Restaurantkritik  3.Oktober 2023

Igniv – kulinarische Nestwärme

Am zweiten Abend in Bad Ragaz steht das Igniv auf dem Programm (IGNIV in der Eigenschreibweise). Es gehört zur gleichnamigen Restaurantkette des umtriebigen Schweizer Kochs und Gastronomen Andreas Caminada, mit weiteren Outlets in Zürich, Bangkok und demnächst auch Andermatt (St. Moritz wurde jüngst geschlossen). Ich kenne zwar Caminadas dreifach besterntes Hauptrestaurant, habe aber bislang in keiner der ›Igniv‹-Dependancen gegessen (Thierry und Christian waren zuletzt in Zürich). Bekannt ist mir, dass das Konzept aus einem festen Menü mit kleinen Gerichten zum Teilen besteht.

Hier im »Grand Resort Bad Ragaz« befindet sich das ›Igniv‹ in einem Nebengebäude, etwas versteckt hinter einer gediegenen Zigarrenlounge. Der unscheinbare Eingang ist kaum markiert, fast ein bisschen Speakeasy-Feeling.

Das passt zum Gastraum, der überraschend klein ist, mit Gewölbedecke, Kamin, gedämpftem Licht und gepolsterten Sitzbänken. Die elegant-behagliche Wohnzimmeratmosphäre passt zum Restaurantnamen, der aus dem Rätoromanischen kommt und so viel wie »Nest« bedeutet. Die Küche, so ergibt eine kurze Recherche im Vorfeld, übernahm im Juni '22 der damals 28-jährige Joël Ellenberger, der zuvor als Souschef in Caminadas Hauptrestaurant fungierte. Eine ziemlich stramme Laufbahn.

Bei unserer Ankunft um viertel nach sieben ist wenig los, doch das wird sich bald ändern (das Foto entstand am Ende des Abends). So ruhig es im Hotel derzeit noch ist, sind die Restaurants offensichtlich bestens besucht. Das feste Menü (178 CHF), erläutert der angenehm lockere Service, besteht aus vier Gängen mit jeweils mehreren Tellern. Es lässt sich um drei »Surprise«-Gerichte erweitern (58 CHF). Wir gewähren der Küche freie Hand.

Zum Champagner (Barrot-Masson, Blanc de Blancs »Fleur de Craie«) werden die ersten Snacks aufgetischt: Ein Stück gepickelter Gurke mit Dill und Senfsaat gefällt mit balanciertem Süßsäure-Spiel und der gelungenen Überführung eines deftigen Klassikers (Senfgurke) in die gehobene Küche. Eine filigrane Erbsen-Tartelette überzeugt mit akkuratem Handwerk und konzentriertem Erbsengeschmack. Richtig gut ist ein Nest aus hauchfein-knuspernden Kartoffelfäden mit Tatar vom Kingfish und Forellenrogen, ein vollmundiger Happen, der gekonnt mit Texturen spielt (knusprig, zart, ploppend), ohne den sehr guten Fisch aus den Augen zu verlieren. In Rote-Bete-Pulver gehüllte Leber-Mandeln bieten kurzweiligen Knapperspaß mit samtigem Schmelz und schönen Röstaromen. In Summe ist das soweit ein »netter« Auftakt.

Dann erst probieren wir das Highlight des Eröffnungsreigens, Ei-Royale genannt (nicht im Bild): In einer Eierschale findet sich eine samtige Mischung aus Lauchroyale, Kartoffelschaum, Nussbutter und Croutons, getoppt von geraspeltem Trüffel. Erst später finde ich heraus, dass diese wohlig-warme Miniatur ein Klassiker des Hauses ist. Zu recht.

Der erste Schwung Vorspeisen besteht aus vier Gerichten, serviert auf gläsernem Geschirr mit interessanter Flechtstruktur. In einer Schale ist Rinder-Rohfleisch mit einer Sauce auf Basis von Molke angerichtet, verborgen unter diversen Blattsalaten und Kräutern – eine sehr ansprechende Mischung, leicht, frisch, trotzdem von würziger Vollmundigkeit.

Eine Kreation aus verschiedenen Zubereitungen von Avocado und Wasabi gewinnt vor allem durch den ausgeprägtem Eigengeschmack vollreifer Avocado an Reiz, ergänzt durch frisch am Tisch geriebenen Wasabi. Trotz des anregenden Gaumenkitzels bleibt das Ganze auf Dauer etwas eintönig und ist uns texturell zu weich und cremig. 

Auf einem weiteren Teller wird eine Vichyssoise (eine kühle, dickliche Suppe aus Kartoffeln, Lauch und Sahne) von einer Nocke Kaviari-Kaviar getoppt. So weit funktioniert das prächtig. Durch die Beigabe von Räucheraal verschieben sich die Assoziationen jedoch: die Kombination von Kartoffelcreme und Räuchernoten erinnert uns fatal an die mit Speck und Mayo gewürzten Kartoffelsalate deutscher Metzgereitheken.

