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Restaurantkritik  7.Juni 2019

Zwischen gestern und morgen

Knapp vier Jahre ist es inzwischen her, seit Jean-Georges Klein sein legendäres Restaurant L'Arnsbourg auf Grund von Familienstreitigkeiten verließ und in der Villa Lalique anheuerte. Ein großer Schritt, aber geographisch ganz nah: Die Villa liegt kaum 25 Minuten vom L'Arnsbourg entfernt, und auch in der Anfahrt über gewundene Sträßchen durch die dichten Wälder der Nordvogesen, wo man irgendwann denkt, falsch abgebogen zu sein, ähneln sich die Lokale sehr. Tatsächlich denken wir bei der Anfahrt, ob das Navi womöglich überfordert ist. Just in diesem Moment taucht die Villa Lalique wie ein mondänes Hexenhaus zwischen den Bäumen auf. Unwillkürlich fragen wir uns, wer diese Irrfahrt ins Nirgendwo wohl auf sich nimmt, um zu Speisen (die Antwort: sehr viele – am Donnerstag unseres Besuchs ist das Restaurant praktisch ausgebucht).

Das Anwesen gehört zur berühmten Kristallmanufaktur Lalique, die Villa war einst der Wohnsitz des Firmengründers René Lalique (1860-1945). Seit 2008 gehört die Firma zum Imperium des Schweizer Unternehmers Silvio Denz, seines Zeichens ein passionierter Weinsammler, was sich auch im Keller des Restaurants zeigt: Über 20.000 Flaschen lagern dort. Gute Voraussetzung für einen genussreichen Abend.

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Das Restaurant selbst befindet sich in einer Art Pavillon-Anbau mit vollverglasten Wänden (auch das erinnert ans L'Arnsbourg). Das Interieur ist ausgesprochen elegant, die Atmosphäre gediegen. Wie überall im Haus kommt sehr viel Lalique-Kristall zum Einsatz, von der Tisch- und Tellerdeko bis zu den Gläsern. Man muss diesen etwas kitschigen Stil nicht mögen (speziell bei den Weingläsern), aber wir sehen ein, dass es hier dazugehört. Ein nicht unwichtiger Unterschied zum L'Arnsbourg: Über der Villa Lalique glänzen bislang "nur" zwei Sterne.

Vielleicht auch deshalb steht Jean-Georges Klein seit Herbst 2017 sein einstiger Arnsbourg-Souschef Paul Stradner zu Seite. Der Österreicher hat uns schon während seiner Zeit im Brenners Park Hotel mit seinen eigenen Kreationen schwer beeindruckt. Erklärtes Ziel des Duos ist der dritte Stern, so wie früher. Mal sehen, was das Menü so in sich hat ...

Als Apéros gibt es ein Dreierlei, dem ein Lalique-Kristallhai zumindest optisch Konkurrenz macht: eine Calzone vom Flammkuchen mit Heringskaviar, ein Pilzsorbet mit Picon-Schaum und einen Sepia-Macaron mit Räucheraal. Das ist alles schön gearbeitet und schmeckt sehr fein, insbesondere das Pilzsorbet mit einem Schaum aus dem Aperitif-Bitter Picon gefällt durch Delikatesse und aromatische Spannung.

Es folgt das Goldene Ei mit Olive, Zitrone und Tanaisie. Auch dies sehr fein und zugleich aromenstark. Da ist Würze und Säure, Weiches und Festes, alles exakt abgestimmt. Sehr gut. Nur etwas heißer hätte es sein dürfen.

Der erste Gang des Menüs nennt sich Variation rund um den Kürbis. Auf dem Hauptteller liegen marinierte und geschmorte Hokkaidostücke sowie Tapiokaperlen in einer Zwiebel-Kürbis-Bouillon, darauf ein Gruyere-Schaum. Im Schälchen eine Royale vom Butternuss-Kürbis, eine Kefir-Mousse und ein Kürbiskerneis mit etwas Vanille, außerdem geröstete Kürbiskerne und Kürbiserkernöl. Das ist eine Menge und macht sicher jede Menge Arbeit – es schmeckt auch alles ganz nett und gaumenschmeichelnd, aber letztlich wenig einprägsam. Wir haben das Gefühl, dass es an Würze fehlt, und auch texturell ist alles etwas zu ähnlich, auf der weichen, cremigen Seite. Von dem weitestgehend geschmacklosen Schäumchen wollen wir (zunächst) einmal schweigen. 

