Restaurantkritik 18.April 2019

Neue Staffelei für den Ma(h)ler

Als im vergangenen Jahr bekannt wurde, dass Nenad Mlinarevic das doppelt besternte Focus in Vitznau verlässt, war die Verwunderung allerorten hör- und lesbar. Der Posterboy der neuen Schweizer Küche hatte hier schließlich alles, was man sich als Chef nur wünschen kann: ein gut laufendes Restaurant, einen der größten Weinkeller Europas und schier unlimitiert scheinende Möglichkeiten. Doch ihm stand der Sinn nach Veränderung. Ein nachvollziehbarer, aber dennoch recht kühner Wunsch, wenn man den vermeintlichen Traumjob verlässt, um etwas eigenes auf die Beine zu stellen.

Der Blätterwald raschelte fast genauso laut, als es um seine Nachfolge ging. Das Park Hotel Vitznau hat, wie es auch im Fußball derzeit en vogue ist, keinen erfahrenen Mann von außen an den Pass geholt, sondern einem vielversprechenden jungen Typen aus dem eigenen Hause eine Chance an der Linie gegeben (um bei der Analogie zu bleiben). Patrick Mahler heißt er und war bislang Küchenchef des Prisma, des zweiten besternten Restos im Haus. Nach der Winterpause übernahm Mahler mit seinem Team das Ruder. Ein guter Grund also, sich mal wieder an den Vierwaldstättersee zu begeben, um das neue 'Focus' in Augenschein zu nehmen.

Das Park Hotel Vitznau ist ein Prunkbau direkt am See, mit wunderbarer Aussicht auf einen der schönsten Landstriche der Schweiz. Doch unser Blick gilt heute Abend nicht dem See und den Bergen, sondern dem auf die Küche. Trefflich, dass wir am Chef's Table sitzen und das muntere Treiben hautnah beobachten können.

Zum Start gibt es Fingerfood. Einmal Iberico Schwein mit Rettich, Kabis und Jalapeño-Crème. Herzhaft, knackig, präsente Schärfe. Dann noch eine Fenchelwurzel mit Fenchelpollen. Die Wurzel – frittiert und dann mit einem Pollenpulver bestäubt – mutet simpel an, geschmacklich ist sie jedoch durchaus mehrschichtig und gut.

Der nächste Reigen von Kleinigkeiten folgt auf dem Fuße: Ein halbiertes Macaron mit Bouillabaisse, Kaisergranat und Rouille-Crème ist zurückhaltend gewürzt und dadurch sehr elegant. Dennoch wundern wir uns ein wenig, denn Bouillabaisse und Rouille sind ja normalerweise durchaus kräftige Protagonisten. Ähnlich verhält es sich beim Tartelette mit Taschenkrebs, Alge und Hummerschaum. Die Aromen wirken fragil, beinahe flüchtig. Man muss ein bisschen genauer hinschmecken, um die Bandbreite zu erfassen. Ganz anders verhält es sich bei der Krustentieressenz, die ihren Duft am Tisch verströmt. Zwar zeigt sich auch hier eine verhältnismäßig zurückhaltende Essenz, doch der Name hält, was er verspricht: ein klares, tiefes Elixier. Sehr gut!

Bei der Königsmakrele mit Gurke, Buttermilch und grünem Apfel kommt der Fisch einmal gebeizt zum Einsatz (in der Schale links) – ein wunderbar austariertes Geschmacksbild, die einzelnen Komponenten toll miteinander verwoben, dazu herrlich leichtfüßig. Hieran kann man kaum etwas verbessern. In der Schale rechts finden wir ein Tatar der Makrele unter der hauchdünnen Brickteigscheibe sowie zahlreiche weitere Komponenten, die sich jedoch nicht so erfolgreich vermählen wie die im ersten Schälchen. Die grundsätzliche geschmackliche Idee bleibt zwar gut, ist aber nicht ganz so stimmig umgesetzt wie in der ersten Schale.

Der offizielle Teil des Abends wird von einer Brüggli-Lachsforelle mit Limone und Avocado eingeläutet. Eine hübsch anzusehende Deklination des Fisches (gebeizt, geröstet, mariniert), der blendend mit der Säure der Zitrusfrucht und der üppigen Cremigkeit der Avocado harmoniert. Die Gurken sorgen für etwas Frische und Knackigkeit, genauso wie die Radieschen, die zusätzlich punktuell Schärfe einstreuen. Ein sehr leiser Auftakt, der vom Hauptprodukt und den fein ausbalancierten Aromen lebt. Er will eher behutsam erkundet werden, als dass er mit der Türe ins Haus fällt. Schön.

