
Aure - neuer Stern für Kopenhagen
Von Kai Mihm
Bei der Planung einer Reise nach Kopenhagen unterliegt man stets der Versuchung, neben must-do-Restaurants wie dem ‹Jordnaer› und dem ‹Geranium› auf Nummer sicher zu gehen und weitere Lokalmatadore zu besuchen, sei es das ‹Alchemist›, das ‹AOC›, das ‹Kadeau›, das ‹Noma› oder das wunderbare ‹Søllerød Kro›.
Dabei tut sich in der Stadt gastronomisch eigentlich immer etwas Neues. Tatsächlich hat diesmal ein Restaurant mein Interesse geweckt, das ein wenig unter dem Radar zu laufen scheint: das ‹Aure›. Es wurde 2024 von Küchenchef Nicky Arentsen und seiner Partnerin Emma Nørbygaard eröffnet, genau elf Wochen vor der Michelin-Gala – wo es prompt einen Stern erhielt. Wundern muss einen diese schnelle Auszeichnung angesichts der bisherigen Stationen von Arentsen nicht. Zuletzt war er im ‹Jordnaer› tätig, welches wir am Vorabend besucht haben.
Das ‹Aure› befindet sich in den Gemäuern eines historischen Schießpulver-Lagers aus dem Jahr 1745. Ein nüchtern-wehrhafter, dennoch atmosphärischer Bau, der entfernt an das Mittelschiff einer Kirche erinnert.

Das Interieur entspricht mit Dielenboden, blanken Holztischen und einsehbarer Küche dem typischen Bild eines modernen skandinavischen Restaurants. Markantes Holzgebälk und antike Geschirrkommoden verleihen dem Raum eine individuelle Note. Auch der ungezwungene, dabei sehr professionelle Service lässt umgehend Wohlfühlatmosphäre aufkommen – für unseren Tisch ist eine deutsche Mitarbeiterin zuständig. Nachdem wir am Vorabend bereits im Serviceteam vom ‹Jordnaer› auf einen Deutschen getroffen sind, ist das eine amüsante Wiederholung. (Tags drauf wird sich uns im ‹Geranium› ein deutscher Souschef vorstellen…).
Da es ein festes Menü gibt (ca. 245 €), werden lediglich die Unverträglichkeiten nochmals abgefragt. Dann geht es ohne Umschweife los.

Der erste Happen, eine hauchfeine Croustade mit Königskrabbe, erinnert in Präsentation und Protagonist an die Eröffnung im ‹Jordnaer› vor knapp 24 Stunden – schmeckt dank der divergierenden Würze mit Joghurt und Dill aber individuell genug, um keinen geschmacklichen Dejà-vu-Effekt aufkommen zu lassen. Maritim, frisch und leicht. Sehr souverän, sehr köstlich.

Ein deutliches Déjà-vu kommt dafür bei einer schwarz eingefärbten Tartelette mit Hamachi, Platin-Kaviar und geräuchertem Soja auf – das hatten wir am Vorabend nahezu identisch im ‹Jordnaer› (mit Thunfisch statt Hamachi) und vor drei Jahren dort ebenfalls mit Hamachi. Man sieht es einem jungen Küchenchef jedoch nach, wenn er ein paar Ideen prägender Wirkungsstätten mitnimmt, und köstlich ist diese Verdichtung luxuriöser Meeresaromen sowieso. Ich stelle sogar fest, dass mir die Version mit dem bissfesteren Hamachi eine Spur besser schmeckt als jene mit weicherem Thunfischbauch am Vorabend. Dennoch wäre es eine schöne Geste, beim Servieren die Referenz zu erwähnen.

Vollkommen eigenständig zeigt sich die nächste Kleinigkeit: auf einem kleinen Hefeteig-Pfannkuchen (im britischen Ursprungsland Crumpet genannt) ruht ein appetitlich gegrilltes Stück vom dänischen Norlin-Wagyu – warm und fett, würzig und zart, dabei mit reizvollem Biss. Japanischen Bergpfeffer (Sansho) und winzige Schnittlauchröllchen bringen einen Hauch zitrischer Schärfe und zwiebeliger Frische ein, knuspriger Seetang unterstreicht das Umami. Zum Augenschließen gut – und ein wunderbares Beispiel dafür, dass ein pointiert gesetztes Stück Fleisch auch in einem Menü mit Fischfokus seinen Platz hat.

Das Spiel mit Frische, Tiefe und Würze setzt sich beim nächsten Gang fort. In einer Schale sind leicht gegarte Fjord-Garnelen mit verschiedenen Kräutern angerichtet, am Tisch wird noch ein sattgrüner Sud von gegrillter Gurke angegossen. Am Gaumen entwickelt sich ein filigranes Spiel zwischen den zarten Krustentieren, dem feinherb-fruchtigen Fond und den duftigen Kräutern. Den Clou bildet ein Meerrettich-Pannacotta am Boden der Schale, dessen sanft kitzelnde Schärfe dem Ganzen einen entscheidenden Kick verleiht. Stark.
Inzwischen ist jeder Tisch besetzt. An einem Mittwochabend. Davon können meisten Sternerestaurants hierzulande wohl nur träumen.