Hervorragend schmeckt dafür eine Art Ceviche von Makrele, mit einer Marinade aus roten Zwiebeln, Honig- und Wassermelone, Limette und Ingwer – einer schillernder Aromenstrauß mit subtiler Schärfe, leicht exotisch, aber frei von Kitsch. Schlichtweg exzellent. 

Insgesamt bleibt anzumerken, dass das »Sharing«-Konzept bei vier gleichzeitig servierten Gerichten auf Dauer etwas anstrengend wirkt. Zweimal zwei Teller würde das Ganze sicherlich etwas entzerren.

Als wäre die Küche in dieser Hinsicht ganz unserer Meinung, wird der folgende Gang auf individuellen Tellern serviert. Makellos gegarter, qualitativ hervorragender Kaisergranat ist mit verschiedenen Karottenzubereitungen und Krustentierjus angerichtet. Der saftige des Biss des Krustentiers, seine nussige Süße, ist wie gemacht für die Kombination mit Karotten, die klugerweise nicht zu süß, sondern eher herzhaft und mit leichter Säure inszeniert sind. Eine hervorragende Komposition, der man – und das ist kein halbherziges Lob – optisch und geschmacklich die Schule von Andreas Caminada anmerkt. 

Das Highlight dieses Gangs findet sich indes auf einem Extrateller, nun wieder zum Teilen: Eine Assemblage verschiedener Tomaten in unterschiedlichen Garzuständen, angemacht mit einer süßsauren Holunder-Vinaigrette. Wirklich herausragende Tomaten findet man leider selten. Hier nun haben wir Exemplare, die in ihrer sommerlichen Intensität, aber auch in der pointierten Inszenierung, beinahe unser Referenzerlebnis im kalifornischen ›Manresa‹ erreichen. Man genießt die rotfunkelnden Preziosen am besten pur, doch mischt man nur eine davon zum Kaisergranat, bringt die sonnige Wucht auch dieses Gericht nochmal ganz anders zum Leuchten. Ein Gänsehautmoment.

Es folgt der erste »Surprise«-Gang: Eine Scheibe gebratener Entenleber, außen mit appetlichen Röstspuren, am Gaumen von zauberhaftem Schmelz. Joël Ellenberger kombiniert das hervorragende Grundprodukt mit der zarten Süße von Aprikose und einem Umami-gesättigten Fond, vor allem aber mit einer Mischung frischer Kräuter, die der fetten Leber zu federnder Leichtigkeit verhelfen; insbesondere die anregende Schärfe von Kerbel erweist sich als entscheidender Touch. Hier haben wir ein raffiniert reduziertes, exakt auf den Punkt schmeichelndes Wohlfühlgricht.

Beim nächsten Gang erschließen sich Grund und Sinnhaftigkeit der »Sharing«-Präsentation nicht so recht: zwei Tranchen Heilbutt sitzen nebeneinander in einer Schale, was dazu führt, dass die aufwändige Anrichte beim Verteilen sofort dahin ist. Sei's drum, der sehr gute Fisch ist mit verschiedenen Bohnen garniert, bei denen die unterschiedlichen Garpunkte exakt getroffen sind, auch das eine nicht zu unterschätzende Kunst. Das »mitteleuropäisch« anmutende Geschmacksbild aus buttrigem Fisch und knackigen Bohnen wird durch ein Confit von Cedro-Zitronen und eine leichte Zitronen-Beurre-blanc ganz sanft ins Mediterrane verschoben. In seiner aromatischen Klarheit und Spannkraft bereitet auch dieser Gang viel Freude.

»Dunklere« Aromen bestimmten den folgenden Gang, bei dem ein geröstetes, verführerisch glänzendes Stück Kalbsbries von kleinen Pfifferlingen und Morcheln getoppt wird. Zur schaumig-buttrigen Sauce haben wir lediglich notiert, dass sie hervorragend schmeckt. Vor allem aber begeistert uns die Garung des Bries, dessen Inneres nicht (wie so oft) allzu cremig-weich ist, sondern aufgrund der Qualität und Garung etwas fester. So kannten wir das bisher fast nur aus den besten Häusern in Frankreich. Zusammen mit den Pilzen ist das ein perfekt portionierter Hochgenuss, den man gerne zu zweit direkt aus der Schale löffelt.