Entenleber und Kumquat besteht aus einer Terrine, geräuchertem und gehobeltem Entenleberschnee, einem Entenlebereis, in Orangensaft eingelegten Kumquats, einer Orangenschalencrème, geeisten Haselnussperlen, rohen Haselnüssen sowie Arare (gepuffte Reiskügelchen). Das isst sich genauso, wie es sich liest. Vollmundig und feinsäuerlich fruchtig. Die Üppigkeit der Foie wird durch die Kumquat schön geschnitten, damit das Gebilde etwas leichter daherkommt. Handwerklich ist das alles ansprechend gemacht, auch die Abstimmung der einzelnen Elemente ist sehr akkurat, jedoch hält sich unsere Begeisterung über kalte Vogelleber-Zubereitungen seit längerem in sehr überschaubaren Grenzen. So auch hier. Ohne Fehl und Tadel, aber – zumindest für uns – nichts, das Begeisterungsstürme auslöst.

Auf den ersten Blick ungewöhnlich scheint der nun folgende Carabinero mit Tomate, Mango und Krustentierschaum. Ungewöhnlich vor allem wegen der Kombination von Tomate und Mango. Beim Lesen des Menüs an der Wandtafel hinter uns denken wir schon zu Beginn, dass man ja gut eines der beiden Produkte mit dem Meeresbewohner kombinieren kann, aber beide? Sehr zu unserer Überraschung zeigen die ersten Bissen jedoch, dass das durchaus funktioniert. Ziemlich gut sogar. Die beiden potenziellen Streithähne vertragen sich ausgezeichnet und ergänzen sich sogar soweit, dass man hier von einem durchaus spannenden Geschmacksbild sprechen kann. Vervollständigt wird das Ganze durch das Schäumchen (!), das den Carabinero betont – das kommt nicht oft vor. Sehr rund, dabei erfreulich anders und natürlich im Nu verputzt.

Weiter geht's mit Steinbutt, Kaviar, Fenchel und einer Muschel-Beurre-blanc.Was sollen wir hierzu nur sagen? Dieser Teller bedient auf vorzügliche Art und Weise jedes positive Klischee der modernen Hochküche. Edle Produkte in Ultra-Harmonie sozusagen. Vortreffliche Garung des Butts, inklusive dezenter Röstaromen; jodige Salzigkeit durch den Kaviar; elegante Saucenopulenz. Dazu als subtiler Konterpart die herbe Anisnote des Fenchels, die kräuterige Dillfrische sowie knackige Akzente durch die Salicornes. Unter dem Fisch versteckt sich etwas weißer Spargel, der sich am Gaumen nicht wirklich bemerkbar macht, was aber nicht weiter ins Gewicht fällt. Sowas haben wir natürlich schon dutzende Male vorgesetzt bekommen, doch so vorbildlich gearbeitet war es selten.

Was spätestens jetzt richtig auffällt, ist die Sorgfalt – man könnte auch fast von Schüchternheit sprechen – bei der Würzung. Wir fragen uns, ob das Mahlers Stil ist oder ob er erst dabei ist seinen Stil zu finden muss und deshalb noble Zurückhaltung praktiziert. Jetzt, wo es so langsam auf den Hauptgang zugeht, wird es spannend zu sehen, ob diesbezüglich eine Steigerung stattfindet.

Zumindest beim gegrillten Schweinebauch mit Edamame und Rettich stellen wir noch nicht fest, dass die Küche das imaginäre Würz-Gaspedal durchdrückt. Wir können uns jedenfalls nicht entsinnen, jemals einen solch feingliedrigen, ja fast schon eleganten Teller vorgesetzt bekommen zu haben, in dem der fette Bauch der Sau eine tragende Rolle spielte. Doch da fängt es bei Mahler schon an. "Sein" Bauch ist nämlich gar nicht so fett, und da ist sogar noch eine richtige Fleischschicht dran, was natürlich eine nicht unwesentliche Rolle spielt, da es somit ein bisschen schweiniger schmeckt. Und vor allem auch texturell, denn das Fleisch schmilzt nicht einfach so weg beim Gaumenkontakt, sondern muss tatsächlich noch etwas gekaut werden. Dadurch entsteht zusammen mit den süßlichen Sojabohnen, den knusprig-dünnen Chicharones und der saftigen Knackigkeit des Rettichs ein tolles, ineinanderfließendes Gesamtbild, bei dem man jedoch immer noch alle Elemente einzeln rausschmecken kann. Clever umgesetzt und saugut.