Wenn da nicht wäre: das kleine Cornet auf dem Tellerrand, denn das ist schlichtweg sensationell. Das Cornet selbst (aus Kürbispüree gefertigt) ist unfassbar dünn und dabei unfassbar kross, die Füllung aus Crème double, marinierten Kürbis-Brunoises und Forellentatar schmilzt förmlich am Gaumen. Aber das Ding ist so klein! Wie ein flüchtiger Blitz am Gaumen... Wir wollen mehr! Bekommen wir natürlich nicht – und so bleibt das die kleinste Götterspeise der bisherigen Sternefresser-Geschichte.

Es geht auf hohem Niveau weiter: Auf einem Tatar von Bernsteinmakrele mit Selleriecrème thront ein üppiger Löffel Gold-Kaviar, dazwischen zwei hauchdünne Brotchips. Das ist in der Zusammensetzung so simpel anmutend wie genial. Der Schmelz und die hauchfeine Süße der Selleriecrème, der leichte Biss und das delikate Aroma vom Tatar, die enorme Knusprigkeit der Chips und zuletzt die elegante Jodigkeit vom Kaviar – alles greift hier millimetergenau ineinander, die Aromen verdichten sich am Gaumen zu einem luxuriösen Wohlgeschmack sondergleichen. Wir sind von den Socken, umso mehr, da wir das beim Einsetzen der Teller nicht erwarteten. Dazu noch ein souffliertes Buchweizen-Blini, in seiner köstlichen Zartheit mehr Wölkchen als Pfannkuchen. Die perfekte Ergänzung zum Hauptteller. Endlich wieder einmal ein Gericht, bei dem der Kaviar nicht nur pompöse Zierde, sondern zentraler Bestandteil der Komposition ist. Große Klasse und glasklare drei Sterne.

Der nächste Gang ist ein Klassiker Kleins, angekündigt als "Ein Gericht aus dem Jahr 2000": Jakobsmuscheln und Gänseleber, kleiner Artischockensalat und schwarzer Trüffel. Klingt toll, und wir glauben gerne, dass diese Kreation vor knapp 20 Jahren sensationell ankam. Heute wirkt sie beim Probieren auf uns altbacken und schwer. Die fette Leber und die rohe Jakobsmuschel sind sich texturell zu ähnlich (weich), der würzige, getrüffelte Artischockensalat verstärkt den Eindruck von Dichte und Mastigkeit, und die Trüffelscheibchen machen das Ganze noch intensiver und mächtiger. Nach der Hälfte geben wir auf, denn wir wollen die folgenden Gänge noch mit Genuss verspeisen. Nichts gegen die bewährte Kombi aus Foie gras, St. Jacques, Trüffel und Artischocke – aber das muss auch weniger wuchtig gehen.

Zum Glück zieht das Niveau mit dem nächsten Gang rasant an: Beim Seesaibling, langsam konfiert, mit Mandeln und Fichtenknospen-Vinaigrette zeigt sich Kleins genialisches Gespür für Purismus. Da ist ein Saiblingsfilet von bester Qualität mit seiner knusprigen Haut, obenauf knackende Mandelblättchen, dazu eine duftige Sauce, deren Aroma an Wald und Wiesen denken lässt. Mehr braucht es nicht, man muss es nur können. Grandios. Mehr gibt es hier nicht zu sagen, das diamantene Funkeln auf dem Teller bringt unsere Empfindungen bestens zum Ausdruck, wenngleich wir das zweite Schäumchen zählen.

Vor glückseliger Benommenheit vergessen wir sogar ein Foto zu machen, weshalb Paul Stradner uns nachträglich mit seinen Fotokünsten aushelfen musste.

