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Restaurantkritik 16.April 2018

Im Reich der Sinne

Jeder Fressverrückte kennt das: Bereits lange vor einer Reise recherchiert man mit obsessiver Akribie die lohnendsten Restaurants im Zielgebiet - genauer gesagt ist es das Erste, was man tut. Und selbst wenn die Reise dann doch nicht klappt, behält man die Restaurants im Auge, als eine Art kulinarisches Versprechen, das sich hoffentlich irgendwann erfüllt. So ähnlich ging es uns über Jahre hinweg mit dem malerischen Städtchen Annecy: Mit der Ansammlung hoch gelobter Sternerestaurants mutet die Gegend am Lac d'Annecy wie das französische Gegenstück zum Baskenland an – nur hat sich das bisher leider kaum herumgesprochen. Mehrfach hatten wir Trips in die Gegend geplant, immer kam etwas dazwischen. Sehnsüchtig verfolgten wir die Entwicklung der Lokalgrößen.

Das Erstaunliche dabei war, wie einer der Chefs sich kulinarisch veränderte, selbst aus der virtuellen Ferne deutlich erkennbar: Laurent Petit vom zweifach besternten Clos des Sens. War seine Küche bei unserer ersten Recherche noch klassisch französisch geprägt, erfand Petit sich 2015 stilistisch neu: Kein Fleisch mehr auf der Karte, der Fisch nur noch aus den drei Seen der Region, Obst und Gemüse ausschließlich von lokalen Erzeugern. Das klang für uns im ersten Moment wie ein Aufspringen auf den modischen Regionalismus-Zug. Dann recherchierten wir weiter und mussten uns eingestehen, dass ein "Brutal-lokal"-Ansatz kaum irgendwo so sinnvoll umsetzbar ist wie in der Savoie/Haute-Savoie-Region, mit einer reichen Natur im Rücken und den fischreichen Seen von Annecy, Genf und Bourget quasi vor der Tür.

Das Restaurant selbst befindet sich im alten Teil von Annecy, etwas oberhalb der Innenstadt. Von außen sieht der kleine Gebäudekomplex (es gibt auch 10 Zimmer) in einem bürgerlichen Wohngebiet relativ unscheinbar aus. Umso verblüffter sind wir beim Betreten des Gastraums: zweifellos einer der schönsten, die wir kennen. An den Wänden geöltes und gebürstetes Holz, leicht angestrahlt; im ansonsten eher dunkel gehaltenen Raum sind die weiß gedeckten Tische mit Spots erhellt - wie gastliche Inseln in einem kulinarischen Universum. Eine Glasfront gibt den Blick frei auf einen hübschen Innenhof, Bäume und ein großes Kaminfeuer im anderen Gebäudeteil. Die Küche ist nur durch den steinernen Pass vom Gastraum getrennt. Es herrscht eine warme, elegant-rustikale und zugleich bemerkenswert urbane Atmosphäre. Sehr toll, das alles.

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Vor dem großen Menü (10 Gänge) gibt es ein paar kleine Amuses zum Champagner "Fidèle" aus dem Haus Vouette et Sorbée: frittierten Flussbarsch, eine Art Kaviar-Sommerröllchen, Felchen "Tarama" und ein Kräutertartelette. Das ist alles ungemein fein gearbeitet. Die frittierte Fischkarkasse hat Kraft, Crunch und ist nicht fettig, dazu das angenehm frische, knackige Röllchen mit leichter Salzigkeit. Die Felchenmousse ist ein feiner Hauch am Gaumen und das Kräutertartelette so zart, dass wir es mit aller Vorsicht in den Mund bugsieren müssen – wo sich ein elegantes Spiel aus Kräutern und Knusper entwickelt. Wow.

Weiterhin gibt es als Amuse Hechtnocken im Brotchip. Auch dies sehr filigran, leicht und trotzdem voller Geschmack.

Danach werden uns lebende Flusskrebse aus dem Genfersee präsentiert, deren Artgenossen im ersten Gang zum Einsatz kommen ...

... nämlich als Variation von Flusskrebsen: Tartelette von Kopf und Schere (vorne links), Chip und Tatar (darunter) sowie roh (oben). Über letztere Exemplare wird am Tisch eine heiße Bisque gegossen, die eine leicht garende Wirkung hat, aber durch Löcher im Boden der Schale sofort in den Becher darunter abfließt, auf einen Flußkrebs-Flan.