Wir bleiben im Wohlfühlmodus, mit Schmorbraten-Ravioli in Nussbutterschaum. Bei solchen Pastagerichten trennt sich in der gehobenen Küche oftmals die Spreu vom Weizen, denn sie stehen und fallen mit schierer Handwerkskunst. Das umfasst die Zubereitung des Nudelteigs, das Schmoren des Fleischs, das Würzen der Füllung und nicht zuletzt den Garpunkt der fertigen Nudeltaschen. Hier ist alles mustergültig, insbesondere die exakt al dente getroffenen Nudeln begeistern uns (immerhin sitzt auch eine Italienerin am Tisch). Erneut löffeln wir mit Freude den tiefen »Sharing« Teller leer, und auch von der herrlichen Nussbuttersauce bleibt kein Tropfen übrig.

Der Hauptgang kommt vielgestaltig auf den Tisch. Im Mittelpunkt steht Thurgauer Apfelschwein, dessen Name sich aus dem Futter der Tiere ableitet, die mit Apfeltrester gemästet werden, den Pressrückständen aus Apfelsaft-Produktion. Vor uns steht ein Teller mit pochierten, sehr zarten und saftigen Schweinefilets, flankiert von exzellenten Artischockenherzen (das feincremige Püree bräuchten wir, wie immer, nicht). Daneben finden sich auf einem Extrateller gepökelte und appetitlich gebräunte Scheiben vom fetten Bauchfleisch, bedeckt von würzig-frischem Chimichurri, der argentinischen Variante einer »Salsa Verde«.

Als zusätzliche Beilagen gibt es zwei Stücke herzhaft-süffiger BBQ-Aubergine (nicht im Bild) sowie zwei Exemplare einer knuspernden und vor Umami strotzenden Kreation aus Kartoffel und Tomate. In Summe ist das alles sehr gut, insbesondere das Bauchfleisch, aber nach dem umfangreichen Menü auch recht üppig.

Als Bogen zu den Vorspeisen kommen die Desserts als vielfältiger Reigen auf den Tisch. Bei Andreas Caminada sind Soufflees ein stets exzellenter Dessert-Standard, und das heutige Tonkabohnen-Soufflee bildet keine Ausnahme: zart und nicht zu süß, trotzdem sehr aromatisch und durchaus gehaltvoll. Dagegen ist uns eine gefüllte Zuckerkugel mit Puffreis trotz säuerlicher Brombeeren und Verbene eine Spur zu süß und üppig; eine filigran gearbeitete Erdbeer-Vanille-Tartelette würde uns mit echten Früchten noch besser gefallen.

Ganz hervorragend schmeckt eine flaumige Buttermilch-Mousse mit Erdbeersorbet, Holunder und Tagetes-Öl. Ein mit Himbeere gefüllter, unglaublich fluffiger Pâte a Choux (leider nicht im Bild) befördert uns schließlich in den siebten Desserthimmel – besser habe ich dieses Gebäck nie gegessen, eine Götterspeise en miniature.

Mit der ›Igniv‹-Idee ist es Andreas Caminada offenbar gelungen, den kulinarischen Stil seines Haupthauses in einer Weise zu skalieren, die sich von Bad Ragaz bis Bangkok auf verschiedenste Umgebungen übertragen lässt. Bei der Recherche im Nachgang zeigte sich zudem ein bemerkenswerter Unterschied zu ähnlichen Konzepten, etwa Joël Robuchons ›Ateliers‹: Sämtliche ›Igniv‹-Restaurants sind nicht nur leicht unterschiedlich gestaltet, sondern bieten auch unterschiedliche Gerichte an, lassen also den Köchen einen gewissen Entfaltungsspielraum.

»Avantgarde« oder »Herausforderungen« darf man dabei nicht erwarten, sondern schlichtweg sehr gutes Essen – was kein halbherziges Lob ist, denn selbst auf diesem Auszeichnungs-Level ist das eine gar nicht so häufige und leider oft unterschätzte Qualität. Das heutige Menü gefiel mit einer Reihe stilsicherer Ideen und mit Geschmacksbildern, die in ihrer wohligen, saucigen Süffigkeit eine Art kulinarische »Nestwärme« erzeugen.

Satt und zufrieden spazieren wir gegen Mitternacht durch das ›Grand Resort‹ in Richtung Kurort-Casino, um an der dortigen Bar ein frisch gezapftes Bier zu nehmen, nach reichlich Wein stets eine saftige Wohltat. Mit Blick auf das mondäne Hotel bildet das kulinarisch »kosmopolitisch« aufgestellte ›Igniv‹ auch einen reizvollen Kontrast zur alpinen Drei-Sterne-Küche des ›Memories‹. Zwei Küchenstile, die auf unterschiedliche Weise Spaß machen. Dass wir uns vom Teilen der Tellervielfalt stellenweise etwas überfordert fühlten, mag Gewohnheitssache sein. Insofern gibt es da nur eine Lösung: ab ins nächste »Nest« und üben, üben, üben!

Kai Mihm

Weine

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