Restaurantkritik 15.März 2015

Dans kleine Farm

Als Tourist in New York hat man wenig Gründe und zumeist noch weniger Zeit, die engeren Stadtgrenzen zu verlassen. Warum auch? Leicht könnte man sein ganzes Leben in Manhattan verbringen (und manche Einheimischen tun das wohl auch), ohne sich länger zu langweilen. Dennoch haben wir uns bei diesem Besuch auf eine kleine Reise begeben und sind per Zug dem Hudson Richtung Norden ins hübsche Städtchen Tarrytown gefolgt. Von dort sind es nur wenige Minuten nach Pocantico Hills, wo sich das – oder vielmehr ein – Anwesen der Familie Rockefeller mit Lehrbauernhof sowie dem Restaurant von Dan Barber befindet. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen ist, wie weit abseits der üblichen kulinarischen Pfade uns dieser Ausflug führen würde….

Das Blue Hills at Stone Barns gehört zu den Restaurants, die zwar immer wieder in einschlägigen Medien auftauchen, doch nicht im Bewusstsein der Essverrückten dieser Welt verankert sind. Liegt es an der abseitigen Lage, die selbst den Michelin von einer Bewertung abhält? Oder liegt es an der Wahrnehmung von Chef Dan Barber, der durch seine Analysen und TED-Talks zur Problematik der modernen Nahrungsmittelproduktion bekannt wurde und sich komplexen Überlegungen zur Frage, was “nachhaltig” in diesem Zusammenhang wirklich bedeutet, widmet? Das klingt nicht nur trocken, sondern befeuert unterschwellig auch die Sorge, es könne dort so freud- und genusslos zugehen, wie viele politisch übermotivierte Nachhaltigkeitsapostel oft suggerieren. Uns interessiert vor allem, wie konsequent einer der geistigen Väter des bewussten Konsums und der Ideen des Farm-to-Table- oder Nose-to-Tail-Konzepts seine Überzeugungen in einem Menü für 198 Dollar tatsächlich verwirklichen kann.

Das Restaurant befindet sich in einer der alten Steinscheunen des Anwesens und erfreut bei aller Rustikalität mit eleganten Linien und der Abwesenheit jeglichen Landhauskitsches. Kulinarisch ist das “Farmfest” die einzige Menü-Option. Die täglich wechselnde Abfolge von Gängen und kleinen Bissen wird dabei ganz individuell für jeden Gast so lange und so umfangreich zelebriert, wie es sein Appetit erlaubt – eine Menükarte klassischer Natur gibt es nicht, was während des Essens für wenig Irritation bei uns sorgt, sich im Nachhinein bei der Aufarbeitung allerdings als umso problematischer herausstellen sollte. Nur ein Heftchen mit den saisonalen Produkten hilft etwas bei der Orientierung.

Dass das allem übergeordnete Motto “Grazing, Rooting, Pecking”, also “Weiden, Wurzeln, Picken” ziemlich wörtlich gemeint ist, wird direkt beim ersten Gang, dem Stone-Barns-Gemüse auf dem Zaun, deutlich. Ganz junges Grün und kleine Wurzeln sind dezent mit Vinaigrette bestrichen und auf einer Art Metallspießspalier angeordnet. Das optisch perfekte Stillleben schmeckt nicht nur in Summe wunderbar – auch die einzelnen Elemente überraschen mit intensiven eigenen Aromen. Simpel, aber sehr effektiv als Einstimmung auf eine Küche, die sich ganz dem Credo “das Produkt ist der Star” verschrieben hat. 

Kaum mehr Eingriffen bedarf es bei den süßen Mokum-Karotten und dem Piracicaba-Brokkoli, welchen nur ein Hauch eines Eigelb-Paprikagemischs zum Erhöhen der Komplexität beigegeben wurde. Zu Recht, denn mit den subtilen, aber ganz präzisen Aromen auch dieser beiden Zubereitungen wird die im ersten Gang initiierte Feinjustierung unseres Gaumens fortgeführt – dabei sind wir erst am Anfang einer Sequenz, in der die Küche eine immer größere Rolle übernimmt. Sowohl hinsichtlich der Transformation der Produkte durch Garung als auch durch die Erweiterung mit Beigaben und Gewürzen.

Dabei geht es jetzt Schlag auf Schlag: Stets stehen mehrere Teller oder Behältnisse auf unserem Tisch, eine Aneinanderreihung vegetarischer Happen, die uns mit der ganzen Fülle der spätherbstlichen Erntezeit überwältigen. Hatten wir jemals zuvor eine solch rübige Steckrübe? Und wie kann man ein solches Naturkunstwerk durch die Beigabe einer verkohlten Mayonnaise von simpler Rohkost zu einem Ereignis erhöhen?