Holla, dieses kleine Schlaraffenland macht Lust, direkt zuzugreifen. Und wie köstlich das alles schmeckt! Die zarten Krebse, leicht warm, leicht gegart und von der Bisque leicht gewürzt, entfalten ihren ganzen eleganten Eigengeschmack. Die kraftvolle Bisque und der seidige, gehaltvolle Flan sind ebenfalls von erster Güte. Als Gegenpol zur heißen Suppe nehmen wir immer wieder etwas vom Tatar, kühl und erfrischend, nur vielleicht mit einem Tick zu viel Senf abgeschmeckt. Als Letztes das Tartelette, irre intensiv, wie ein abschließender sensorischer Paukenschlag. Was für ein Menüauftakt!

Als man uns im zweiten Gang die üppige Tarte von Kohl und geräuchertem Felchen präsentiert, wird uns etwas mulmig - wir haben ja noch einiges vor uns. Amüsiert betrachtet die Dame vom Service unsere erschrockenen Gesichter und beruhigt uns sogleich: Das ist nicht alles für uns. Puh.

Auf dem Teller haben wir dann ein kleines Stück vom Kuchen, nappiert mit einer Sauce von Felchenkaviar. Das hat genau die richtige Mischung aus Deftigkeit und Feinheit, aus Wucht und überraschender Leichtigkeit. Das Felchen ist ideal geräuchert (also mild), der Kohl knackig und zart, der Boden mit Biss. Die Sauce bringt etwas Säure und Cremigkeit. Ein tolles Gericht, das an einem anderen Ort so vermutlich kaum denkbar wäre und vermutlich auch nicht so gut funktionierte. (Und wir ärgern uns, dass wir nicht doch den ganzen Kuchen bekommen haben ...)

Weit weniger gelungen finden wir die Bottarga-Suppe mit Seesaibling, Belugalinsen und Buchweizen. Das hat einen einzigen, aber gewichtigen Grund: Die Linsen sind so hart, dass sie im Mund wie kleine Kieselsteinchen anmuten. Zwar erklärt man uns, dass dies so gewollt sei, aber das macht es nicht besser (wir können es auch kaum glauben). Zumal der ebenfalls feste Buchweizen die Textur-Funktion bestens abdecken würde. Für uns drängen sich die harten Hülsenfrüchte massiv in den Vordergrund und übertünchen sowohl die Wahrnehmung des exzellenten Fischs als auch der hervorragenden Suppe. Das ist schade, denn mit weicher gekochten Linsen könnte das ein tolles Gericht sein.

Zum Glück geht es beim nächsten Gang wieder steil bergauf: In einer Sauce mit Safran aus Salagine sitzen Stücke von weich braisiertem und geschmortem Kohlrabi, obenauf rohe Kohlrabistifte. Kohlrabi mit seinem feinen Geschmack gehört für uns zu den großen unterschätzten Gemüsen. Hier wird sein zwischen Erdigkeit und feiner Süße changierendes Aroma wunderbar in Szene gesetzt, und von der leichten Safransauce auf ein königliches Geschmackspodest gehoben. Weich, knackig, süffig - alles da, was man braucht.

Noch besser wird es bei der gerösteten Chicoreewurzel (um Verwirrungen vorzubeugen: in Frankreich heißt Chicoree Endivie). Die Wurzel wird zunächst blanchiert und dann in Butter gebraten. Darauf kommen Geflügeljus, krosse Entengrieben, etwas Zitronenschale und gehackte Mandeln. Das schmeckt unglaublich gut. Die leichte Bitterkeit der Wurzel wird von der Umami-Power des hochintensiven Jus (der eher eine Glace ist) aufgefangen. Die Zitronenschale bringt Frische und Leichtigkeit, die Entengrieben steuern Fett, Röstnoten und Knusper bei, die Mandeln Nussigkeit und Biss. Alles zusammen ergibt ein so süffiges wie spannendes Geschmacksbild, wie es stimmiger nicht sein könnte. In ganz kleinen Stücken essen wir diese Götterspeise, damit der Genuss nicht zu schnell zu Ende ist. Wir fragen uns nur, was mit den Salatköpfen des Chicoree passiert - die Antwort bekommen wir später am Abend ...

