Kolumne 19.Juli 2016

Das Ohr isst auch mit!

"Sag mal, nervt Dich die Musik auch so?", fragt ein Sternefresser seinen Kollegen. "Welche Musik? Ich versuche, den Schrott auszublenden…", lautet barsch die Entgegnung beim Tischgespräch in einem deutschen Drei-Sterne-Restaurant, wo dieselbe CD mit leichter Fahrstuhlmusik auf "heavy rotation" vier Stunden lang durchläuft.

Manchmal nehmen wir Musik im Restaurant nicht bewusst wahr, oder das Restaurant beschallt seine Gäste erst gar nicht. Aber wenn beim Italiener Eros Ramazzotti innbrünstig "Se bastasse una canzone" anstimmt oder im China-Restaurant schlecht produzierte 80er-Musik auf asiatischen Instrumenten dargeboten wird, kann man das nicht ausblenden, sondern bestenfalls milde lächeln. Ebenso scheiden sich bei uns die Geister, wenn im lässigen Restaurant Lounge-Music à la "Café del Mar" läuft und einer von uns vor einem mittelschweren Anfall steht. Anderen Gästen ist es vielleicht zu laut, wenn in Mario Batalis Babbo in NYC ohrenbetäubend Rockmusik aus den Boxen dröhnt oder im Kopenhagener Amass die Gäste im Industrie-Chic des Speiseraums mit Rap-Beats auf die Probe gestellt werden.  Aber auch Musik, die wir nicht bewusst hören oder die uns nicht auf den Geist geht, hat einen Einfluss auf den gesamten Sinneseindruck bei einem Restaurantbesuch – deswegen haben wir den Ernährungssoziologen Daniel Kofahl gebeten, uns einen kurzen Abriss des aktuellen Wissensstands zu geben:

"Das Auge isst mit" lautet eine altbekannte Einsicht. Zunehmend anerkannt ist auch, dass sich das Geschmacksempfinden nicht nur durch die Empfindungen von Mund und Nase entfaltet, sondern durch sinnliche Aspekte des Betastens und Befühlens von Zutaten oder Speisen weiter steigern lässt. Doch bezüglich des Akustischen scheint noch immer vielfach die Devise zu gelten: Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen sofort wieder raus.

Dem ist mitnichten so. Geräusche, Töne und Melodien werden ebenso mitgeschmeckt und müssen ebenso mitverdaut werden wie alle anderen sinnlichen Einflüsse beim Essen und Trinken. Bekannt ist, dass auf die richtige Art gezielt eingesetzte musikalische Impulse selbst da den Appetit beim Essen steigern können, wo das soziale Setting dem kulinarischen Vergnügen sonst eher wenig dienlich ist, etwa bei Mahlzeiten in Krankhäusern oder Pflegeheimen. Der Einsatz von Musik geht hier über den Aspekt von zerstreuendem Geplänkel hinaus. Stattdessen sind sie funktionale Komponenten eines gelingenden, guten Essens.

Und auch in der Spitzengastronomie gibt es Beispiele, welche die sinnlichen Vorzüge von Musik und Kulinarik fruchtbar miteinander zu verbinden wissen. So serviert Heston Blumenthal seinen Gästen Seafood auf dem Teller zusammen mit einem iPod. Mit dem Kopfhörer am Apple-Produkt können die Gäste beim Verzehr der Muscheln ein Meeresrauschen hören. Welche Wirkung das neben Geruch und Geschmack hat, ist nicht schwer vorstellbar.  Auf der anderen Seite gibt es Versuche, kulinarische Erfahrungen in auditive Erlebnisse zu übersetzen. Etwa wenn Rainer Hirsch in "Sound of Citrus" den Geschmack einer Zitrone klanglich nachzuempfinden versucht – ob da auch der Speichelfluss angeregt wird?

Die Beschäftigung mit Geräuschen, Tönen und Melodien lohnt sich für die kulinarische Theorie und eine gastrosophische Esspraxis. Dafür kann man ruhig einen Blick auf die Nachbardisziplin der Musiktheorie werfen. Theodor W. Adorno beispielswiese hat zwar die Kulinaristik nicht richtig zu schätzen gewusst, war aber ein leidenschaftlicher und intelligibler Hörer von – explizit "ernster" – Musik. In seiner "Einleitung in die Musiksoziologie" beschrieb er verschiedene Hörertypen von Musik, denen er unterschiedliche Eigenschaften in der Auseinandersetzung mit Musik zurechnete. Und ohne Adorno zu nahe treten zu wollen: Man kann Musik tatsächlich vielfach mit dem Kulinarischen vergleichen.

Neben den sinnlichen wie Gemeinschaft stiftenden Aspekten beider Phänomene verbindet sie etwa, dass jeder guten Speise wie auch jedem guten Musikstück ein Handwerk zugrunde liegt. Ambitionierte Köche und Musiker bringen neben einem künstlerisch-kreativen Talent stets die Bereitschaft zum weiterentwickelnden Lernen und Üben mit.

Auf der anderen Seite finden sich Analogien bei den Rezipienten, den Essenden und den Zuhörenden. Ob jemand ein Gericht nur mit einem sensationslüsternen Unterhaltungsgeschmack verzehrt oder als "geübter Esser" strukturell isst und gustatorische Bestandteile wie eine Sprache decodiert sowie deren technische Kategorien zu enthüllen vermag, darf durchaus mit der ernsten Rezeption von Musik verglichen werden. In dieser Lesart ist der Gourmet das kulinarische Äquivalent des strukturellen Hörers.

Unser Fazit

Wir fühlen uns durch die Wissenschaft bestätigt: Es sollte selbstverständlich sein, dass ein Restaurant die eigene kulinarische und gastronomische Ausrichtung mit der akustischen Begleitung abgleicht. Denn der "richtige Ton" verhilft im besten Fall zu so viel: Einerseits kann er die Idee des Tellers verstärken, andererseits aber auch konterkarieren. Auch ein Blick über den Tellerrand macht Sinn: Hat ein Gastronom ein sonnendurchflutetes Restaurant, kann er die Playlist auf die Tageszeit abstimmen. So entsteht, ganz unabhängig von der Speise, die der Gast gerade vor sich hat, eine atmosphärische Dramaturgie. Denn ob bewusst wahrgenommen oder dezent im Hintergrund: Mehr Harmonie zwischen Speise und Lautsprecher fördert ein jedes (Fr-)Esserlebnis.

Über den Autor

Dr. Daniel Kofahl, Ernährungssoziologe, leitet das Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur -.APEK. Er arbeitete u.a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Ökologische Lebensmittelqualität und Ernährungskultur an der Universität Kassel und lehrt Ernährungssoziologie, Ernährungsethnologie und Ernährungsbildung u.a. an den Universitäten Köln, Wien und Trier. Er hat u.a. den Sammelband "Kulinarisches Kino - Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film" bei Transcript herausgegeben.

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