Restaurantkritik 16.Oktober 2020

Das Sommeruniversum

Wir kennen das schon: Nennen wir Kopenhagener Taxifahrern unser Ziel mit «Restaurant Geranium», sind die fragenden Blicke programmiert. Doch das «Telia Parken Stadium» ist hier jedem ein Begriff. Schließlich ist es die Spielstädte des FC Kopenhagen und gleichzeitig das Nationalstadion Dänemarks. Neben singenden und fahnenschwenkenden Fans finden sich hier an vier Tagen pro Woche Pilger ein, denen es nicht so sehr ums runde Leder geht, sondern vielmehr um eine Runde höchsten Genusses. Rasmus Koefoed hat sein Restaurant Geranium im Jahr 2010 hierhin umgesiedelt und als eines der besten Lokale der Welt etabliert. Drei Sterne leuchten seit 2016 über dem wohl höchstdekorierten Stadionrestaurant der Welt. Unser letzter Besuch fiel genau in die Saison, als Kofoeds Küche als erste Dänemarks mit der prestigeträchtigsten Auszeichnung der Kulinarikwelt dekoriert wurde. Höchste Zeit also für eine Gedächtnisauffrischung.
Neu ist, dass wir nun unten vor dem Eingang bereits vom Service begrüßt und in den Lift geleitet werden, der uns die acht Stockwerke nach oben bringt. Als sich die Tür des schmucklosen Fahrstuhls wieder öffnet, fällt uns direkt eine Veränderung am Empfang auf. Auch der erste Blick ins luftig-lichtdurchflutete Restaurant offenbart einige innenarchitektonische Anpassungen, die das sowieso schon hübsche Restaurant nochmals aufgewertet haben. Sehr schick und dabei von der ersten Sekunde an super relaxed. Diesen legeren Umgang mit Luxus beherrscht man in Skandinavien wie kaum woanders. Sommelier Mikael Båth stimmt uns mit einem Glas des exzellenten 2013er Los Nogers von Dhondt-Grellet direkt gekonnt auf die kommenden Stunden ein. Ohne weitere Umschweife geht’s los mit dem Menü.

Den Einstieg ins “Sommer-Universum” machen einige Apéros, beginnend mit Hummer, Milch und Saft von fermentierter Karotte und Sanddorn. Dieses Schälchen haben wir hier vor einigen Jahren so ziemlich 1:1 schon mal als Starter serviert bekommen. Mit dem Unterschied, dass es damals einen bleibenden Eindruck hinterließ. Heute nicht. Was vor allem an der Temperatur zu liegen scheint, denn der Inhalt des Schälchens ist schlichtweg zu kalt, um seine gesamte Aromatik entfalten zu können. Auch die Garstufe des Hummers ist nicht über alle Zweifel erhaben. Ein vielversprechender Auftakt sieht anders aus.

Ebenfalls in bester Erinnerung haben wir die knusprigen Topinambur-«Blätter» und Mayo mit gepickelten Walnussblättern und Petersilienöl. Anders als beim ersten Snack hat man es hier aber geschafft, eine Verbesserung herbeizuführen. Die ultra-delikaten «Blätter» sind geradezu wahnwitzig fein gearbeitet, dadurch noch krosser und einen kleinen Hauch süßer als beim letzten Mal. Somit ist die Marriage mit der üppigen Mayonnaise vollkommen

Ein weiterer Apéro-Klassiker ist die «Schwertmuschel» mit Mineralen und Sour Cream. Die Schale ist – ähnlich den Blättern zuvor – noch leichter und delikater gearbeitet und die kleinsten Muschelstückchen, die sie bevölkern, von atemberaubender Qualität. Erneut beeindruckend ist die Feinjustierung, die nicht besser sein könnte. Das haben wir allerdings bereits beim letzten Besuch gedacht.

