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Restaurantkritik 18.März 2017

KONICHIWA, EUROPA

Seit einigen Jahren ist Japan in aller Munde: Das ständige Streben nach Perfektion in Handwerk und Qualität sowie die Auslotung zwischen moderner Technik und althergebrachten Traditionen faszinieren nicht nur Essvernarrte. Grund genug, uns auf die Insel zu begeben und aus dem schier endlosen Fundus an großartigen Restaurants eine kulinarische Reiseroute zu stricken, aus der wir – ob der Menge an Eindrücken – die Höhepunkte dokumentieren.

Als Paradebeispiel für die Verbindung japanischen Geistes und westlichen Handwerks gilt das zweifach besternte 'Narisawa' in Tokio, das Dank seiner Top10-Positionierung in den "World’s 50 Best Restaurants" derzeit eine derart hohe internationale Aufmerksamkeit genießt, dass wir uns sehr freuen, heute Mittag vor der gläsernen Eingangstür zu stehen und unsere Namen in der Reservierungsliste zu wissen.  

Die Gegend um Minami Aoyama ist gepflastert mit kleinen Boutiquen, luxuriösen Autohäusern und gutbetuchten, ziemlich beschäftigt wirkenden Tokiotern. Das Restaurant selbst versteckt sich in einem Hinterhof, als flacher Anbau an der Rückseite eines unscheinbaren Bürogebäudes; eine sehr übliche Art der japanischen Spitzenküche, mit zunehmender Reputation und Exklusivität schwerer auffindbar zu werden. So müssen auch wir hier etwas suchen.

Yoshihiro Narisawa verließ Japan mit 19 Jahren, im Jahre 1988, um sich die Techniken der europäischen Küche anzueignen. Nach acht Jahren und namhaften Stationen bei Fredy Girardet in der Schweiz, Joël Robuchon und Paul Bocuse in Frankreich sowie einem einjährigen Aufenthalt bei Chef Ezio Santin in der 'Antica Osteria del Ponte' kehrte er in seine Heimat zurück. Dort eröffnete er das 'La Napoule' in Odawara an der Sagami Bay, 100 Kilometer außerhalb Tokios. Erst im Jahre 2003 zog Yoshihiro nach Tokio und erdachte das 'Les Créations de Narisawa', das einige Jahre später in 'Narisawa' umgetauft wurde, um 2008 den ersten und 2010 den zweiten Stern einzuheimsen.

Das Interieur ist ablenkungsfrei, aber geschmackvoll: dunkler Holzboden, dunkle Lederstühle, hohe Fenster, kaum Dekoration, und wenn überhaupt präsentieren sich schwarz/weiß/grau als tricolores Zentrum. Zu dieser Reduktion passt die nichtexistente À-la-carte-Auswahl, es gibt lediglich ein Omakase-Menü (täglich wechselnde Gerichte nach Gusto des Chefkochs), dessen erklärtes Ziel Narisawa als "Innovative Satoyama" beschreibt: die Produkte und Eigenheiten der japanischen Berge, Täler und Seen, kurzum seine gesamte, regionale Bandbreite, auf die Teller zu bugsieren. Dabei wird besonderer Wert auf die direkte Zusammenarbeit mit den Produzenten aus der jeweiligen Region gelegt. Das hört sich nach "brutal lokal" an und wir sind gespannt, wie der Koch und sein Team dieses Konzept kulinarisch interpretieren.

Fotocredit: Kevin Chan / Fine Dining Explorer

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Wir starten mit "Brot des Waldes 2010" mit Beifuß und Zitrusfrüchten, das uns hier als roher Teig präsentiert wird und während der ersten Küchengrüße am Tisch in einem heißen Stein fertig gart. Eine schöne Idee!

Während der Teig sich zu Brot formt wird uns eine Auswahl an äußerst hübsch präsentierten Kleinigkeiten gereicht.