Bei Babykohlrabi auf Kapuzinerkressecrème denken wir zunächst an die berüchtigten Gemüse-mit-Dip-Partyplatten, denen im weiteren Verlauf des Abends nicht selten Mett-Igel folgten. Heute besteht allerdings der Unterschied, dass wir versucht sind, auch die letzten Spuren mit dem Finger zu erwischen. Die sehr feine Crème umspielt charmant das knackige Gemüse, ohne es aromatisch zu überlagern. Hier zeigt sich bereits eine der großen Stärken der Küche: Sie ist sich der Qualität ihrer Hauptdarsteller so sicher, dass sie nicht in die Versuchung kommt, durch allzu starke Würzungen oder Saucen abzulenken. 

Schon jetzt sind wir in einer Art Chlorophyllrausch, der durch zartbittere “Fighter” wie den Spinat und einen dazu gereichten “Spritzer” aus jungem Ingwer noch weiter angeheizt wird. Mittlerweile wären wir völlig willig, der Brigade auch in die entlegensten Winkel des Stone-Barns-Gemüsegartens zu folgen…

Sofort wird aber mit dem nächsten Gang klargestellt, dass man hier im Hause auch das Wort Omnivor und die Idee der Nose-To-Tail-Küche berherzigt. Pastrami aus Schweineherz lässt mit ihrer geschmacklichen Intensität keinerlei Zweifel offen, welches Tier man sich hier zu Munde führt. Das als Kontrast gereichte Trockenfleischimitat aus Sellerie möchte man indes sofort in der Tasche verschwinden lassen, um es in der Heimat triumphal im Reformkostladen zu präsentieren, als Antidot zum jämmerlichen Veggiespeck. Oink Oink.

Die folgenden Grünkohlchips haben nichts mit dem oft monotonen Geschmack der sehr trendigen Kohlart zu tun. Auch vermeiden sie jene Qualitäten, die ein traditionelles Grünkohlessen unvermeidlich mit Schnäpsen fragwürdiger Provenienz enden lassen. Sie sind zart, nussig, und der grün-chlorophyllige Kohlgeschmack hat genau die Intensität, die uns nach dem nächsten Stück greifen und diesen Absatz zum vermutlich längsten über ein vermeintlich profanes Produkt in der Geschichte der Sternefresser werden lässt.

Trocken geröstete, hauchdünne Scheiben Kopfspeck steuern dazu eine angenehme Prise Salz und Umami bei und sind ein wunderbarer Kontrapunkt. Mit zwei Bissen wird uns klar, warum wir Gemüse lieben, aber ganz sicher auch Fleisch nicht missen wollen.

Die nächste Salve aus der Küche bringt wunderbar fleischige gegrillte Favabohnen, deren Aroma durch das Grillen in der Schale konzentriert und durch den leichten Rauchgeschmack verfeinert wurde…

…gefolgt von einem Medley der letzten Erbsenblüten und –schoten des Jahres mit diversen Blüten und Blättern. Hier werden wieder ganz leise Töne angestimmt und feine Nuancen des Geschmackserlebnisses, das wir normalerweise ganz pauschal als “frisches Grün” bezeichnen würden, durchdekliniert. Eine Art Reset des Gaumens als subtile Einstimmung auf…

… hochintensives und herrlich cremiges Estragonpesto, das eigenhändig mit von einer Topfplanze abgeschnittenen Erbsensprossenpinseln aufgenommen wird….

….bevor wir hocherfreut einen Teller mit einigen Scheiben Coppa, einer eigentlich italienischen Spezialität aus Schweinenacken und -filet, erblicken. Genau der richtige Moment für einen Schwenk in die fleischige Richtung – und in einer Ausführung, die auch im Mutterland der Coppa mehr als allergrößten Respekt auslösen würde. Vor allem der Geschmack des Fettes ist ein Fanal für alles, was Schwein sein kann!

Nun fordert ein Rosenkohlbaum unsere Aufmerksamkeit, dessen Röschen wir mit einem Opinelklappmesser zu Leibe rücken und die so gar nichts mit dem bitter-wässerigen Horror unserer Jugend zu tun haben. Erstmals müssen wir uns gegenseitig stoppen, um nicht den kompletten Baum abzuernten und damit den Reigen der Gerichte nicht allzu früh aufgrund kapazitärer Probleme beenden zu müssen.