Wer noch nicht wusste, dass Kofoed als ehemaliger Bocuse d’Or Champ auch ein relativ großes Faible für die französische Küche hat, dem wird das spätestens bei der Suppe von Cream Cheese mit Estragon und Schneckenkaviar unter die Nase gerieben. Und wie! Wie sich die samtene, über-elegante Opulenz an den Gaumen schmiegt ist einfach nur wow. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht die Kinnladen nach unten fallen lassen vor lauter Staunen und das wertvolle Elixier dann gleich wieder rausläuft. Ein Hauch von Estragon verleiht dem Ganzen einen herb-mystischen Touch, während die Schneckeneier puren Luxus verströmen und den Kreis bestmöglich schließen. Wir können nicht anders weitere Löffel der perlmut-schimmernden Delikatesse nachzulegen, bis das Schälchen leer ist. Nach dem erstaunlich ausdruckslosen Hummer zu Beginn waren wir schon besorgt, dass sich hier jemand auf seinen Lorbeeren ausruht. Absolut unbegründet, wie die drei Knaller danach gezeigt haben. Wir sind gespannt wie Flitzebögen, was noch alles kommt heute Mittag.

Mehr als verheißungsvoll ist der wunderhübsch präsentierte Ossietra-Kaviar mit Wasser und Kürbiskernen. Das Gefäß, in dem dieser Gang serviert wird, wird auf dem Foto leider nicht in seiner vollen Pracht wiedergegeben, ist aber eine wahre Augenweide, die das Gericht im allerbesten Licht erscheinen lässt. Der Inhalt der Steinschale muss sich vor der einnehmenden Optik des Geschirrs jedoch kein bisschen verstecken. Im Gegenteil. Was Kofoeds Truppe hier aus dem Hut zaubert, zeigt bereits beim ersten kleinen Löffel sofort sein Götterspeisen-Gesicht. Im Prinzip ist das ja ganz simpel: exzellenter Kaviar, jodig und nussig, die Kürbiskerne, die die Nussigkeit zusätzlich akzentuieren und durch die Röstaromen eine weitere Geschmacksdimension ins Spiel bringen, sowie etwas Kürbissaft, viel mehr ist da eigentlich nicht. Das Ergebnis ist Perfektion. Götterspeise. Tränendrücker. Jetzt erstmal tief durchatmen und sammeln, bevor es weitergeht. Nebenbei noch die kullernden Tränen wegwischen. Aufwühlend hier, verdammt!

Wie der Verwandte eines alten Bekannten erscheinen die roten Steine mit Jakobsmuscheln und Meerrettich. Wir kannten bisher nur die grüne Ausführung mit Makrele anstelle von Jakobsmuscheln, die zurecht als Klassiker des Hauses gilt. Diese St.-Jacques-Version ist etwas subtiler, einen Touch süßer und erdiger und gefällt uns insgesamt noch besser als die grüne Inkarnation. Sehr schön.

Weiter geht’s mit Sellerie, Söl, getrockneten Muscheln und aromatischen Kernen. Beim Söl (eigentlich „Søl“) handelt es sich um eine Rotalge, die gemeinsam mit den getrockneten Muscheln einen kräftigen Umami-Unterbau für den Sellerie bereitstellt. Gemeinsam bringen beide Elemente einen gewissen belebenden „Funk“ ins Spiel. Durch den zusätzlichen Umami-Kick wird das oft unterschätzte und zu Unrecht belächelte Eigenaroma des Doldenblütlers wunderbar hervorgehoben, während der «Funk» das Aromenspektrum gekonnt erweitert. Ähnlich verhält es sich mit den Kernen, die die nussige Seite des Selleries betonen und zusätzlich eine weitere Dimension in Form eines knusprigen Texturspiels beisteuern. Zum Reinlegen gut.

Als wir von weitem den Teller erspähen, der gleich aufgetragen wird, steigt unsere Vorfreude in schier unermessliche, außerweltliche Sphären. Ein weiterer Klassiker – ja, davon gibt’s hier so einige – kommt in Form von marmoriertem Seehecht mit Kaviar und Buttermilch auf den Tisch. In besserer Erinnerung könnten wir diese Götterspeise gar nicht haben, zählt sie doch zu unseren All-Time-Faves. Nach den ersten zwei Bissen stellen wir etwas zu unserer Verwunderung fest, dass Kofoed dieses eigentlich nicht zu verbessernde Gericht noch einmal verfeinern konnte. Die Feinabstimmung zwischen mild-jodigem Kaviar, zartem Fisch, cremiger Sauce und auflockernd-würzigem Petersilienöl ist noch akkurater als beim letzten Mal. Wir sind erneut den Tränen nahe. Wow!

