Restaurantkritik 24.November 2014

Vor den Toren der Stadt

Dass das mondäne Seebad San Sebastian im Baskenland zu den Fixpunkten auf der kulinarischen Landkarte gehört, wissen inzwischen sogar Reisende, die mit gutem Essen wenig am Hut haben. Aber dass sich seit einigen Jahren auch die baskische Landeshauptstadt Bilbao anschickt, zum Zielort für "destination diners" zu werden, ist außerhalb Spaniens bislang nur versierten Besseressern bewusst. Das ultrapuristische Nerua im Guggenheim Museum gehört zu den wichtigsten Vorreitern; das familiäre Mina am Altstadtufer sowie das frisch besternte Aizián sind weitere lohnende Adressen mit Ambitionen auf höhere Weihen.

Vor allem ein Mann aber hat Bilbao in den Fokus des Foodie-Jetsets gerückt: Eneko Atxa. Der 34-Jährige ist der neue Superstar der baskischen Avantgarde. Innerhalb von nur fünf Jahren stieg er in die Liga der Drei-Sterne-Köche auf. Aufgewachsen als Spross einer renommierten Winzerfamilie nahe der baskischen Hauptstadt, hat Atxa unter anderem bei Martín Berasategui, im Etxebarri und bei Andra Mari das Küchenhandwerk gelernt.

Sein eigenes Restaurant Azurmendi befindet sich in einer ländlichen Gegend, etwa 15 Autominuten von der City entfernt. Der imposante, ultramoderne Glasbau bietet mit seiner prominenten Hanglage einen fantastischem Weitblick über die umgebende, sattgrüne Landschaft; durch die geschwungene Betonschneise der nahen Autobahn bekommt das Ganze ein beinahe futuristisches Setting.

Beim Betreten des hallenartigen Foyers spürt man sofort: Die Atmosphäre ist elegant und gediegen – und trotz des vielen Grüns und der massiven Holzkunstwerke auch etwas kühl, beinahe museal. Aus den Boxen erklingt klassische, von spanischen Gitarristen experimentell interpretierte Musik. Der Anspruch des Restaurants als Gesamtkunstwerk ist unüberseh- und hörbar.

Bevor es zu Tisch geht, werden sämtliche Gäste nacheinander von der großen Lobby in das angegliederte Gewächshaus geführt, wo die ersten Snacks warten – eine sehr schöne Idee.

Doch leider klappte das Timing zumindest bei unserem Besuch nicht ganz so wie geplant, so dass mehrere Grüppchen eine gefühlte Ewigkeit und ohne Getränke in der Lobby ausharren mussten. Als Erstbesucher, ohne zu wissen, worauf man eigentlich wartet, fühlten nicht nur wir uns dadurch ein wenig wie "bestellt und nicht abgeholt". Inzwischen hörten wir aber von anderen Gästen, dass dieser Programmpunkt normalerweise besser abläuft.

Als uns Sommelier Jon William Herrera dann endlich in Empfang nimmt, ist jeder Unmut schnell verfolgen: Auf dem kurzen Weg zum Gewächshaus hellt er unsere Stimmung mit süffisantem Humor und einem unwiderstehlichen, angenehm selbstironischen Dandy-Charme auf. Beim Spaziergang durch die Kräuterbeete gibt er zudem immer wieder Hinweise auf "versteckte" Happen. So gefällt zum Beispiel eine eingelegte Kirschtomate durch einen intensiv fruchtigen, leicht säuerlichen Geschmack. Nach ähnlichem Prinzip funktioniert ein erfrischender Orange-Pomelo-Hibiskus-Jus (im Bild). Als Kontrast dazu gibt es einen mürben Kürbis-Käse-Biskuit, gefolgt von einem falschen Avocado-Kern mit Guacamole-Füllung. Zum Abschluss des kleinen Rundgangs wartet ein Chip aus Topinambur-Schale und eine leicht säuerlich marinierte Mini-Möhre. In Summe machen diese Snacks durchaus Vergnügen, leben aber nicht zuletzt von der originellen und spielerischen Präsentation.  