Als Einschub von der À-la-Carte gibt es einen weiteren Klein-Klassiker: Emulsion von Kartoffeln und schwarzem Trüffel. Im Grunde ist das ein mit Trüffel bedecktes Kartoffelespuma. Schmeckt gut, ja, und sehr leicht, aber die Espuma-Zeiten (Schaum!) sind irgendwie vorbei. Heute können wir uns das besser mit einem klassischeren Püree vorstellen. Einst hatte dieses Gericht sicherlich avantgardistische Züge, heute wirkt es, ähnlich wie schon die Foie-gras-Vorspeise, nicht zeitlos, sondern wie aus der Zeit gefallen.

Mit der Chartreuse vom Blauen Hummer "Piña Colada" wird es exotisch – karibische Aromen in den Vogesen? Nun gut, wir meinen uns zu erinnern, dass Chef Klein sich auf seinen Fernreisen zu solchen Ausflügen inspirieren lässt. Warum auch nicht. Zum Teller: einige Hummerstücke sitzen in einer mit Rum abgeschmeckten, leicht weihnachtlich gewürzten Hummerbisque, bedeckt von hauchdünnen, marinierten Ananas-Scheiben. Dazu ein Wasabi-Kombu-Gelee, ein Ananas-Kefir-Limetten-Schaum (Nummer 3, so langsam wähnen wir uns in einem Badeparadies), auf dem Tellerrand ein Ananasgel. Der Hummer ist zwar saftig, aber bis auf die Schere leider nicht sehr zart. Die fruchtige Einfassung passt zunächst gut, wirkt auf Dauer aber zu süßlich; auch die Bisque hat einen süßlich anmutenden Touch. Die Schärfe des Wasabi hingegen kann sich nicht durchsetzen. In Summe bleibt es ein gefälliges Gericht, nicht mehr, nicht weniger.

Nun wird am Tisch ein Kalbsbries tranchiert und mit Zitronengras-Jus umgossen. Auf einem separaten Teller wird als Beilage Polenta mit Parmesan gereicht. Das Bries ist exzellent, außen perfekt kross und buttrig, innen weich, aber nicht schmierig. Der Jus schmeckt dicht und tief, hat zugleich auch eine angenehm dosierte Säuerlichkeit, was dem Ganzen Frische, Leichtigkeit und einen Hauch Exotik verleiht. Hervorragend auch die cremig-schaumige Polenta – auf Nachfrage erfahren wird, dass es sich um eine ganz klassische Zubereitung handelt, nur Maisgries und Milch, luftig aufgeschlagen. Ein staunenswertes Beispiel dafür, was man mit meisterlichem Handwerk aus dem rustikalen Maisbrei machen kann. Obendrauf ein wolkenleichter Parmesanschaum, Brotcroutons für den krossen Biss sowie etwas fruchtiges Olivenöl, et voilá: c'est formidable.

Jetzt gibt es einen Bruch mit der üblichen Menüfolge, den wir schon bei Yannick Alléno erlebten: Käse vor dem Hauptgang. Leider passt die Variation rund um Topinambur mit cremigem Pierre-Robert-Käse und Wintertrüffel überhaupt nicht in die Dramaturgie. Der Käse ist viel zu intensiv, der Topinambur (unter anderem als Schaum Nummer 5) und der Trüffel mit ihrer kräftigen Erdigkeit sind zu mächtig. Das schließt den Magen, anstatt ihn für den Hauptgang zu öffnen. Aber auch davon abgesehen ist diese Ansammlung strenger Aromen nicht unser Fall.

Als Hauptgang gibt es lackierten Rehrücken aus der Region mit Steinpilzen und Wildjus, reduziert mit fermentierter Zitrone. Man werfe einen Blick auf diesen dunklen, dicken Jus – eher eine Emulsion als eine Sauce! Auch geschmacklich ist das allererste Güte, die herbe, zitronige Note ganz elegant eingebaut. Beim Fleisch gibt es leider ein Problem: Es ist mehlig. Nach einer Reklamation kommt Ersatz, dieses Stück ist dann perfekt: zart und saftig, mit leichtem Biss und vollem Geschmack. Im Teigring gibt es dazu ein Pilzragout, ebenfalls sehr gut, wenngleich wir das Espuma (wir zählen schon nicht mehr) obendrauf nicht gebraucht hätten.

