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Restaurantkritik 25.Oktober 2017

Sternerarität

Im Michelinuniversum Raritäten zu entdecken, ist schwierig. Auch wenn sich die rote Bibel in den letzten Jahren mit dem asiatischen Markt und der Besternung von Foodstalls in Hong Kong, Singapur oder Shanghai merklich geöffnet hat, ist das Gros der ausgezeichneten Restaurants noch immer einem ganz bestimmten Duktus zuzuordnen. Eine der größten Ausnahmen im Kanon des Michelin sind nach wie vor vegetarische Restaurants. Momentan gibt es in Europa zwei ausschließlich vegetarische Küchen, die mit einem Macaron ausgezeichnet sind: das Joia in Mailand und das Tian in Wien. Bei unserer jüngsten Reise in die österreichische Hauptstadt war nun mal wieder ein Abstecher in die Himmelpfortgasse fällig. Hier bekocht der Tiroler Paul Ivic mit seinem Team das Bistro sowie das besternte Restaurant. Rein vegetarisch, versteht sich.

Die Sommersonne brennt an diesem Junimittag bereits heftig über Wien, und wir sind froh über den Platz im gut klimatisierten Speisesaal, in dem sich auffällig viele asiatische Touristen tummeln. Der Laden ist fast voll - an einem Freitagmittag. Da sag mal noch einer, das Mittagsgeschäft sei nicht rentabel. Kurz am Tisch einrichten, dann kann's auch schon losgehen.

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Kräutersaitling und Wildreis entpuppt sich bei aller scheinbaren Simplizität als wahre Umamibombe und durchaus komplexes Gebilde. In der Schale liegt ein gebratenes Exemplar des Pilzes, das optisch stark an eine Jakobsmuschel erinnert. Ein netter Einfall. Begleitet von gepufftem Reis, einer Buttermilchsauce und etwas Olivenöl zeigt sich diese Petitesse als ungewöhnlich kräftiger Auftakt. Daneben liegt ein Ragout des Saitlings auf einem Knusper. Wiederum Umami pur. Stark.

Die fünfte Geschmacksrichtung wird auch beim Kohlrabi mit Champignon und Birke groß geschrieben. Der zum Raviolo eingeschlagene Kohlrabi ist mit einer fast schon fleischigen Pilzvariation gefüllt, deren karnivorer Eindruck durch die kräftige Birkenjus noch zusätzlich verstärkt wird. Als Gegenpol fungieren einige Blüten sowie roh marinierte Scheiben und ein Granité des Kohls. Ein vollmundiges Vergnügen, das auch den letzten Vegi-Verächter bekehren dürfte.

Sommerfrisch geht es weiter mit Bärlauch, Radieschen und Frischkäse. Sehr interessant ist, wie Ivic es bei diesem Teller schafft, den Bärlauch als gleichberechtigten Teil des Ganzen einzuarbeiten. Wir befürchten nämlich zuerst, dass die grüne Knoblinote die restlichen Komponenten zu überlagern droht. Doch dem ist nicht so. Das feine, regelrecht elegante Zusammenspiel von cremigem Käse, knackig-scharfen Radieschen und nur dezent knoblauchigem Wildgemüse ist sehr spannend und bietet trotz der nur drei Komponenten auf dem Teller reichlich Abwechslung. Ausgezeichnet.

Als unerwartet passend zum heißen Wiener Junimittag stellt sich der Brennnesseltee mit Spinatblatt und Wurzel heraus. Klar, bekanntlich soll man bei warmem Wetter auf Heißgetränke zurückgreifen, dennoch überrascht uns diese Kombination. Die Bitternoten des Tees wirken belebend und regen die Salivation an. Die erdige, leicht süßliche Wurzel des Spinats sowie die ebenfalls dezent bitteren Blätter erweitern das Aromenspektrum zwar nur marginal, in Summe jedoch ist das ein spannendes und schmackhaftes flüssiges Intermezzo, das unsere geschundenen Lebensgeister ein wenig weckt.

Der folgende Gang hat wieder etwas mehr Substanz, obwohl es wieder Suppe gibt: Erdäpfel, Senfblatt und Wacholder ist ein wuchtiges Konglomerat, das gekonnt zwischen der Schärfe von Senfblatt (und Senfkörnern) und der ätherisch-beerigen Note des Zypressengewächses changiert. Die kräftige Brühe aus Kartoffelschalen bietet die ideale Unterlage für diese eindringlichen Aromen, und sogar der frittierte Erdapfel ergibt in diesem Kontext Sinn: Er ist luftig-leicht, vermeidet die typische Frittenbudenaromatik, die dieser Zubereitung oft innewohnt, und trägt so als texturelle Komponente zur willkommenen Abwechslung bei.

