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Restaurantkritik 11.Oktober 2019

Feuer, Flamme und Land Rover

Das Handy klingelt. Wir haben kurz zuvor auf die Uhr gesehen und gemerkt, dass wir etwas spät dran sind. Doch das akademische Viertel müsste schon drin sein. Die freundliche Dame vom Rössli in Escholzmatt erkundigt sich direkt nach unserem ungefähren Aufenthaltsort. Zum Glück sind wir in fünf Minuten da. Kann ja mal passieren, etwas Verspätung. Schnell das Auto parken und im Regen ins Restaurant gerannt, wo wir äußerst freundlich empfangen und sogleich in den Gourmetbereich geführt werden. Es ist 12.15 Uhr Der Service macht uns mit einem Augenzwinkern darauf aufmerksam, dass die Gäste zum Sonntagslunch aufgrund der kurzen Erklärungen um 11.30 Uhr erwartet werden. Autsch. Warum wir ausgerechnet heute zu spät sind, können wir auch nicht sagen. Auf einen Besuch beim Hexer haben wir so lange gewartet. Hat aber auch keinen Sinn, jetzt weiter darüber nachzudenken, schließlich sitzen wir nun endlich bei Stefan Wiesner und starten mit dem Menü...

Wiesner hat sich in den frühen 2000er-Jahren einen Namen gemacht, nachdem er im elterlichen Betrieb, den er mit gerade mal 21 Jahren übernommen hatte, jahrelang der italienischen Küche frönte. Irgendwann merkte er, dass das Dolce Vita Italiens nicht er war, und begann ungewöhnliche Zutaten und Techniken in seine Küche zu integrieren. Sein erstes Kochbuch aus dem Jahr 2003 hieß dann logischerweise "Gold Holz Stein". Seither hat er seine alchemistische Naturküche konsequent weiterentwickelt, forscht, werkelt und kocht mit allem, was die Natur so hergibt. Dass das Hand und Fuß hat, zeigen die 17 Punkte im Gault Millau und der Michelin-Stern.
Das dürfte ein spannendes Mahl werden. Auch, weil das Menü nicht nur das Essen enthüllt, sondern auch Wissen: Der Hexer erläutert jeden Gang im Detail und erklärt die Geschichte dahinter. Wir sehen Eure Augen rollen. Und ja, auch wir wollen nicht zum x-ten Mal hören, wie und warum Knut die Karotte vom Feld geholt hat, und warum sie nun möglichst naturbelassen auf dem Teller liegt, damit sie ihr Terroir perfekt zum Ausdruck bringen kann.
Dass die Monologe heute nicht so spannungsarm ausfallen werden, zeigt bereits die Vorstellung Wiesners, die er natürlich selbst übernimmt und während der er gleich mal seine ganze Philosophie erläutert. Der langen Einleitung kurzer Sinn - wir sind hungrig und bereit loszulegen. Das Menü heißt übrigens "Der Land Rover wird 70". Erschließt sich uns nicht ganz, doch dazu später mehr. Spannend ist auch, dass Wiesner noch nie ein Gericht zweimal serviert hat. Bei 4 Menüs pro Jahr über einen Zeitraum von gut 20 Jahren ... you do the math. Andere entwickeln 20 Gerichte, die sie ein Leben lang kochen. Sagt aber natürlich nichts über die Qualität aus.

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Bevor wir mit dem Essen beginnen können, müssen wir uns erstmal mit Arnikaschnaps die Hände befeuchten. Das aufgegossene Amador-Tuch in alchemistisch. Jetzt aber los. Es stehen Werner-Hefe-Sauerteigbrot mit Bier, Napfbutter mit Buchenholzkohle, Buchenholzkohlerauch und Buchenholzkohledestillat, mit Heu mazeriertes Rapsöl und Heurauch sowie Alpkäse mit Kohldistelsauce auf dem Tisch. Wir machen uns geradezu gierig über die Petitessen her und finden vor allem am unscheinbaren Käse Gefallen. Riesigen Gefallen sogar. Die Qualität ist schon hervorragend, doch vor allem die mystische Sauce des Korbblütlers ist geradezu benebelnd gut. Irgendwie nussig, herb, mit Anleihen an Artischocke und Grünkohl. Zu behaupten, dass sich bereits dafür die Anreise ins Schweizer Hinterland lohnt, ist vielleicht etwas zu weit gegriffen. Doch weit entfernt davon sind wir nicht.

