harzig«. Unter dem Schaum findet sich ein hervorragendes Gerstenkoji-Milcheis und ein Müsli aus Hafer, Mandeln, Gerste und Buchweizen. Im ersten Moment schmeckt das ungewöhnlich und reizvoll, mit Umami-Touch in süßem Kontext. Allerdings ist irgendeine Komponente so hart und zäh, dass wir um unsere Plomben fürchten (wir vermuten die Kiefernzapfen). Durch das Müsli bekommt die Mischung auch sehr schnell etwas von »gesundem Frühstück«, wo eigentlich ein sündhaft verführerischer Abschluss gefragt wäre.

Das Petit Four versöhnt mich wieder: Ein Stückchen exzellenter Tarte von 74%iger »Arriba Nacional« Schokolade mit Sanddorn – man glaubt es kaum, aber diese Miniatur aus Mürbeteig und zweierlei Ganache brennt sich ins Gedächtnis ein. Wozu eine Armada an Petitessen, wenn ein einzelnes Petit Four einen solchen Eindruck hinterlässt? Zu Schokolade und Sanddorn passt dann auch ein Glas des fassgreiften Negroni als Absacker ganz ausgezeichnet.

Wenn man mit Sven Wassmers Küche vertraut ist, war das Level des heutigen Menüs natürlich erwartbar. Das sagt sich so lapidar. Ein paar Gerichte kannte ich bereits, trotzdem bleibt der Eindruck, dass Wassmer seinen Stil nochmals verfeinert hat, dass er noch klüger reduziert, noch kompromissloser nach dem Wesentlichen sucht – und es oft genug auch findet. Die im Menü beiläufig auftauchenden Verweise auf Japan stehen letztlich für seine gesamte Herangehensweise – auch in Sachen Regionalität, denn so gerne man diese Philosophie der Neuen Nordischen Küche zuschreibt, wird sie in Japan seit jeher mit größer Selbstverständlichkeit kultiviert. 

Die schlichte Präsentation mag über die handwerkliche Komplexität der Speisen hinwegtäuschen, das geschmackliche Erlebnis wirkt dadurch umso betörender. In den Genuss von drei Götterspeisen kommen selbst wir nur äußerst selten. Simplizität ist nicht simpel, und das Tolle an Wassmers Gerichten ist, dass sie bei aller filigranen Reduziertheit so voll und rund schmecken. Er wolle mit seinen Gerichten Erinnerungen wecken, sagt Wassmer. Dabei sind es seine besten Gerichte, die man nie mehr vergisst.

Kai Mihm

Wein

-Mareuil-sur-Ay, Philipponnat, Champagne, 2014
-Chardonnay, Christian Hermann, Flasch, Schweiz, 2021
-Cidre «Engishofer», Mosterei Oswald+Ruch, Neuenkirch, Schweiz, 2020
-Meursault Les Vireuils, Pascal Clément, Burgund, 2019
-Pinot Noir «Clos Martha», Möhr-Niggli, Maienfeld, Schweiz, 2018
-Moulin à Vent «Pinot Meunier», Geoffroy, Coteaux Champenois, 2018
-Château Durfort-Vivens, Margaux, Bordeaux, 2009
-Riesling Spätlese Hallgartener Jungfer, Weingut Prinz, Rheingau, 2015
-Pinot Gris «Föhnbeerenauslese», Martin Donatsch, Malans, Schweiz, 2020

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