Als Hauptgericht gibt es Lachsforelle aus dem Genfersee, Pfifferlinge, Schnecken und "Sauce Mondeuse". Schnecken sind immer so eine Sache, denn eigentlich schmecken sie nicht nach viel - eigentlich, denn hier haben sie eine von uns bislang ungekannte Wucht: erdig, fleischig, würzig. Die knackigen Pfifferlinge verstärken den erdigen, nussigen Eindruck am Gaumen, so dass das oft bemühte Sprachbild vom Waldspaziergang hier ausnahmsweise mal Sinn ergibt. Erstaunlich auch, wie gut die Lachsforelle mit den kraftvollen Begleitern klarkommt. Und die intensive Rotweinsauce übertüncht die prächtige Tranche nicht, sondern führt alle Komponenten zusammen: kein Ringen um Vorherrschaft, sondern Geschmacksverdichtung par excellence. Groß, ganz groß.

Etwas Käse aus der Savoie und der Haute Savoie muss natürlich sein - die Auswahl ist exzellent.

Als Pré-Dessert gibt es Sorbet vom Tomme Blanche mit Rose. Ein sehr originelles Intermezzo, leicht süß, leicht säuerlich, mit feinem Käsegeschmack, der von der Rosensüße in Zaum gehalten wird. Fein.

Das erste Dessert ist eine Tarte Tatin von der Quitte. Da müssen wir nicht viele Worte machen: eine sehr gut zubereitete Version des Kuchenklassikers. Die Quitte, ein Rosengewächs, ist hübscherweise wie eine Rosenblüte angerichtet. In den Zwischenräumen der weich geschmorten Frucht sammelt sich die süßsäuerliche Sauce. Darunter ein Sockel aus krossem Mürbeteig. Schmeckt prima, ist aber auch mächtiger, als es aussieht.

Konzeptionell origineller ist das finale Dessert: Chicoree mit Meringue. Hier sind sie nun, die Köpfe der geschmorten Endivienwurzel. In einer Meringue-Hülle findet sich eine zarte Crème vom Chicoree. Letztere schmeckt sehr gut und changiert angenehm zwischen Süße und Bitterkeit. Das Problem ist die arg kristallin geratene Meringue - der Zucker knirscht förmlich zwischen unseren Zähnen. Wir vermuten zunächst einen Handwerksfehler, doch Fotos im Netz deuten darauf hin, dass das so gewollt ist. Verstehen können wir es nicht.

Versöhnlich stimmen uns die Petits Fours zum Espresso: hervorragende Madeleines sowie kleine Riegel von geröstetem Buchweizen.

Wir reden nicht lange drum herum: Das Clos des Sens gehört für uns zu den schönsten Entdeckungen der jüngeren Sternefresser-Geschichte. Wir können keine Vergleiche zu Laurent Petits früherem Küchenstil ziehen, aber unser Menü schmeckte, als hätte er nie anders gekocht. Die Beschränkung auf regionale Produkte und Fische aus den drei Seen der Umgebung wirkt in keinem Moment aufgesetzt, weil er diese der nordischen Küche entlehnte Philosophie mit den Tugenden (und Techniken) der klassischen französischen Haute Cuisine verbindet: Die Kreationen sind filigran und elegant, aber dank dem wohldosierten Einsatz von Butter und Sahne sowie dichten Saucen und Jus' war da nichts karg oder spartanisch. Vielmehr zeichneten sich fast alle Speisen durch einen üppigen Wohlgeschmack aus. Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet ein Franzose dem manchmal etwas freudlos anmutenden Regionalismus eine wohlige Schlemmerei einhaucht – oder ist das am Ende bezeichnend?

Bemerkenswert auch die junge, charmant-humorvolle und kenntnisreiche Servicecrew sowie der Sommelier, der eine originelle und äußerst stimmige Weinbegleitung kredenzte. Beides Qualitäten, die wir (gerade in Frankreich) weiß Gott nicht immer erleben. Mit seinem Ansatz hat sich Petit zwischen seinen Kollegen der Region ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet, das in jeder Hinsicht glänzend aufgeht. Beglückt verlassen wir das Restaurant. Und auch wenn die seit Jahren geplante Reise gerade erst stattfand, werden wir Petits Küche weiter im Auge behalten.

Fazit

Mit seinen köstlichen Kreationen beweist Laurent Petit, dass "brutal lokal" nicht zwangsläufig "spärlich und spröde" bedeuten muss. Ein Essen im Clos des Sens ist ein Fest, nicht weniger.

Text: Kai Mihm

Wein

Die Weine im Restaurant Clos des Sens bei Laurent Petit

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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