Zwei Adjutanten des Hexers werden nun mit riesigen Knochen, Gestell und Säge in den Raum geschickt. Wir suchen kurz nach unseren Trinkhörnern, schauen aber dann doch den muskulösen Herren beim Zerteilen des gebackenen Simmentaler Rindsoberschenkelknochen zu. Dazu gibt's fermentierte Kräutermarksauce und Aschesalz aus dem Feuerring. Das schmeckt noch um einiges besser, als wir es erwartet haben. Doch die schiere Menge an Mark ist für uns zwei altgewordene Memmen zu viel, weswegen wir nicht alles auslöffeln. Obwohl wir ein wenig Angst haben, dass uns die beiden Köche darum höchstpersönlich auf den Block spannen und zersägen. Fred Feuerstein lässt Grüßen. Und Magnus Nilsson auch, den der Chef sehr schätzt, wie er uns im Vertrauen verrät.

Ähnlich rustikal - aber in vegetarisch - ist die Rande aus dem Feuerring. Es zeugt von großer Selbstsicherheit und Vertrauen in sein Können, eine simple, verkohlte und aufgeschnittene Rote Bete zu servieren. Denn viel mehr ist da nicht. Lediglich Wacholder ist hier noch mit im Spiel, in Form von mit den Beeren aromatisiertem Salz, karamellisierten Beeren sowie einigen in Gin getränkten Wacholdernadeln, die oben aufliegend leise vor sich hin rauchen und wohl unsere Sinne vernebeln sollen. Tja, so trügerisch einfach das wirkt, so fantastisch schmeckt es. Vor allem die verkohlte Schale bringt mit ihrem leicht bitteren Lagerfeuerton, der durch den Wacholder noch verstärkt wird, den passenden Kontrast zur natürlichen Süße der Rübe und macht ein richtig rundes Gericht daraus. Schön.

Wild bleibt's beim Reh vom bösen Wolf gefressen. Dahinter verbirgt sich eine Art Rehtatar (durch den Wolf gedreht, natürlich), das mit etwas Rehhornsalz gewürzt ist und von allerlei Präparationen der Arve eingefasst wird (gebackene und fermentierte Arvennadeln, Arvenholzmiso, geröstete Arvennüsse, gebackene und süß-sauer eingelegte Arvenflechten, Arvenessig und frische Arvennadeln). Obwohl wir ein Tatar generell lieber von Hand geschnitten als gewolft mögen, hat das fabelhafte Reh hier genügend Struktur, um nicht einfach nur als Fleischmus wahrgenommen zu werden. Sehr abwechslungsreich, ohne dabei überfordernd zu sein, ist die kräftige Zirbelkiefer. In Kombination mit dem Fleisch gefällt uns vor allem die süß-saure Zubereitung, die das Wild geschmacklich trefflich komplementiert. Ziemlich genau sowas haben wir vom Hexer erwartet. Natur pur in ungewohntem Gewand und nicht alltägliche Geschmackserlebnisse.