Weiter geht's mit Fava-Bohne, Morchel und Schwarzpappel. Ivic und sein Team wissen wirklich, wie man die Umamikarte richtig spielt. Dieser Gang ist eine Wuchtbrumme und zieht uns mit seiner Kraft augenblicklich in seinen Bann. Die Bohnen (roh und als Crème) sind von fantastischer Qualität und werden von den diversen Morchelzubereitungen klassisch flankiert. Dazu gesellen sich noch eine gegrillte, süßliche Frühlingszwiebel und die spargelähnliche Aromatik des Weidengewächses, dem Heilkräfte für so ziemlich jedes Gebrechen nachgesagt werden. Das ist erneut ein Gericht, bei dem wir festhalten müssen: Wer hier noch in irgendeiner Form Fleisch oder Fisch vermisst, dem ist wohl einfach nicht mehr zu helfen. Fantastisch!

Etwas simpler, doch nicht minder schmackhaft ist der Gailtaler Landmais mit Bergkäse und Taglilie. Der nicht allzu süße Mais profitiert von den dezenten Röstaromen und der kräftigen Begleitung durch den potenten Bergkäse, der auch als Sud auf dem Teller landet. Ergänzt werden die beiden Elemente durch die leicht zwiebelige und gleichzeitig nussige Taglilie. Die findet in unseren Breitengraden selten Verwendung, ist aber beispielsweise in vielen Teilen Chins integraler Bestandteil der dortigen Regionalküchen. In Summe ist das eine Art Wohlfühlteller, und wir vermuten auch eine Reminiszenz an die Tiroler Heimat des Chefs. Schmeckt gut, kann aber nicht mit den vorherigen Glanztaten mithalten.

Mit Fisser Gerste, Fichte und Ei zieht das Tempo wieder etwas an. Erneut fällt auf, wie "dünn" der angegossene Sud ist. Wir sind uns nicht sicher, ob hier nicht auch mal eine etwas dickere Sauce sinnvoll wäre. Doch so bleibt die Küche zumindest durchgehend auf dem Pfad der Leichtigkeit. Aber zurück zum Wesentlichen. Mit einem schön schlotzigen Eigelb kann man bei uns bekanntlich selten etwas falsch machen. Gepaart mit dem gehaltvollen Süßgras (gekocht und als Cracker) und den frisch-säuerlichen Fichtensprösslingen ist das ein sensorisch erstaunlich lebhaftes Triumvirat und geht fast schon als Hauptgang durch.

Ein bisschen Klassik muss sein - zumindest ein Hauch davon in Form eines Sorbets aus Kriecherl (Pflaumen) und Fenchel. Am Eis ist noch ein Stück Popcorn angebracht. Abgesehen davon, dass es uns nicht gelingt, dies unfallfrei in unsere Münder zu befördern, macht die Kombination für uns auch keinen Sinn. Prägnante Säure, wenig Frucht, viel Anis und das deplatzierte gepoppte Maiskorn hinterlassen nur Fragenzeichen. Unsere Vorbehalte gegenüber diesem antiquierten Ritual werden aufs Neue bestätigt.

Von einem ganz anderen Kaliber ist der Sellerie mit Kapuzinerkresse und Waldmeister. Dieser dicke Gemüsetaco entschädigt für den (zugegebenermaßen kleinen) Sorbetdurchhänger. Allein die Intensität des Selleries ist schlicht atemberaubend und überzeugt sogar unseren Sellerienörgler von der Qualität der Knolle. Die cremige Füllung in Kombination mit den knackigen Stückchen und der Frische des Labkrauts sowie der Bitternoten der Kresse ist so verdammt lecker, dass wir das Ganze am liebsten wie einen Döner runterschlingen würden. Doch stattdessen genießen wir ganz gesittet einen Bissen nach dem nächsten und erfreuen uns so lange es geht an diesem exzellenten Gericht.