Zurück in der Lobby wartet ein Picknick-Koffer mit weiteren Snacks: einem Caipirinha-Bonbon, das anstelle von Rum mit dem baskischen Txakoli-Wein zubereitet wurde und intensiv nach fruchtig-süßer Limette und trockenem Wein schmeckt, einem herrlich fluffigen Brotsoufflé mit mildwürziger Schinkenfüllung und einer eingelegten Sardine (im Glas), die an sich von hervorragender Güte ist, für unseren Geschmack aber zu viel Salz abbekommen hat. Nach einem letzten Zwischenstopp in der riesigen Küche, wo eine etwas breiige Blutwurst-Praline und eine sehr gute schwarze Bohnensuppe gereicht werden (nicht im Bild), geht es schließlich zu Tisch…

… wo weitere Snacks serviert werden: eine Haselnuss aus Enten-Foie gras, eine Erdnuss aus Erdnusscrème mit Foie gras, eine Mandel aus Mandelmilchcrème und ein Ahornblatt aus getrockneten Pilzen mit Pilzpuder. Das schmeckt alles sehr gut, raffiniert und fein abgeschmeckt, wenngleich sich uns der Zweck der Trompe-l'œil-Präsentation nicht ganz erschließt...

Als nächstes gibt es einen Klassiker des Hauses: Eigelb mit Trüffelinfusion. Das halbrohe Eigelb bekommt dabei einen heißen Trüffelfond injiziert und muss in einem Happs verspeist werden. Das Ei entfaltet am Gaumen einen wundervollen, seidigen Schmelz, der dann von dem kraftvollen Trüffelaroma durchbrochen wird. Ein exzellenter Happen.

Es folgt eine "Bloody Mar" - eine Bloody Mary à la Azurmendi: Der übliche Wodka wird hier durch Seeigel ersetzt, dessen jodige Intensität in Verbindung mit dem Tomatensaft eine ähnlich intensivierende Wirkung hat, wie der Alkohol beim Original (außer dem Rausch). Obenauf liegt ein krosser Toast mit Seeigelcrème, Seeigelzunge und winzigen Selleriestückchen – vor allem durch die Schärfe des Selleries wird hier die feine Süße und leichte Nussigkeit des Seeigels zum Vorschein gebracht. Sehr schön.

Deutlich besser gefällt uns jedoch die gigantisch große Gillardeau-Auster, die Atxa unter einem Schaum aus Austern- und Meerwasser versteckt. Dessen milde Würze und fruchtige Säure unterstützen das Eigenaroma der Auster und mit seiner Fluffigkeit lockert der Schaum ihre glibberig-fleischige Konsistenz auf. Begleitet wird das Ganze von Seegras- und Seeanemonen-Tempura, das vor allem einen nötigen Texturkontrast beisteuert. Wunderbar.

Der geröstete Hummer mit Schnittlauch-Olivenöl-Emulsion sieht toll aus, ist handwerklich tadellos zubereitet und schmeckt sehr gut – aber leider auch recht konventionell. Das feinfruchtige Schnittlauchöl und die lauwarme, leicht scharfe Schnittlauchcrème fassen den zarten Hummer sehr schön ein, wirken aber sehr schnell auch etwas monoton. Ein wenig Abwechslung bringt das Schnittlauch-Cornetto mit Hummer-Tatar. Aber auch in einem klassischer ausgerichteten Restaurant hätten wir dieses Gericht als vergleichsweise langweilig empfunden.

Außergewöhnlicher die Foie gras mit Asche: Die Asche besteht aus gerösteter und mit schwarzem Salz gewürzter Foie gras, die nach der Garung gepresst wird, um möglichst viel Fett zu entfernen. Schließlich wird sie gefroren und zu "Asche" geschreddert. Die Röstung führt zu einem sehr tiefen, ganz leicht rauchigen Geschmack, der durch die hauchfeine Textur nicht überbordend wirkt. Darunter befindet sich eine exzellente Crème von Foie gras, deren Würze und Konsistenz wir nahezu perfekt nennen würden.