Bei der gesalzenen und cremigen Forelle mit Wacholder und Zitronenverbene schaltet die Küche einen kleinen Gang runter. Aber nur einen ganz, ganz kleinen. Schon der erste Bissen weiß wieder mit dieser scheinbar unumgänglichen Geranium-Eleganz zu begeistern. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich auch, wie grandios hier mit Temperaturen gearbeitet wird, um das bestmögliche aus dem Produkt rausholen zu können. Die Forelle ist nicht kalt (sehr wichtig!), sondern kaum merklich gekühlt, damit sie ihren vollen Geschmack entfalten kann. Dieses superbe Aroma durch zu starke Kühlung zu unterdrücken, wäre eine Schande. Uns beeindruckt auch die Rolle des Wacholders, der nur in sanftesten Nuancen aufflackert, wie eine Kerze, deren Docht gleich ausbegrannt ist. Trotz dieses Hauchs von Nichts ist er präsent genug, um den Fisch ganz sanft zu begleiten und gemeinsam mit der Zitronenverbene zu einem unglaublich guten Ganzen zu erheben.

Austern aus dem dänischen Limfjord spielen die Hauptrolle im nächsten Akt. Kofoed legt die Mollusken in ein ultra-delikates Tartelette und toppt sie mit Gurke und Pinselbüschelalge. Letztere wird gerne auch „Truffle Seaweed“ – also Trüffelalge – genannt, da ihr Geschmack dem von Trüffeln ähnelt. Diese ungewöhnliche Meer-Erde-Aromatik unterstützt die meerig-salzige Qualität der makellos reinen Auster und setzt durch das erdige Umami einen zusätzlichen, luxuriösen Akzent. Abgerundet wird das Ensemble durch den Crunch des Tartelettes sowie die knackige Frische der Gurke. Sowas von gut.

Herrlich sommerlich sind die leicht geräucherten Erbsen mit Zwiebelgewächsen, getrocknetem Eigelb und geschmolzenem Vesterhavs-Käse. Obwohl eigentlich nur die Erbsen Sommer schreien. Doch im Setzkasten des Geranium befinden sich die richtigen Werkzeuge, um auch aus einem kräftigen Käse eine elegante, dabei intensive Sauce zu ziehen. Zwiebelgewächse ohne unangenehme Nebentöne in ein Gericht zu integrieren. Die mundfüllende Opulenz eines Eigelbs ohne die Schwere zu integrieren. Kurzum, ein weiterer Kracher. Nur dieses Mal einfach mit simpelsten, bescheidenen Zutaten.

Bei unserer letzten Stippvisite im Stadion zeigte die Küche einzig beim Hauptgang nennenswerte Schwächen. Wie so viele andere Lokale auch. Heute setzt man im Geranium auf rotes Fleisch, und das Lamm mit aromatischen Kräutern, Trüffeln und gepickelter Kiefer betört bereits beim Servieren unsere Nüstern. Was so verheißungsvoll riecht, zeigt sich auch am Gaumen von seiner besten Seite. Das junge Schaf ist von exzellenter Qualität, herrlich aromatisch und selbstverständlich perfekt gegart. Eingefasst ist das Fleisch sehr kräftig und dunkel. Ein Eindruck, der durch die Kräuter und vor allem die Kieferschößlinge aufgelockert wird. Letztere bringen durch ihre Säure auch einen willkommenen Frischepol auf den Teller, der alles ein wenig leichter gestaltet. Hört sich relativ langweilig an, schmeckt aber hervorragend und besitzt sogar gewisse Spannungsmomente.

Ein Bissen rote Bete, schwarze Johannisbeere, Joghurt und Tagetes eröffnet den süßen Reigen auf altbekannte, sehr gute Weise. Unsere Papillen sind erfrischt. Auch wenn sie das gar nicht nötig gehabt hätten.