Der Hauptgang Marchfelder Spargel mit Erbsen und Giersch sorgt nach dem ersten Bissen erneut für sehr zufriedenes Gemeinsamgrinsen am Tisch. Gebraten, blanchiert und roh zeigt der Spargel sein gesamtes Geschmacksspektrum von süßlich über bitter bis feinherb und wird dabei kongenial begleitet. Für alle, die zu diesem Zeitpunkt noch einen Bärenhunger verspüren, liegt ein fantastisches Erbsengebäck auf dem Teller, dazu ein paar rohe und gekochte Exemplare der Hülsenfrucht. Zusätzlich bietet der Giersch (ein Doldenblütler, der gerne als Unkraut verschmäht wird) durch sein Aroma irgendwo zwischen Petersilie und Spinat eine interessante Erweiterung des süßlich-gemüsigen Akkords von Erbse und Spargel. Sehr lecker.

Als Käsegang lässt die Küche einen La Bêle Chèvre mit Mandel und Vanille des kleinen Mannes auftragen. Der cremige Ziegenkäse aus den Pyrenäen und die Mandel gehen gut zusammen, lediglich der Knoblauch (die Vanille des kleinen Mannes) ist uns etwas zu dominant. Dennoch sicherlich einer der besseren Käsegänge. Wenngleich wir auch nach vielen Jahren des (Fr-)Essens noch von der Idee eines Käsegangs gegenüber einem Stück perfekt gereiftem Käse auf dem Teller überzeugt werden müssen.

Mit Bean to bar schließt die Pâtisserie das Menü ab. Trotz des schier überbordenden Einsatzes von Schokolade und Kakao wird hier der altbekannte "death by chocolate" gekonnt vermieden. Leicht ist das Dessert natürlich nicht, doch das geschickte Verweben der unterschiedlichen Aggregatzustände des schwarzen Goldes aus Südamerika sorgen für reichlich Spannung. Als Hauptbestandteil dient die Piura Porcelana mit 75 % Kakaoanteil von aus dem Plura-Tal in Peru stammenden Pflanzen. Dazu gesellen sich die Früchte des Cupuaçu, des großblütigen Kakaos, sowie Kakao in purer Form, Teile davon à part auf einem Ast gereicht. Ein geschmacklich wie optisch sehr gelungener Schlusspunkt.

Auf einen großen Reigen von Petits Fours wird im Tian verzichtet. Lediglich eine Schokozigarre gefüllt mit Bananencrème wird als Rausschmeißer serviert. Über die Präsentation lässt sich mit Sicherheit streiten, doch geschmacklich ist diese Kleinigkeit ganz einfach fantastisch. Auch unser Sternefresser, der Bananen eigentlich so gar nichts abgewinnen kann, nickt in Anerkennung.

Seit unserem letzten Besuch im Tian hat sich Einiges getan. Früher empfanden wir einige der Gerichte als eher langweilig, andere als zu plakativ – davon gibt es mittlerweile keine Spur mehr. Die Küche von Paul Ivic hat sich in allen Bereichen merklich weiter und zum Besseren entwickelt. Die Produktqualität ist durchgehend hoch, die Vielfalt der eingesetzten Gemüse, Wurzeln, Blätter, Blüten und was sonst noch so alles auf den Tellern landet bemerkenswert. Dank der cleveren und spannenden Kombinationen vermissen wir Fleisch oder Fisch zu keiner Sekunde. Generell stellen wir fest, dass es mittlerweile oft die vegetarischen Gerichte eines Menüs sind, die für die spannendsten Fressmomente sorgen. Ivic zeigt im Tian, dass das auch auf Menülänge ohne nennenswerte Ausfälle ganz ausgezeichnet funktioniert. Neben ihm kommt uns nur noch Andreas Krolik vom Frankfurter Lafleur in den Sinn, der dieses Thema genauso kurzweilig und vor allem köstlich umsetzt. Ein Weg, der unserer Meinung nach mehr Schule machen sollte.

Fazit

Paul Ivic überzeugt im Tian mit einer durchweg schmackhaften, leichten vegetarischen Küche auf sehr hohem Niveau. Wir vermissen hier nichts und kommen wieder.

Wein

Weine im Restaurant Tian in Wien

2015 Chardonnay, Heaps Good Wine, Slowenien

2015 La Leveé, Alexandre Bain, Loire, Frankreich

2013 Trenzado, Suertes Del Marques, Teneriffa, Spanien

2015 El Bandito, Testalonga, Swartland, Süd Afrika

2015 Riesling Schieferschatz, Schauer, Südsteiermark

2015 Wermutlich Rosé, Peter-Juranitsch-Andert, Neusiedlersee

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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