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Restaurantkritik  8.Juli 2022

Chili, Mais und Sterne

Kaum eine Londoner Neueröffnung der jüngeren Zeit wurde so viel beachtet, wie das Kol im schicken Marylebone. Ein Restaurant mit verfeinerter mexikanischer Küche, bei der jedoch überwiegend Produkte aus Großbritannien Verwendung finden, heißt: keine Avocados, keine Limetten, kein Kaktus. Der junge Küchenchef Santiago Lastra hat unter anderem im »Mugaritz« und im »Noma« gearbeitet; beim »Noma Mexico« in Tulum war er für die Organisation zuständig.
Mehr wussten wir nicht, als wir uns um einen Tisch bemühten, was sich nach der auffallend schnellen Verleihung des ersten Sterns gar nicht so einfach gestaltete. Inzwischen dürfte es noch schwieriger sein, denn beim OAD-Ranking (wo auch wir Bewertungen abgeben) firmiert das »Kol« unter den 30 besten Neueröffnungen in Europa, und in der umstrittenen, aber einflussreichen Worlds-50-Best-Liste stieg es kürzlich auf Platz 73 ein.
Diese Platzierungen kamen allerdings nach unserem Besuch. Wir sind an diesem Abend einfach nur neugierig, hungrig und in Vorfreude auf das Essen. Ein Restaurant ganz neu kennen zu lernen gehört zu den schönsten Momenten unserer Leidenschaft, und wenn die Küche zusätzlich noch Neuartiges verspricht, wird es umso aufregender.

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Das Interieur des »Kol« soll offenbar ein gewisses Mexiko-Feeling jenseits von Kitsch und Klischees verbreiten, mit viel dunklem Holz, Steingut-Boden, ledernen Sitznischen und Wänden in rostbraun und ocker – und natürlich mit der obligatorischen offenen Küche. Das junge, sehr professionelle Serviceteam agiert mit spürbarer Freude, die Stimmung im voll besetzten Raum ist entspannt, fast etwas trubelig.
Zur Wahl stehen zwei Menüs –jeweils mit Supplement-Optionen–, eines vegetarisch, eines mit Fisch und Fleisch, für das wir uns entscheiden.

Als erfrischende Einstimmung gibt es einen kühlen Sud als Kletten-Labkraut, Douglasie und Scotch Bonnet; letzteres bezeichnet eine Chilisorte, die aufgrund ihrer Form nach der berühmten Schottenmütze benannt ist und überaus scharf sein soll. Dies macht sich in dem Drink relativ schwach bemerkbar, trotzdem changiert die ungewöhnliche Kombi anregend zwischen Würzigkeit, Süße und Säure. Sehr schön.

Es folgt ein mexikanischer Streetfood-Klassiker: Chalupa, eine Art Mais-Tartelette, hier belegt mit Enoki-Pilzen, Cornish-Krabbe und Pistazien-Mole. Das schmeckt absolut köstlich, nussig, jodig-frisch und umami, getragen von einer hauchdünnen, knusprigen »Schale« aus Maismehl-Teig. Scotch Bonnet soll auch hier im Spiel sein, doch mehr als ein neckisches Kitzeln am Gaumen spüren wir davon nicht – was vielleicht gar nicht schlecht ist.

Beim ersten Menügang handelt es sich um eine Abwandlung des mexikanischen Desserts Nicoatole, ein Maispudding, der vor allem in Oaxaca populär ist (solche Hintergrundinfos liefert dankenswerterweise der Service mit). Hier wird aus dem süßen Format eine herzhafte Royale aus Mais und gelber Paprika, gewürzt mit etwas Holunder (für die Säure) und einem Hauch Chili. Bedeckt ist der überraschend kompakte, dichte Flan mit Crème fraîche und britischem Kaviar. Im ersten Moment ist die immer noch recht deutliche Süße von Mais und Paprika etwas irritierend. Sehr schnell aber kommen die mildernde, kühle Crème fraîche und der Kaviar mit seiner jodigen Nussigkeit zum Tragen, und plötzlich schmeckt es ungemein delikat, oszilliert zwischen Üppigkeit und Frische, Salz und Süße. Und nicht zuletzt schmeckt es wohltuend »anders«. Sehr gut.