Ebenfalls kein Unbekannter ist „der Wald“, bestehend aus Waldmeister-Eis, Sauerampfer-Crème und einem Pflaumen-Ast. Wir können uns an dieser Stelle leider nur wiederholen: Wie es Kofoed und seine Truppe schaffen, aus einer bereits perfekt geglaubten Kreation noch ein paar Quäntchen mehr Freude rauszuquetschen, ist teilweise wirklich fast unfassbar. Ähnlich wie beim marmorierten Seehecht wirkt dieses Arrangement noch klarer, noch filigraner und dadurch ganz einfach noch besser. Erfrischende nordische Dessert-Kunst in meisterhafter Vollendung.

Mittlerweile kann man es bereits erahnen: Auch das folgende Dessert haben wir hier in sehr ähnlicher Form schon einmal serviert bekommen. Bienenwachs-Eiscrème mit Pollen, gegrilltem Rhabarber-Karamell, geröstetem Getreide und gefrorenem Kamillentee. Doch auch in diesem Fall wurde ein wenig gepimpt, der Jahreszeit entsprechend mit Rhabarber. Dieser setzt dem betörend cremigen Eis trotz Karamellisierung einen willkommenen Säurepol entgegen. Toll erweitert wird die Aromenwelt durch die knusprige Nussigkeit des Getreides und den subtil-floralen Schimmer der Kamille, die dieser Süßspeise gemeinsam mit dem Rhabarber eine auflockernd-leichte Untermalung gibt. Mhhhhhh …

"This is The End" ist eine in Schädelform gebrachte Mousse von Lakritze und gleichzeitig eine Lüge! Es kommen nämlich noch die Petits Fours …

Grünes Ei mit Kiefer, Marshmallow mit Hagebutte und getrockneter Erdbeere. Sehr passend zum heutigen Lunch, schaffen es auch die abschließenden Petitessen, uns zu begeistern.

Was für ein geiler Lunch! Die Truppe um Mastermind Rasmus Kofoed hat sich seit unserem letzten Besuch wahnwitzigerweise noch einmal gesteigert.  (Spitz-)Findige Fresser könnten monieren, dass sich im Geranium in Sachen Neuerungen herzlich wenig tut. Dem können und wollen wir gar nicht widersprechen. Doch wer es schafft, perfekt geglaubte Gerichte noch weiter zu verfeinern und damit bei alles andere als altersmilden Fressern wie uns regelrechte Jubelstürme auszulösen, der macht einfach alles richtig. Zumindest in unserem Universum steht der Wohlgeschmack über der stetigen Neuerfindung. Oder möchte einer da draußen ernsthaft anzweifeln, dass das Geranium ein besseres Restaurant ist als die vier Buchstaben in Kopenhagens Süden, über die seit einer Dekade jeder spricht? Die drei Sterne leuchteten an diesem Mittag heller denn je über dem besten Restaurant Dänemarks.

Was das Geranium neben dem Essen zu einem der besten Restauranterlebnisse der Welt macht, ist der Service. Die Brigade geht mit einer entwaffnenden Nonchalance auf jeden einzelnen Gast zu, ist dabei authentisch und nie um einen Spruch verlegen. Man bekommt im Geranium wie in kaum einem anderen Lokal das Gefühl vermittelt, dass bei aller selbstverständlichen Professionalität immer der Mensch im Vordergrund steht und dass man aus ehrlicher Freude heraus jedem Gast die bestmögliche Zeit bereiten möchte.

Falls die genannten Gründe immer nicht ausreichen, um einen Tisch im Geranium zu reservieren: Dank des grandiosen Weinkellers und des fachkundigen Sommeliers kann man sich – und hier schließt sich wohl der Kreis zu den singenden Fußballfans – auch sehr gepflegt dem flüssigen Müßiggang hingeben. Bis zu unserem nächsten Besuch sollen jedenfalls nicht wieder drei Saisons der dänischen Superliga ins Land ziehen.

Fazit

Weltklasse in allen Bereichen. Egal ob auf dem Teller, im Service oder im Keller, Rasmus Kofoeds Geranium hat sich nachhaltig als eines der besten Restaurants der Welt etabliert. Für einen Besuch hier darf man getrost jede Reisestrapaze auf sich nehmen.

Autor: Thierry De Nullepart

Wein

Wenbegleitung im Geranium in Kopenhagen

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