Kalbsmilke, Artischocke, Pilze und Sherry fällt fast schon klassisch aus. Das glacierte und leicht angebratene Bries ist mollig eingepackt in eine köstliche Welt aus bitter-belebenden, leicht knackigen und Röstaromen verströmenden Artischocken, die das üppige Bries gemeinsam mit dem Sherry schön kontrastieren. Und was könnte besser zur Milke passen als Pilze, vor allem Trüffel? Die leichte Sauce und der nicht allzu üppige Abrieb des Tuber sind eine klasse Ergänzung und bringen zusätzlichen Wumms und Komplexität auf den Teller. Einziger kleiner Wermutstropfen ist der fehlende Kontrast von knusprig gebratenem Bries und samt-weichem Inneren. Das ist natürlich eine persönliche Vorliebe aller Sternefresser, die durch das Glacieren sowie anschließend nur leichte Anbraten leider nicht wirklich bedient wird, jedoch würde so das Gericht in unseren Augen noch mehr aufgepeppt. Dennoch sehr schmackhaft.

Nach so einer Wuchtbrumme kann natürlich nur noch der finale herzhafte Gang folgen. Am Grand-Cru-Entrecote mit Aubergine, Broccoli und Bordelaise gibt es rein gar nichts auszusetzen. Ansprechende Produktqualität – der unscheinbare Broccoli ist sogar unerwartet hervorragend – stimmig kombiniert und technisch sehr solide umgesetzt, aber trotz des unerwarteten Gemüse-Highlights ein bisschen langweilig. Fleisch und braune Sauce = Hauptgangphalanx der westlichen Hemisphäre. Vom bescheidensten Wirtshaus bis zum Dreisterner. Um mit sowas kulinarische Glückseligkeit heraufzubeschwören, muss schon alles perfekt sein. In diesem Fall ist es einfach nur gut.

Der Blaue Büffel des Schweizer Ausnahmekäsers Willi Schmid wird nicht solo aufgetischt, sondern mit etwas Birne und Haselnuss aufgepeppt. Bei einem solch buttrigen Käse bringt gerade die süß-saure Obstfrucht etwas willkommene Auflockerung ins Spiel, während die nussige Seite des Büffels von den Samen des Birkengewächses akzentuiert wird.

Den Einstieg in die süße Welt des Focus macht ein Grapefruitsorbet mit Whiskey Sour und Thymian. Klasse, wie sich hier die potente Fruchtsäure der Grapefruit (die auch gegrillt im Schälchen landet) gemeinsam mit dem dezent kernigen Whiskey Sour Spoom und dem vehement an einen Sommer im Süden Europas erinnernden Thymian ein gelungenes, ungewöhnliches Ganzes ergibt. Besonders beeindruckt uns der perfekt eingebundene Thymian, der das Dessert auch für den Kopf sehr anregend macht. Dazu wird ein Grapefruit-Thymian-Eistee gereicht, der den Wechsel in die Dessertwelt komplettiert.

Kirsche, Schokolade, Kaffee und Milch sorgt für einen sehr lässigen und schmackhaften Abschluss. Hier wird die Pâtisserie nicht neu erfunden, sondern auf eine bewährte Ansammlung optimal aufeinander abgestimmter Aromen gesetzt, die zu gefallen wissen. Intensive Frucht, süßlich-bittere Schoki, dieser sibyllinische Hauch Kaffee und die wohlig-warme Vertrautheit der Milch – alle süßen Sinne werden gekonnt gekitzelt, ohne dabei in langweilige Beliebigkeit zu verfallen. Schön.

Natürlich darf auch die obligate Auswahl an fein gearbeiteten Petits Fours nicht fehlen: Karamellisierte Milchhaut, Salzkaramell-Praline, Schaumkuss, Rande - Kakao - Joghurt, Buchweizen-Macaron. Zumindest einer von uns kommt seiner Aufgabe vollumfänglich nach und verputzt seinen Teil der Friandises.