Die Schweineleber mit Schokolade verbindet den leicht metallischen Geschmack einer perfekt cremigen Leber mit der ganz dezenten und leicht bitteren Süße eines hauchdünnen Schokoladenblattes. Während das Schinkensandwich, durch die das Brot ersetzenden dehydrierten Kohlchips nicht nur ganz leicht ist, sondern auch durch die Kombination des exzellenten Schinkens mit dem zarten und leicht süßlich-erdigen Chip glänzt.

Etwas erschöpft fallen wir nach diesem gelageartigen Auftakt in unsere Sessel und Bänke zurück. Hoffentlich wurden wir beim frenetischen Abgrasen des Tisches nicht beobachtet. Egal. Denn am Nachbartisch erblickten wir zwischendrin einen schweizer Spitzenkoch (Euer Tipp?), der es uns gleichtat und augenscheinlich eine Menge Freude an den bisherigen Gerichten hatte. Wir fühlen uns jedenfalls gut, sind aber auch dankbar für den jetzt einsetzenden etwas geruhsameren Rhythmus. Was folgt ist eine kleine Lehrstunde zur hausgemachten Grillkohle aus verköhlertem Holz, Knochen und Hummerkarkassen. Und wir bestaunen einen komplett verrußten Klumpen. Ein Kohlkopf, für später, so erfahren wir.

Doch zunächst liefert ein Kürbis einen fruchtig-erdigen Drink, der von Rettichscheiben und einer vegetabilen Vinaigrette begleitet wird. Das harmoniert hervorragend, ist angesichts der hohen Taktung und Abwechslung allerdings auch recht schnell wieder vergessen.

Geröstete Matsutake-Pilze sind in Präsentation und Zubereitung eine großartige Hommage an Japan, auch wenn die in Japan fast unerschwinglich teure Delikatesse, in amerikanischen Wäldern gesammelt wurde. Die nur leicht gerösteteten Exemplare sind extrem fleischig, und die erwartete geschmackliche Erdigkeit wird durch dezent fruchtige Noten ergänzt. Minimale Intervention, maximale Wirkung.

Kaum wiedererkennbar erscheint nun der zuvor präsentierte verkohlte Kohl, parallel zu einem Gericht aus Broccolistielen. Zwei echte Proletarier unter den Gemüsen, die hier einen eleganten und trotzdem unverfälschten Auftritt haben. Vor allem der Weißkohl besticht durch seine Süße und leichte Karamellnoten. Nichts an diesen Interpretationen ist muffig, penetrant oder irgendwie schwer, und trotzdem ist es eindeutig Kohl, was wir auf der Zunge haben. 

Pürierter Kürbis mit Bacon, Kernen und Joghurt ist dann eine Abweichung vom Stil der bisherigen Gerichte. Hier darf (und soll) beherzt gemischt und die Süße des Kürbisses mit der Frische der Sourcream, dem Umami des Specks und den nussig-röstigen Aromen der Sonnenblumenkerne immer neu kombiniert werden. Soulfood sagen die Amerikaner zu so einem Gericht, das in keiner Weise herausfordert, aber beim Essen (nicht nur uns) ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

Der nächste Gang, “Beetfurter”, ein Rote-Bete-Hot-Dog, wird auf der Terrasse serviert, direkt vom Grill, auf einem Brötchen aus einer nach Dan Barber benannten Getreideneuzüchtung. Es handelt sich nicht um eine der beliebten Pseudo-Luxusversionen eines bodenständigen Gerichts, sondern um eine ganz dicht am Original angesiedelte Interpretation, wobei natürlich vom Würstchen bis zum Gurkenrelish alles von standesgemäßer Qualität ist. Unsere Sorge, ob wir zu diesem Zeitpunkt des Menüs noch einen weiteren Magen finden, erübrigt sich schnell und weicht der Scham, als Deutscher ausgerechnet eine amerikanische Wurst mit ungekanntem Gusto zu verdrücken.

Auch der nächste Gang hat seine Wurzeln im Fast food, ist in diesem Fall allerdings deutlich vom Original entfremdet. Farmtacos aus Riesenkohlrabi (dessen Saft auch gereicht wird) mit Adlerfisch, Corned Beef, Kräutern und Wassermelonensirup sind eine echte Überraschung. Wo wir am Ende unserer Bemühungen einen schweren (K/M)ampf befürchten, finden wir Frische, klare Aromen und diverse Texturen sowie eine wunderbar komplexe Schärfe, so dass dieses Gericht auf unsere Geschmackspapillen, aber vor allem auf unsere scheinbar vollen Mägen eine erstaunlich belebende Wirkung hat. Ein gänzlich unerwartetes Highlight.