Sehr gut gefallen uns auch die Kalmar-Nudeln mit marinierten Zwiebeln und Kalmar-Jus. Der in Streifen geschnittene, al dente gegarte Kalmar wird mit einem stark reduzierten, dicht schmeckenden Jus übergossen; die eingelegten Zwiebelstreifen durchblenden diese Süffigkeit mit herb-süßer, schärfender Würze. Als Aroma- und Texturerweiterung dienen marinierte Fliegenfisch-Eier und eine krosse Kalmar-Praline.

Kleiner Wermutstropfen: Wir wissen zwar nicht genau, inwiefern Texturas die Sämigkeit der Jus verstärken, aber auf Dauer empfinden wir die Konsistenz als etwas "schmierig" – wobei auch erwähnt werden muss, dass wir in allen baskischen Restaurants diese Vorliebe für sehr stark gelierte oder eingedickte Saucen bemerkt haben.

Beim Eintopf mit Gemüse und Anchovis setzt Atxa ein großes Ausrufezeichen in Sachen Intensität. Über Stunden hinweg ausgekochte Schweinefüße geben diesem Gericht seine Wucht und eine äußerst sämige Beschaffenheit; die Anchovis verstärken das Umami, kleine Stücke von grünem Spargel geben Biss. Das dicke i-Tüpfelchen sind aber die Sphären von Idiazábal-Schafskäse obenauf. Deren salzige Intensität in Verbindung mit der zähflüssigen Umami-Bombe darunter macht uns etwas zu schaffen – und nach der Hälfte müssen wir tatsächlich aufgeben. Auch im Nachhinein wissen wir nicht recht, was wir von diesem Gericht halten sollen. Es besticht zwar durch seinen rustikalen Charakter und seinen unglaublich dichten Geschmack, wirkt in einem so großen Menü aber auch erschlagend.

Geschmacklich das genaue Gegenteil ist dann die Rotbarbe mit Seespinne und Blumenkohl: Der Fisch ist solide, aber die gezupfte Seespinne (unter dem Filet) und die Blumenkohl-Texturen lassen deutlich an Aroma vermissen. Anders gesagt: Vor allem der Blumenkohl schmeckt gänzlich nach nichts. Was bleibt, ist Langeweile. Schade, denn dieser Gang hätte so schön sein können....

Beim Hauptgang, Taube mit Pilzen und Trüffel, gehen die Meinungen am Tisch deutlich auseinander. Für einen von uns verhält es sich ähnlich wie zuvor schon beim Hummer: es schmeckt gut, aber eintönig. Die Taubenbrust hat schöne Röstnoten, und die Champignon-Duxelles ist stimmig abgeschmeckt, aber jenseits soliden Handwerks lässt das Gericht für diesen Sternefresser den kreativen Kick vermissen.

Ganz anders der zweite im Bunde: Für ihn handelt es sich um eines der besten Taubengerichte überhaupt. Der Eigengeschmack des Fleischs wird durch die nach "Wald" schmeckende Duxelles perfekt herausgearbeitet, die rohen Champigonscheiben und der Trüffel ergeben eine spannende, aromatische Abstufung der Pilznoten; ein kleiner Kressesalat (separat serviert) rundet das Ganze mit pfeffriger Frische ab. Simpel, aber genial.

Einigkeit herrscht dafür beim Pre-Dessert, Croissant von roten Früchten mit Frischkäseeis: Das "Croissant" aus einer Art Baiser schmeckt zu süß, und das Eis ist so übermäßig mit Thymian aromatisiert, dass es einem fast die Sprache verschlägt. Noch Minuten später wirkt der Gaumen wie parfümiert.