Die folgenden Kreation lässt erneut ans ‹Jordnaer› beim Besuch 2021 denken. Eine roh marinierte Jakobsmuschel ist in Form zahlloser kleiner Blüten geschnitten, welche in einem kühlen Sud aus Stachelbeere und Fingerlime liegen. Im ‹Jordnaer› gab es diese »Muschelblüten« 2021 mit Holunderfond, was mir eine Spur zu süßlich war (der einzige Kritikpunkt in einem grandiosen Menü).
Hier nun funktioniert die Idee, das nussig-süßliche Muschelfleisch mit feinherber Fruchtigkeit und Säure einzufassen, ganz ausgezeichnet. Erstaunlich ist, wie anders Jakobsmuschel in dieser verfremdeten Form schmeckt, sehr zart und mit einem völlig anderen Mundgefühl. (Einen ähnlichen Effekt kennt man von Pastaformen, die zwar stets aus dem gleichen Teig hergestellt werden, durch die unterschiedliche Formgebung jedoch alle irgendwie anders schmecken).

Und noch eine Referenz an Eric Vildgaard, diesmal in Gestalt von japanischem Milchbrot und geschabter Butter. Auch das sehr gut, nicht mehr, nicht weniger.

Der nächste Gang führt zurück in das kreative Reich von Nicky Arentsen. Auf einem Glasteller liegen drei kleine grüne Päckchen, die an gefüllte Weinblätter erinnern. Tatsächlich handelt es sich um Feigenblätter, die mit Makrele gefüllt sind: drei Happen voller Kraft vom fettreichen Fisch, der im wahrsten Wortsinn eingebunden ist in die nussige Aromatik der Feigenblätter. Ein leichter Katsuobushi-Feigenblatt-Fond greift die Thematik auf, während ein zitrischer Geltupfen auf jedem Päckchen hintergründige Frische einbringt. Eine derartige Komplexität hätte ich von dieser unscheinbar aussehenden Kreation nicht erwartet. Sehr stark.

Das Niveau bleibt sehr hoch, die Ästhetik angenehm reduziert. In einer hellgrauen Schale sind roséfarbene Krevetten fächerartig mit zartgelber Misosauce und anthrazitfarbenem Beluga-Sevruga-Kaviar angerichtet. Die rohen Krustentiere schmelzen förmlich am Gaumen, grundiert vom samtigen Umami der buttrigen Sauce, dazwischen funkelt der salzig-nussige Kaviar. Delikat. Ein Meisterstück.

Regelrecht französisch mutet der Fischgang des Menüs an: Ein Stück Glattbutt ist in Sauerampfer gewickelt und ruht in einer schaumigen Sauce von weißem Spargel. In der Sauce wiederum lassen sich Gartenerbsen ausmachen – viel mehr als man zunächst denkt! Knackig und keine Spur mehlig, sondern frisch und süß. Ein Spritzer Roter Kosho setzt dazu einen leicht zitrischen Akzent. Das ist sehr straight, ohne große Überraschungen, aber in sich vollkommen stimmig und handwerklich makellos.

Es folgt ein vegetarisches Gericht aus dänischen Kartoffeln von herausragender Güte, die mit einer schaumigen Creme von Heukäse, Vin Jaune und diversen Kräutern angerichtet sind. Zum Schluss wird noch Schwarzer Trüffel von sehr guter Qualität obenauf gehobelt – durchaus reichlich, aber nicht so viel, dass der stets etwas dominante Trüffelgeschmack das eigentliche Gericht überlagern würde. Vielmehr ergibt sich hier ein süffiger Mischmasch, bei dem man beherzt in die Vollen gehen kann. Was soll man auch sagen: Kartoffeln, Käse, Trüffel – das kann nur funktionieren.

Der Hauptgang: das Schwanzstück eines dänischen Hummers wurde glasiert und über dem Yakitori gegrillt, was ihm dezente Rauchnoten verleiht. Dazu gibt es gegrillten Grünspargel, ein Kompott von Grünen Tomaten und eine Art Hollandaise mit Vadouvan und einem Hauch Vanille. Aber so appetitlich der Hummer auch glänzt, und so attraktiv der Rest des Arrangements nach solidem Wohlgeschmack aussieht, kann das alles nicht recht überzeugen. Der Hummer ist etwas zu fest, die Sauce etwas zu süß, der Spargel etwas zu weit durch. Das schmeckt alles nicht »schlecht«, doch an die Meisterschaft manch anderer Gänge des heutigen kommt dieses Gericht nicht heran.