Selbst “ungelegte Eier” lässt man im Blue Hills nicht verkommen, sondern konserviert noch die letzten kleinen Kügelchen, die man in Suppenhühnern findet. Ein extrem forderndes Gericht, das wir angesichts des fortgeschrittenen Menüs und des Weinkonsums  nicht mehr ganz zusammen bekommen…

Jetzt aber Konzentration! Zum Hauptgang werden noch einmal die Qualitäten der hauseigenen Tamworth-Schweine ausgespielt. Es gibt ein Stück aus der Backe, das Secreto sowie das Filet, dazu Röstgemüse. Unglaulich gut die Krusten, noch besser das Fett, enorm aromatisch das Fleisch. Besser könnte man nicht illustrieren, warum die Nose-to-Tail-Verarbeitung von Tieren überhaupt keine Einschränkung, sondern eine wichtige Bereicherung darstellt. 

Die Desserts sind dann eher konventionell, im direkten Vergleich zu den anderen Gerichten arg harmlos und kreisen um das Thema Nüsse, Saaten und Körner. Zunächst kombiniert die Küche diese mit Eiscreme und Keksen, gefolgt von einer fruchtbetonten Variation und zum Abschluss verschiedenen Mignardises.

So endet das Farmfest, wie es Dan Barber und seine Mannschaft selber ganz bescheiden nennen. Einerseits eine treffende Beschreibung, denn wie sonst nirgends prägen tatsächlich die Produkte der eigenen Ländereien und der befreundeten Landwirte die Küche im Blue Hills. Außerdem ist es tatsächlich ein kulinarisches Fest, das hier zelebriert wird. Gleichzeitig aber ist es auch eine dramatische Untertreibung, denn so simpel viele der hier servierten Gerichte auch erscheinen mögen, so wohldurchdacht muss hier jeder Bissen sein, um über vier Stunden hinweg durchweg zu begeistern. Es scheint, als würde das Leben der Küchenmannschaft inmitten dieses landwirtschaftlichen Vorzeigebetriebs zu einem tieferen Verständnis der Zutaten führen, zu einem so tiefen Respekt vor den Produkten der Natur, dass ganz selbstverständlich alle küchentechnischen und geschmacklichen Eingriffe so minimal wie nötig gehalten werden. “Das Produkt steht im Mittelpunkt”, wird heute vielerorten behauptet. Im Blue Hill at Stone Barns gilt jedoch die goldene Regel, den tollen Produkten nicht im Wege zu stehen und sich dann erst und ganz vorsichtig einer weiteren Verfeinerung anzunähern. So entsteht eine Küche, die man im Bereich des Fine Dining nur als radikal bezeichnen kann. Radikal gut.

Auch das Serviceteam trägt seinen Teil zum Gelingen des Festes bei. Zunächst vor allem elegant und distinguiert, entwickeln sich im Verlauf der Mahlzeit immer mehr anregende und auch amüsante Gespräche, und es zeigt sich, dass nicht nur die Küchenmannschaft von der Begeisterung und dem Wissen über die verwendeten Viktualien durchdrungen ist. Ein bisschen didaktisch wird es hier und da, aber locker und mit einem gesunden Schuss Selbstironie wird jeder Anflug von Schulmeisterlichkeit vermieden. 

Fazit

Wer erleben will, wie Farm-To-Table und Nose-To-Tail in absoluter Konsequenz und auf allerhöchstem Niveau aussieht und schmeckt, für den ist das Blue Hill at Stone Barns eine absolute Pflichtadresse. Dan Barber kocht puristisch, äußerst wagemutig und bei aller Nachdenklichkeit vor allem voller Leidenschaft. Sein “Farmfest” ist eine unvergessliche Feier für alle Sinne.

Wein

2013 Appinette, Aaron Burr Cidery, New York

2007 Riesling Kabinett, Schloss Schönborn, Rheingau

2012 Rotes Tor Grüner Ventiler Federspiel, Franz Hirtzberger, Wachau

2012 Adani, Argyros Estate, Griechenland

NV Once in a lifetime, Stillwater Artisanal Ales, New York

2012 Les Macherelles, Chassagne-Montrachet, Thomas Morey, Burgund

2002 Cabernet Sauvignon, Heizt Cellars, Napa Valley

2003 Cabernet Sauvignon, Dunn Vineyars, Napa Valley

2009 Vouvray Sec Le Haut-Lieu, Domaine Huet, Loire

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