Den Anfang macht eine Essenz des Waldes und der Landschaft. Das Wässerchen im Holzzylinder schmeckt leicht mineralisch und wurde mit Eiche aromatisiert. Wir fühlen uns tatsächlich etwas so, als würden wir es direkt aus einem kühlen Bach trinken. Das "Moos" in Form von Grün- und Schwarztee-Staub auf dem Holzbrett besticht durch leichte Bitterkeit und Süße, dazu gesellt sich der passende, fettige Crunch vom Gemüse-Tempura. Ein köstlicher Wald.

Nicht so unser Fall ist dagegen die Baby-Ayu mit Sakura (Kirschblüte). Der frittierte Fisch wird im Ganzen verzehrt und ist extrem bitter – die Kirschblüten-Reduktion steigert dieses Empfinden nochmals. Da andere Besucher, die vor uns hier waren, das Fischchen als mild beschrieben, gehen wir davon aus, dass die Küche hier einen Aussetzer hatte. So jedenfalls: ungenießbar.

Schon besser die in den schwarzen Brötchen versteckten, süßlich-frittierten Zwiebeln, die zusammen mit dem lauwarmen Teig ordentlich Appetit auf mehr machen.

Die Weichschildkröte aus Saga am Knochen ist durch ihre knusprige Teig-Hülle sowie dem heißen, herzhaften Inneren ein ebenso intensiver wie schmackhafter Einstieg.

Es folgt ein Dreierlei von Land und See: Das geflämmte Kobe-Beef aus Hyogo bringt viel Schmelz und tolle Röstaromen. Unter Rogen und Gelee versteckt sich rechts daneben ein Stück nussig-süßlich schmeckender Languste aus Shizouka. Rechts außen, quasi als "Papillen-Reinigung" nach diesen recht intensiven Herzhaftigkeiten, eine leichte Brühe von der Seeschlange mit etwas Gemüse aus Okinawa. Ein köstliches Mini-Menü in sich.    

Nun ist auch das "Brot des Waldes 2010" mit Beifuß und Zitrusfrüchten fertig gebacken und wird serviert. Außen heiß und mit schönem Biss, im Kern aber noch leicht weich, schmeckt uns dieses ungewöhnliche, mit Zitronenzesten versetzte Brötchen und die mit Teepulver überzogene Butter gut – wenngleich hier der Entertainment-Faktor im Vordergrund steht.

Als eine Art "japanische Ceviche", wie sie auch ein Tim Raue servieren würde, interpretieren wir die rohe Dorade aus Hyogo mit Botan-Garnele aus Ishikawa. Das Fleisch ist von ausgesuchter Qualität, schmelzig und pur, und verträgt sich "wie gelernt" mit der milden Säure der Yuzu-Vinaigrette, der punktuellen Chili-Schärfe und dem Koriander. Gut.

Die Venusmuschel aus Mie zitiert mediterrane Gefilde: Die sämige Sauce, ein reduzierter und mit Butter montierter Fisch-Fond, strahlt Rustikalität aus, die der feinen Muschel gut steht. Das Tomatenfleisch hat eine überraschende Säure, die dank der wohlplatzierten Edamame-Bohnen sogleich aufgefangen wird. Eine mit Bedacht abgeschmeckte, süffige Bouillabaisse, die wir an dieser Stelle – in diesem Land, in dieser Stadt, mit diesem Konzept – nicht erwartet hätten.

Gerade noch im Tank, jetzt schon auf dem Teller: Frischer kann man den Kaisergranat aus Shizouka nicht servieren, dazu gibt es Pestwurzen (aus Ishikawa) und Udo (japanische Narde, verwandt mit Ginseng, aus Tokio). Der Mini-Hummer schimmert etwas glasiger als man es in unseren Gefilden kennt, sodass weniger Nuss und Süße, sondern viel eher der meerige Eigengeschmack des Krustentiers im Vordergrund steht. Das schmeckt dann besonders gut, wenn jedes Stückchen mit der geschäumten, lauwarmen Beurre blanc ummantelt wird. Den regionalen Einschlag bringt das japanische Grün, das zum Teil säuerlich eingelegt, zum anderen Teil roh Verwendung findet und punktuelle, leicht bitter-vegetabilische Aromen beisteuert. Auf’s Wesentliche reduziert – und sehr gut!