Umso besser gefällt das erste Dessert aus Mandarine, Vanille und Honig, serviert als Granité, Creme und Eis. Wohltuende Frische und verführerische Süße gehen hier Hand in Hand. Kleine Kräuterblättchen, darunter frischer Thymian, setzen duftig-feinherbe Akzente. Sehr stark.

Das zweite Dessert aus Rhabarber, Wildrose und Geranie wirkt rein visuell sehr viel klassischer. Geschmacklich überzeugt die Zusammenstellung aus geschmortem Rhabarber, gestockter und »gepuderter« Creme sowie federleichtem Sorbet mit einer Mischung aus duftiger Blumigkeit, Cremigkeit, Bitternoten und schmeichelnder Süße. Fein.

Die Petit Fours bestehen aus Pâte de fruits, fluffigen Madeleines und, als Highlight, einem Sticky Toffee Pudding: dicht und klebrig, süß und leicht herb. Obenauf ein Schlag Vanillecreme. Absolut großartig

Es macht immer Freude, ein neues Talent kennenzulernen, das noch ganz am Anfang seines Werdegangs steht. »Ich war dabei«, wird man später sagen können. Dass man der Küche von Nicky Arentsen die Prägungen seiner Lehrmeister noch deutlich anmerkt, muss nicht weiter vertieft werden, denn man spürt in der Summe der Gerichte eine kreative Eigenständigkeit, die noch weiter reifen wird. Hier ist einer dabei, sich freizuschwimmen.
Der Michelin hat auf dieses neue Talent letztes Jahr angemessen prompt reagiert, was weiß Gott nicht immer der Fall ist. Dass Arentsen sich damit nicht zufriedengeben wird, lässt sich angesichts der besten Gerichte des heutigen Menüs erahnen. Als wir dem ‹Jordnaer› 2022 den dritten Stern prophezeiten, lehnten wir uns bekanntlich nicht zu weit aus dem Fenster. Und das tun wir auch beim ‹Aure› nicht, wenn wir sagen, dass es bei einem nicht lange bleiben wird.
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Wein

Fragen an den Suffmeister (aka Sommelier) Patrick Jensen
Anzahl der Positionen auf der Karte?
Derzeit haben wir etwa 250 Positionen auf der Weinkarte und es werden immer mehr.
Haben Sie einen bestimmten Schwerpunkt in Bezug auf die Weinkarte?
Wir konzentrieren uns in der Regel auf Weine mit hohem Säuregehalt, da ich persönlich Weine mit einer gewissen Frische sehr schätze. Die Weine sollten ihre wahre DNA widerspiegeln und eine Energie vermitteln, die meiner Meinung nach nur durch Säure erreicht werden kann. Das gilt für alles, von Dessertweinen bis hin zu vollmundigen Rotweinen.
Was ist Ihre günstigste/teuerste Flasche und wieviel kostet sie?
Wir haben einige Flaschen, die um die 950 DKK kosten, aber ein Wein, der sich durch ein unglaublich hohes Niveau auszeichnet, ist der Heymann-Löwenstein „Schieferterrassen” Riesling 2021.
Unsere derzeit exklusivste Flasche ist der 2010 Screaming Eagle zum Preis von 37.000 DKK.
Die ungewöhnlichste Rarität?
Momentan haben wir einige Weine, die sowohl selten als auch spannend sind. Ich würde wahrscheinlich den Domaine Leflaive, Bienvenues-Bâtard-Montrachet 2022 hervorheben.
Was ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Ich glaube, Burgunderweine sind generell unsere Bestseller, aber einer der Weine, den wir am meisten verkauft haben, ist der Jean Dauvissat, Montmains 1er Cru 2022.
Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Das ist ohne Zweifel das Champagnerhaus Eric Rodez. Es war mir bisher nicht aufgefallen, aber ich habe mich total verliebt.
Ihr persönlicher Lieblingswein? Warum?
Diese Frage finde ich immer schwierig, da sowohl Wein als auch Essen so sehr von der Stimmung und dem Zeitpunkt abhängen – man hat zu verschiedenen Zeiten Lust auf unterschiedliche Dinge. Bei strahlendem Sonnenschein und im Sommer habe ich Lust auf Champagner oder deutschen Riesling. An regnerischen, kühleren Tagen genieße ich einen guten Syrah aus dem nördlichen Rhône-Tal. Allerdings sind sowohl weißer als auch roter Burgund-Weine immer ein Gewinner, egal zu welchem Anlass.
Die ungewöhnlichste oder lustigste (weinbezogene) Gästeanfrage, mit der Sie jemals konfrontiert wurden?
Ich erinnere mich, dass ich es einmal bgelehnt habe, als ein Gast eine Cola kaufen wollte – weil er sie in seine 2000er Cristal Magnum von Louis Roederer gießen wollte.