Vor dem Dessert dann der Klein-Klassiker schlechthin: Cappuccino von Kartoffeln und schwarzen Trüffeln. Am Boden der Tasse sitzt ein Kartoffelpüree mit Trüffelwürfeln, darauf ein Kartoffelespuma. Bei unserem Besuch im L'Arnsbourg vor einigen Jahren hatten wir den Cappuccino zur Götterspeise erklärt. Nun erleben wir einen seltenen Effekt: Die Götterspeise gefällt uns nicht mehr so gut. Der Trüffel kommt zu wenig zum Tragen, das Ganze ist nur wenig warm (im L'Arnsbourg war zumindest das Püree sehr warm, fast heiß). Vielleicht ist es uns inzwischen auch schlichtweg zu viel Schaum im Menü.

Nun freuen wir uns aufs Dessert. Die Interpretation von Crêpes Suzette klingt spannend, sieht auch toll aus – erweist sich aber leider als wenig überzeugend. Trotz der vielfältigen Orangen-Zubereitungen schmeckt es recht eintönig nach leicht bitterer Orange und Likör. Das ist bei traditionellen Crêpes Suzette auch so, aber die sind heiß und duftig und saucig. Vor allem hat die traditionelle Version feine Crêpes als Saucenträger. Was uns zum (für uns) größten Handicap dieses Desserts bringt: Die Crêpes-Röllchen sind kalt – und kalte Crêpes sind nicht wirklich delikat. Schade.

An dieser Stelle müssen wir auch ein Wort zur Weinbegleitung verlieren, die in der Villa trotz des eindrucksvoll umfangreichen Kellers nicht recht funktionierte. Dies lag einerseits an Kompromissen, wenn ein Wein zwei aromatisch konträre Gerichte begleiten sollte, oder an für uns unpassenden Pairings wie beim Sauternes vom hauseigenen Weingut, der das Suzette-Dessert mit seiner massiven Safranaromatik regelrecht erdrückte (obwohl Orange und Safran prima funktionieren können). Dann lieber gute Solisten, die das ganze Menü durchhalten.

Die guten Petits Fours können uns dann wieder etwas versöhnen.

Was für ein nachdenklich stimmender Abend. Wer unsere Hymne auf das L'Arnsbourg aus dem Jahr 2013 kennt weiß, dass wir Fans der Küche Jean-Georges Kleins sind. Dort genossen wir ein Menü, bei dem ein Highlight das nächste jagte. Und heute? Das Essen war sicher nicht schlecht, keineswegs. Aber es gab auch unerwartet schwächere Gänge sowie Irritationen in manchen Details – womit wir nicht zuletzt den häufigen Einsatz von Espumas oder Airs meinen. In dieser Hinsicht könnte eine leichte Modernisierung und Verjüngung mancher Kreationen unseres Erachtens Wunder wirken, gerade auch bei liebgewonnenen Klassikern.

Das soll nicht den Blick auf die Highlights verstellen, von denen es mehrere gab. Allen voran der Kaviar mit Makrele und der Saibling, nicht zu vergessen das Mini-Cornet zu Beginn. In solchen Gängen zeigt sich Kleins Meisterschaft, mit wenigen Komponenten unglaublich gute Gerichte zu produzieren: klarer Aufbau, schlüssige Harmonien, toller Produktfokus, köstlicher Geschmack. Daran dürfte sich so mancher junge Chef ein Beispiel nehmen.

Schauen wir also, wie es weitergeht. Das Potenzial für die höchsten Weihen ist vorhanden, und mit Paul Stradner steht Klein ein jüngerer Chef zur Seite, der eine sanfte Modernisierung (und Entstaubung) sicherlich gut unterstützen kann. Wir bleiben dran. Nächstes Mal schaffen wir es vielleicht schon ohne Navi ...

FAZIT

Ein Altmeister zwischen jugendlichem Elan und alten Zöpfen – her mit der Schere!

Text: Kai Mihm

Weine

Weinauswahl in der Villa Lalique in Wingen-sur-Moder

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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