Jeweils ein Stück von Torpedobarsch aus Yamaguchi und Haarkrabbe aus Ishikawa schwimmen in einem gebundenen Sud mit kleingezupften Krabbenstückchen. Die Garpunkte sind prima, nur: Hier fehlt eindeutig eine Prise Salz, um die Fleischstücke mit der geschmacklich zurückhaltenden Suppe, deren Konsistenz einer Sauer-Scharf-Suppe vom Chinesen gleicht, zu verbinden. So ist es in Summe etwas fad.

"Luxus-Essenz 2007" mit Abalone (Kanagawa) bezeichnet, etwas reißerisch, eine kräftige Brühe aus Rind, Schwein und Hühnchen. Die Abalone schwimmt in kleinen Stückchen im heißen, aromatischen Sud, ist sanft gegart und hat den für dieses Produkt typischen, zwischen fest und weich changierenden Biss. Wir sind sonst keine Riesenfans der geschmacklich eher zurückhaltenden Edelschnecke, in Kombination mit der wohlig erwärmenden, mit Fleischaromen gespickten Suppe passt sie allerdings prima.

Achtung, giftig! Der Kugelfisch (eher bekannt unter der japanischen Bezeichnung "Fugu") mit Fischmilch Yamaguchi darf nur nach Abschluss einer Lizenz verarbeitet und an Gäste verfüttert werden, da ein paar Teile des Fisches hochgiftig sind. Einige Japaner, so erfahren wir, konsumieren Kleinstmengen der giftigen Fleischpartien um leichte kribbelnde Taubheitsgefühle im Mundraum auszulösen. Der Hauptgrund, warum im Jahr im Schnitt eine Person einer Vergiftung erliegt ist also entweder Unwissenheit - oder schlichtweg eine Überdosis.

Wir gehen davon aus, dass unser Ableben nicht im Sinne des Restaurants ist, schließlich haben wir die Rechnung noch nicht beglichen, und stürzen uns auf das gedämpfte, mit der Gabel ohne Probleme zu zerpflückende Stück Todesfisch. Toller, zarter Biss, geschmacklich aber eher fad. Um das etwas aufzupeppen findet sich um den Fisch herum sowie im Tempuramantel die Fischmilch (das "Ejakulat der Fische", wie man uns mit viel eindeutiger Zweideutigkeit am Tisch vermittelt). Leicht säuerlich und mit einer herzhaften Prise Salz abgeschmeckt schafft die "Sauce" dem Fisch mehr Raum und Präsenz, der gebratene Lauch bringt hier und da etwas knackige Abwechslung und Bitterkeit. Lecker.

Als nächstes wird bei uns am Tisch ein schwarzer, zerfuchter Stein platziert auf dem sich ein kleiner Rost und ein Stück Holzkohle befindet. Wir erhalten den Hinweis, dass das Objekt sehr heiß ist und wir es daher besser nicht anfassen sollen. Wir denken zunächst an das "Campfire" im Alinea in Chicago zurück, doch was hat es hiermit genau auf sich?

Wir werden aufgeklärt: Es handelt sich um das Signature-Dish des Restaurants, ein Stück Rind aus Hida, das Sous-vide gegart und anschließend mit Lauchasche bedeckt wurde. Begleitet wird das saftige, rauchige Stück Fleisch von frittiertem, süßlichen Bambus sowie einer intensiven Reduktion aus schwarzem Knoblauch. Wir genießen jedes einzelne Gramm dieses fantastischen Trios, und die röstigen Aromen und die Süße klingen lange nach – puristisch und großartig!