Das erste Dessert nennt sich Apfel mit Txakoli. In den Mini-Äpfeln befindet sich ein Bratapfel-Kompott, dessen Süße von einem würzigen Rucola-Gel aufgefangen wird. Dazu gibt es ein Apfelsorbet und rohe Apfelstücke, die mit Txakoli mariniert wurden. Das schmeckt alles nett, mehr aber nicht.

Als finales Dessert reicht man rote Früchte und Mandeln. Das Kirschsorbet ist hervorragend, während die Mandel-Karamellcrème zu klebrig und schwer ausfällt. Ein echter Plombenzieher sind die beinharten Zuckersteine. Da nützen auch die halbierten Himbeeren nichts mehr.

Die abschließenden Petits Fours sind dafür wieder gut.

Man merkt es: Der Besuch im Azurmendi war ein zwiespältiges Erlebnis. Dem eindrucksvollen Setting sowie originellen Ideen, wie etwa der Führung zu Beginn, steht eine überraschend formelle Atmosphäre im Gastraum gegenüber; das Menü beginnt spielerisch und modern, aber im weiteren Verlauf werden die Kreationen zunehmend, sagen wir: klassischer.
 
Großartige Gerichte wie die Auster und die Gänseleber stehen im Wechsel mit schlichtweg banalen Kreationen wie der Rotbarbe und dem Mandel-Dessert. Dazwischen handwerklich einwandfreie Gänge wie Hummer und Taube, die man entweder konventionell oder genial finden kann. Da bleibt als Ratschlag für den geneigten Leser nur, das Azurmendi einfach selbst auszuprobieren – denn als Gesamterlebnis funktioniert das Restaurant dank des Zusammenspiels aus toller Lage, eindrucksvollem Gebäude, kreativer Umsetzung und wohlschmeckenden Highlights zwischendrin durchaus. Zur Not kann man immer noch ein paar herrliche Tapas-Bars in San Sebastian besuchen – die Stadt selbst lohnt einen Besuch allemal.

Der Service unter Leitung von Jon Eguskiza (links im Bild) agiert professionell und zurückhaltend – wenngleich man als Gast ein wenig mehr Lockerheit durchaus vertragen könnte. In dieser Hinsicht begeisterte uns der eingangs erwähnte Sommelier Jon William Herrera, dessen selbstironische Distinguiertheit uns aufs Schönste an Mike "Austin Powers" Myers erinnerte. Chef Eneko Atxa hingegen ist das scheue, genialische und dabei sympathisch-bescheidene "Mastermind" im Hintergrund. Bei solchen Verbindungslinien bekommt plötzlich auch der Blick auf das James-Bond-reife Restaurantgebäude eine ganz neue Dimension…

Fazit

Eneko Atxa hat bei Bilbao einen durchaus einzigartigen Ort des Genusses geschaffen – auch wenn der Genuss für uns nicht durchgehend auf höchstem Niveau war. Das Lokal selbst ist atmosphärisch, modern und unverwechselbar. Und gerade weil wir beim Essen noch einige Kritikpunkte hatten, kommen wir sicher wieder.

WEINE

Champagne, Les Murgiers de Francis Boulard

2011 Txakolina "G22", Gorka Izagirre, Bizkaia, Spanien

2012 Sauvignon Blanc, Vacheron & Fils, Sancerre, Frankreich

2009 Riesling, Les Princes Abbes, Domaine Schumberger, Elsass

Sherry Pedro Ximénez, Old Harvest, Ximenez-Spínola, Jerez, Spanien

2008 Sauvignon Blann "Saxum", Menade, Rueda, Spanien

Sherry Palomino Fino, Antique Palo Cortado, Rey Fernando de Castillo, Jeréz, Spanien

1999 Vina Tondonia Reserva, López de Heredia, Rioja Alta, Spanien

2009 Secección Especial, Abadía Retuerta, Castilla y León, Spanien

2007 Gewürztraminer "Kleines Gewürz", Schäffer, Pfalz, Deutschland

2011 Txakolina, Arima V.T., Gorka Izagirre, Bizkaia, Spanien

2008 Porto "LBV", Taylor's, Porto, Portugal

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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