Patrick Mahler hat im Focus ein nicht zu unterschätzendes Erbe angetreten. Doch statt sich auch nur in irgendeiner Weise an der Küche seines äußerst erfolgreichen Vorgängers abzuarbeiten, schmeißt er einfach alles über Bord und macht sein eigenes Ding. Sein Ding ist eine Küche ohne geografische Beschränkungen oder sonstige kulinarische Grenzen. Ein lokaler Bezug scheint zwar immer wieder mal durch, doch es darf eben auch ein Butt aus der Bretagne sein oder ein Carabinero aus besten Gewässern. Diese Verwendung klassischer Luxusprodukte ist aber momentan noch ein zweischneidiges Schwert für das neue Team. Einerseits denken wir, dass Mahlers Küche grundsätzlich besser zum Hotel passt als die seines Vorgängers. Andererseits sind die Teller im Moment noch nicht eigenständig genug, um Fresstouristen von weiter her – über den ersten neugierigen Besuch hinaus – erneut an den Vierwaldstättersee zu locken und so zu Wiederholungstätern werden zu lassen. Zusätzlich fragen wir uns immer noch, ob die sehr zurückhaltende Würzung der Stil des neuen Chefs ist oder ob es ihm zu Beginn einfach noch ein wenig an Mut gefehlt hat, auch mal das eine oder andere Salzkorn zusätzlich auf seinen Kreationen zu flocken, um damit auch mal einen kleines Ausrufezeichen zu setzen. Denn die große Stärke des heutigen Menüs war gleichzeitig eine nicht zu unterschätzende Schwäche: Der Abend glich einem gleichmäßig-souveränen, aber auch stoisch vor sich hinströmenden Fluss. Keine Stromschnellen, keine Untiefen, kein kleiner Wasserfall, der das Adrenalin kurzzeitig in die Höhe schnellen lässt. Es war eher eine gemütliche Flussfahrt. Die natürlich auch ihren ganz eigenen Reiz hat. Jedoch könnten einige der Passagiere auf Dauer den kulinarischen Nervenkitzel vermissen.

Dem charmanten Service unter Maître Madeleine Löhner und Sommelier Sebastian Stichter, der Herr über einen der größten Weinkeller Europas ist, trauen wir jederzeit zu, auch höhere Fließgeschwindigkeiten mitzugehen. 

Fazit

Der Start ist gelungen. Patrick Mahler und sein Team haben uns ein solides Menü ohne Ausfälle kredenzt. Noch fehlen allerdings zwei Dinge, damit Fresser auch zu Wiederholungstätern werden: eine eigene Handschrift und der eine oder andere Kracher im Menü. Wir sind uns allerdings ziemlich sicher, dass man in Zukunft beides im Focus finden wird.

Wein

Die Weine im Restaurant Focus in Vitznau

Champagne Frédéric Savart, L‘Accomplie 1er Cru Extra Brut VV

2013 Clos Marsalette, Pessac – Leognan

2014 Château Lafaurie – Peyraguey, Sauternes

2014 Riesling Halgans, Emrich Schönleber, Nahe

2011 Chardonnay Ritchie Vineyard, Ramey, Sonoma County

2015 Pinot Noir Pilgrim, Weingut Möhr – Niggli, Maienfeld

2011 Barbaresco Pajè, L. Roagna, Piemont

1997 Grange, Penfolds, Barossa

2015 Materia Prima, Fritsch, Wagram

1968 Madeira Boal, D’Oliveiras

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Sebastian Stichter

Anzahl der Positionen?
Circa 4.400

Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Einen konkreten Fokus gibt es nicht, wir versuchen ausgesuchte Weine aus aller Welt anzubieten – in allen Preissegmenten. Das grösste Angebot allerdings, in Auswahl & Jahrgangstiefe, ist Bordeaux.

Welche ist Ihre preiswerteste/ teuerste Flasche?
Preiswerteste: 2016er Féchy, Domaine de Fischer, Waadt für 50 CHF
Teuerste: 1945er Château Mouton Rothschild, 5 Liter für 658.328 CHF

Die ungewöhnlichste Rarität:
Schwierig zu sagen – für mich wäre es: der 1795er Madeira von Barbeito Terrantez oder der 1864er Château Lafite, da das Château erst 1868 von Baron de Rothschild erworben wurde.

Welcher ist der meistverkaufteste Wein der letzten 12 Monate?
Bei uns im Focus ist es Champagner, Frédéric Savart L’Accomplie Extra Brut 1er Cru. Ein sensationeller „Winzer-Champagner“, von dem es nur 35.000 Flaschen gibt.

Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Ebenfalls der letztgenannte Champagner: Frédéric Savart, Montagne de Reims.

Ihr Lieblingswein?
Ganz klar weißer Burgunder – mir gefällt die Mineralität und Vielseitigkeit der Weine.

Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden?
Der Klassiker: Ein Gast verlangte jüngst Eiswürfel für seinen 1996er Petrus.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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