Als Pré-Dessert kühlt ein Sorbet mit Matcha aus Fukuoka unsere Papillen ab, dazu etwas Milchcreme und schwarzer Tee in Texturen. Dabei ordnet sich die Süße der kühlen Luftig- und Cremigkeit unter, der besondere, zwischen Bitter und Frisch schwankende Geschmack des gemahlenen Grünen Teepulvers verteilt sich erst spät, dann aber mächtig im Mundraum. Sehr gut.

Die Erdbeere aus Nagasaki und das Anis-Magnolienwasser aus Gifu kündigen den Abschluss des Menüs an. Wir sind beeindruckt von der Qualität der Scheinfrucht, die nur so vor Süße und Intensität strotzt und in Liaison mit dem kühlen, leicht säuerlichen Wässerchen die perfekte Erfrischungspaarung eingeht, von der wir gut und gerne noch eine Portion vertragen würden.

Eine Auswahl an prächtig präsentierten wie hervorragend gearbeiteten Petit Fours begleiten den abschließenden Koffeinschub. Wir können nicht mehr alle Süßigkeiten rekapitulieren, erinnern uns aber sehr wohl an die köstliche Matcha-Trüffelpraline auf Nusskrokant (zweite von rechts).

Das war sie also, unsere kulinarische Fahrt durch die Berge und Seen Nippons, die sich eher angefühlt hat wie eine kleine Weltreise. Yoshihiro Narisawas Teller spielen mit der Erwartungshaltung des Gastes und springen munter und mühelos von mediterranen Interpretationen (Dorade und Garnele, Venusmuschel) zu japanischem Minimalismus (Kaisergranat, Abalonen-Süppchen, Rind). Die Vergangenheit des Chefkochs in Europa schwingt durch den Einsatz vornehmlich westlich geprägter Handwerks- und Gartechniken wie Buttersaucen und Sous-vide indes auf jedem Teller mit, was bei Gerichten wie dem Hida-Rind, dem Kaisergranat sowie dem fantastischen Erdbeerdessert teils prächtig, an anderer Stelle allerdings weniger gut funktioniert. So hätten wir uns Barsch und Krabbe eher reduzierter, sozusagen "japanischer", gewünscht, mit wenigen, dafür klar abgestimmten Aromen. Narisawa hat sich der großen Herausforderung angenommen, sowohl auf Augenhöhe der eigenen Wurzeln als auch auf der der westlichen Spitzengastronomie zu überzeugen – Sprunghaftigkeit bleibt hier nicht aus. Auf weiter Strecke erlebten wir allerdings ein schmackhaftes wie kreatives Menü, das uns bewusst gemacht hat, was für eine unglaublich vielfältige Produktwelt Japan zu bieten hat und wie mannigfaltig dieser Fundus auf die Teller gebracht werden kann.

Fotocredit: Yuya Shino

Wenn wir uns an die unzähligen Momente erinnern, in denen wir nur mit dem Einsatz einiger weniger japanischen Wortbrocken und viel Hand und Fuß an unsere Ramensuppen kamen, ist der Service im Narisawa mit fließenden Englischkenntnissen und seiner nonchalanten Art eine schöne Pause im Kommunikationsstress. Auch hier nimmt sich das Restaurant eher die westliche Lockerheit als Blaupause: Unser bärtiger Norweger, der auch als Eins-A-Hipsterbarista durchgehen würde, bediente uns lässig und war auch für den einen oder anderen Scherz zu haben. Das gleiche westliche Vorbild prägt auch die Weinkarte, die größtenteils mit importierten, mitteleuropäischen Gewächsen ausgestattet ist. Wir hielten uns heute allerdings an japanisches Bier.

Fazit

Japan trifft Europa: Yoshihiro Narisawa vereint die üppige japanische Produktwelt mit westlichem Handwerk und erschafft teils ausgefallene, teils geradlinige Kreationen, die bis auf wenige Schwachpunkte sehr gut schmecken.

Eure Meinung?

Französisches Handwerk in fernöstlichen Ländern – was haltet Ihr davon? 

 

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