Beim nächsten Gang steht Kalmar im Mittelpunkt, der als Surrogat für frische Kokosnuss dient, welche gerne als Snack an Mexikos Stränden gegessen wird. Der Kalmar wurde nur knapp zwei Minuten gekocht, wodurch er tatsächlich eine ähnlich cremig-bissfeste Textur wie frische Kokosnuss erhält, ohne seinen geschmacklichen Charakter zu verlieren – es schmeckt nach ausgezeichnet zubereitetem Kalmar. Die nussigen Noten werden durch eine Cashew-Mole verstärkt, Blumenkohlbrösel machen das ganze füllig, mildes Chili regt die Papillen an. Und wenngleich wir von den Aromen nicht an einen Strand in Mexiko versetzt werden, hat dieses kleine Gericht etwas sonniges, schmeckt ein bisschen nach Urlaub und sanftem Fernweh.

Nun kommt jene Speise, die man schlechthin mit mexikanischer Küche assoziiert: Ein Taco. Die Tortilla ist aus Sauerteig und mit Kaisergranat, gepickeltem Weißkohl und Kräutern belegt, überzogen mit einem geräuchtertem Chili-Dressing und einer Sauce aus Corail und Sanddorn. Dazu wird der Kopf des Krustentiers serviert, dessen Inneres man sich ebenfalls auf den Taco pressen soll, was angesichts der sehr harten Beschaffenheit des Panzers allerdings nur mäßig gut funktioniert. Egal, wir wickeln den Taco so gut wie möglich zusammen, beissen ab – und es schmeckt gut, sehr gut sogar. Würzig, frisch, sehr saucig, leicht scharf und sehr teigig. Insgesamt auffallend intensiv und im wahrsten Wortsinne vollmundig. Nur vom Kaisergranat schmecken wir nicht allzu viel. Sicher trägt er zum Wohlgeschmack bei, nur als »Produkt« geht er gänzlich unter, vor allem wegen der Tortilla. Das wirkt im ersten Moment irritierend, doch womöglich müssen wir einfach unsere Erwartungen und Vorstellungen neu justieren und an mexikanische Vorlieben anpassen.

Der nächste Gang ist ein Supplement (£25) und trägt den Titel »Asada«, was für »Gegrilltes« steht. Es handelt sich um einen weiteren Taco, diesmal mit britischem Wagyu, überzogen mit einer Sauce aus Knochenmark, Slobodne-Roséwein und Cascabel-Chili; die Tortilla wurde halb-halb aus weißem und blauem Maismehl gefertigt, was vor allem einen optischen Effekt hat.
Geschmacklich verhält es sich wie beim vorherigen Gericht: es schmeckt gut, sehr süffig, würzig und auf eine etwas diffuse Weise intensiv. Nur das Wagyu schmeckt man noch weniger als zuvor den Kaisergranat. Bemerkenswert ist die texturelle Ähnlichkeit von weicher Tortilla und dünn aufgeschnittenem Fleisch. Sicherlich steuert das Wagyu Umami bei, aber letztlich dient es vor allem als Kaumaterial. Kurz gesagt: dieses Extra braucht man nicht zwingend.

Es folgt ein vegetarisches Gericht unter dem Titel Mole, eine Sauce, mit der man hierzulande oft etwas Schokoladiges assoziiert. Tatsächlich bedeutet der aus dem indigenen stammende Begriff so viel wie »Gemisch«, wobei die Gemeinsamkeit aller Zubereitungen die Chilischoten sind. Hier besteht die Mole aus einer Emulsion von Eigelb, fermentiertem Stachelbeersaft, Kombucha und Guajilloöl, einer mittelscharfen, leicht rauchigen Chilisorte. Diese fruchtig-würzige Creme umringt ein Tatar von gebackener, marinierter Rote-Bete, deren ebenfalls leicht fruchtige Erdigkeit von der milden Chili-Schärfe sehr schön getriggert wird. Dazu gibt es Stücke von dunkler Tostada. Ein gutes Gericht.

Der Fischgang präsentiert eine appetitlich schillernde Tranche vom Seeteufel, saftig, zart und von auffallendem Geschmacksreichtum. Knusprige Hühnerhaut-Stücke steuern dunkle Noten und süffiges Umami bei. Benannt ist das Gericht mit »Natilla«, nach einer süßen mexikanischen Eigelb-Creme, die hier mildwürzig interpretiert wird. Uns ist sie ein bisschen zu mächtig und immer noch etwas zu süßlich. Dank der Qualität des Fischs bleibt es dennoch ein sehr guter Gang.

Für den Hauptgang, der zum Teilen gedacht ist, werden mehrere Teller aufgetragen. Auf einem liegt ein gegrillter Oktopus-Arm von einem offensichtlich großen Exemplar. Separat finden sich ein aufgeschnittener Markknochen, eine pikante Karottensalsa und eine Schale mit Wildkräutern und Kartoffelstücken. Außerdem frische Tortillas aus blauem Mais, warm gehalten in einer schicken Ledertasche. Aus diesen Zutaten soll man sich nach Belieben Tacos bauen.
Wir merken schon beim ersten Bissen, dass hier erneut der Überlagerungseffekt durch die Tortillas einsetzt: man schmeckt fast nur Teig. Also lassen wir die Fladen kurzerhand weg und machen aus Oktopus, Kräutern und Kartoffeln ein Tellgericht – so schmecken wir die einzelnen Komponenten, insbesondere den exzellenten Pulpo, aber auch die bemerkenswert guten Kartoffeln, können mit Salsa und Kräutern kombinieren und variieren. Das Knochenmark wurde leider mit Zucker karamellisiert und schmeckt dadurch deutlich zu süß – wir kennen die mexikanische Küche nicht sehr gut, doch zumindest in der hiesigen Interpretation scheint sie eine Schwäche für deutliche Süße in würzigen Speisen zu haben, die wir bislang von der kantonesischen Küche kannten. Am Ende ist das jedenfalls ein sehr wohlschmeckender, wenn auch recht rustikaler Hauptgang.

Den Übergang zu den Desserts bildet ein Sorbet aus Sauerampfer, Jalapeño und Mezcal. Im ersten Moment erinnert der Geschmack ein wenig an frisch gemähtes Gras, bis eine Sekunde später die kitzelnde Chilischärfe und der herbe Mezcal zur Geltung kommen – da geht ein Ruck über den Gaumen, wir sitzen unwillkürlich ein bisschen aufrechter. Frisch, »reinigend«, sehr ungewöhnlich und sehr, sehr gut.

Das erste Dessert kombiniert frisch gebackenen Maiskuchen (»Tamal«), den man selbst auspacken muss, mit einer Creme aus Gerstenmalz und Crème double, Malzcrumble und einer Sauce aus Mezcal, Kaffee und Mulato-Chili. Die Geschmackswelt ist dunkel und sehr üppig, und wenngleich der fluffige Kuchen im Mittelpunkt stehen soll, dominieren das Malz und vor allem der Kaffee. Etwas mehr Chilischärfe wäre uns hier willkommen, da sie das Ganze vielleicht etwas leichter wirken ließe.

Die finale Nachspeise besteht aus Buñuelos (Supplement: £15), dünnen, knusprig frittierten Teigschichten, umhüllt von Ancho-Chili-Zucker. Stücke davon soll man in eine Creme von Tunworth-Käse tunken, eine Art britischer Camembert. Dazu gibt es erfrischende Rharbarbercreme und ein hervorragendes Eis aus Tunworth. Im Grunde ist das kein Dessert, sondern ein Käsegang, eine Variante der britischen Käseplatte mit Crackern, herzhaft, leicht süß, ein sehr schöner Abschluss.

Mit den vorherrschenden Klischees von mexikanischer Küche wird im »Kol« gründlich aufgeräumt. Die Filigranität mancher Gerichte war beeindruckend, gerade auch im Spiel mit unterschiedlichen Chili-Varianten. Im Vergleich mit dem koreanischen »Sollip« und dem brasilianischen »Da Terra« war dies wohl die konsequenteste Übertragung einer mutterländischen Küche in einen europäischen Kontext – der sich hier nämlich weniger in geschmacklichen Zugeständnissen manifestierte, sondern nur in den britischen Zutaten.
Es zeigte sich allerdings auch, dass Verfeinerungen bei manchen Speisen nur bis zu einem gewissen Grad funktionieren, wir denken da speziell an die Tacos. Diese Empfindung ist natürlich von unserer eurozentrischen Vorstellung avancierter Küche geprägt. Ein Mexikaner wird das womöglich ganz anders erschmecken, so wie etwa ein Thailänder ganz anders mit der für uns kaum erträglichen Schärfe umgeht.
Letztlich muss man solch »fremde« Länderküchen nach ihren eigenen Maßstäben und den kulturellen Eigenheiten des Landes (oder gar Kontinents) betrachten, ein kulturanthroplogischer Akt, wenn man so will. Ein langer Weg.
Unserer führt als nächstes wieder in vertrautere Gefilde, zu einer Londoner Institution, wo einst Escoffier waltete. Manchmal tut das Erwartbare gut. Zu entdecken gibt es immer etwas...

Kai Mihm

Wein

Fragen an den Suffmeister (aka Sommelier) Anthony Gopal

Anzahl der Positionen?
Im Moment sind es etwa 180. Eröffnet haben wir mit 100, es ist also recht stetig gewachsen. Wichtig ist, dass wir seit Anfang des Jahres über 100 neue Referenzen haben - eine kürzere, sich ständig ändernde Liste ist viel spannender als ein langes, statisches Angebot.
 
Konzentrieren Sie sich auf bestimmte Regionen oder Stile?
Wir wollen den mittel- und osteuropäischen Weinbau repräsentieren - die autochthonen Rebsorten in diesem Teil der Welt sind in der Regel aromatisch und haben von Natur aus einen hohen Säuregehalt, der perfekt zu unseren Speisen passt. Im weiteren Sinne arbeiten wir in der Küche mit indigenen Gemeinschaften in Mexiko zusammen; es macht also durchaus Sinn, dass wir kleine Winzer hervorheben, die ihre eigenen regionalen Traditionen in unterrepräsentierten Teilen Europas pflegen.
 
Welcher Wein ist der günstigste und welcher der teuerste auf der Karte (und wie viel kosten sie)?
Wir haben ein paar Dinge im Keller, die nicht auf der Karte stehen, aber im Moment: Vins Suner Macabeu 2020 zu £35 und Clos Rougeard Brézé 2011 zu £488.
 
Die ungewöhnlichste Rarität?
Luka Zeichmann Schmutziger 2016; unglaublich cremiger Orange aus Österreich, sehr trüb abgefüllt. Luka gehört zu Joiseph, einem großartigen jungen Winzer-Trio im Burgenland. Jedes Etikett ist handgezeichnet und Teil einer 400-teiligen Animation, die von einer Verlobten der Winzer erstellt wurde.

Welchen Wein haben Sie seit der Eröffnung des Restaurants am häufigsten verkauft?
Nibiru Grundstein Gruner Veltliner
 
Ihre denkwürdigste Entdeckung der letzten 12 Monate?
Timothee Stroebel, Le Vin Tranquille Meunier Blanc 2018. Der Wahnsinn.
 
Ihr persönlicher Lieblingswein? Und weshalb?
Vouette & Sorbee Textures. Der erste Schaumwein, der mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Die Energie und Spannung, die er ausstrahlt, gepaart mit einer würzigen Komplexität, ist unglaublich. Bertrand Gautherot ist der Mann hinter der Abfüllung, der seit 1998 biodynamischen Weinbau betreibt und seitdem den Weg zu nachhaltigem Weinbau an der Côte des Bar und in der Aube-Region weist.

Wie würden Sie den Unterschied zwischen einem Wein-Pairing und einem Mezcal-Pairing beschreiben, insbesondere im Hinblick auf die Küche im Kol?
Obwohl wir versuchen, besondere Erzeuger und aufregende Cuvées hervorzuheben, geht es im Kern darum, was zu den einzelnen Gerichten gut schmeckt. Aufgrund des höheren Alkoholgehalts ist es natürlich etwas schwieriger, Mezcal mit den Gerichten zu kombinieren. Einige funktionieren perfekt (Sin Gusano Pechuga und der Flan ist eine unserer absoluten Lieblings-Kombis). Die Leute haben in der Regel ein weniger nuanciertes Verständnis der Mezcal-Landschaft - Regionen, Stile usw. -, so dass das Pairing eine Chance ist, zu zeigen, was es gibt. Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, wie gerade die Leute noch laufen können, wenn sie zur Tür hinausgehen...

Was war der ungewöhnlichste Weinwunsch, den Sie je von einem Gast von einem Gast erhalten haben?
Jemand fragte einmal nach den »funkiest« Flaschen, die wir haben – zum Glück haben wir immer ein paar abgefahrene Flaschen im Haus…

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