Das könnte man auch beim Butternusskürbis erwarten, der die Hauptzutat des folgenden Gangs ist, obwohl auf dem Menü Waldameise als Telleraufhänger notiert ist. Wiesner dekliniert den Kürbis (geschmort, eingelegt, Pesto aus den Blättern, gebackene Blätter, geröstete Kerne, karamellisierte Schale) und lässt beim Pürée die Ameisen zu Werke gehen. Dazu wird der Butternut in einem Ameisenhaufen vergraben - natürlich ohne dass die kleinen Viecher dabei zu Schaden kommen - und die Insekten dürfen sich über einen Zeitraum von mehreren Tagen daran austoben. Uns wurden schon öfter Ameisen vorgesetzt, und wir schätzen den zitronig-frischen Würzgeschmack, mit dem sie einem Gericht einen angenehmen Kick verleihen können. Doch in diesem Fall können wir den Einfluss der Ameisen nicht wirklich wahrnehmen. Müssen aber auch einschränken, dass wir nicht wissen, ob sich diese Art der Verarbeitung gustatorisch gleich auswirkt, wie wenn man sie als Ganzes vertilgt. So bleibt in Summe nur ein relativ simples, etwas zu stark ins Süße abdriftendes Gericht, das sicher nicht das Highlight des Lunchs sein wird.

Eine Art metallene Mini-Badewanne und ein gefrorenes Stück Metall mit einigen Auflagen sind das erste, was wir vom nächsten Menüpunkt zu Gesicht bekommen. An dieser Stelle müssen wir einfach mal die komplette Beschreibung des Gerichts direkt von der Karte wiedergeben: Forellenfilet, gebettet auf Moos und Bachkieselsteinen, bestäubt mit Bachkieselsteinmehl, begleitet mit Kieselsteingranitee, Bachkresse, Moossauce, Bolussteinsalz. Übergossen mit Bachwasser aus Forellenabschnitten, "Champagner" von Toni Ottiger, Kastanienbaum, Luzern, verfeinert mit 22 Karat Napfgold. Der erste Gedanke ist natürlich, dass wir das niemals alles rausschmecken werden oder können. Doch selbst wenn auf den ersten Blick einiges hier im Rössli mehr der Show geschuldet zu sein scheint, zeigt Wiesner, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Denn zumindest in Ansätzen können wir die Komponenten wahrnehmen. Alles an diesem Gang ist sehr natürlich, mineralisch, zurückhaltend (bis auf die Kresse) und schmiegt sich in elementarster Weise ganz pur aneinander. Das ist sicher nicht jedermanns Sache. Man muss eher erkunden, als dass man mit einer augenblicklichen Fresssensation beglückt wird. Lässt man sich darauf ein, wird man aber entsprechend belohnt.

Ein bisschen Vernebelungstaktik läutet den folgenden Gang ein. Unter einer mit Vogelbeerrauch gefüllten Cloche verbirgt sich ein Schüsselchen aus Propolis, das mit mit Rosenwasser gewürztem Geflügelleberparfait gefüllt ist. Darüber wird etwas Bienenwachs gegossen und das Ganze mit Vogelbeerblättergelée, eingelegten Vogelbeeren und Vogelbeerdestillat getoppt. Durch den Rauch bekommt alles einen kräftig-dunklen, schroffen Anstrich, und auch das Parfait ist eher herb als lieblich, während die verschiedenen Zubereitungen der Vogelbeere unsere Papillen kräftig durchrütteln. Das dürfte was aus der "Hate it or love it"-Fraktion sein. Wir finden's richtig, richtig gut.

Eine Wurst als Hauptgang im Sternerestaurant? Genau das sieht der Hexer nun vor. Würste sind ihm ein persönliches Anliegen, was man auch in seinem sehr empfehlenswerten Buch Wurstwerkstatt nachlesen kann. Vor uns steht nun eine ballrunde Wollschweinwurst, die in Merlot und Teer (!) gegart und danach im Schweineschmalz geschwenkt wurde. Belegt wird der Fleischball mit Wollschweinspeck, gehackten Trüffeln und einer Kümmelsauce. Die à point, sprich medium, servierte Wurst ist äußerst saftig, fleischig und harmoniert hervorragend mit dem Edelpilz und der eindringlichen Sauce. Dennoch sind die Meinungen am Tisch geteilt, ob das wirklich einen Stern verdient. Die Qualität spricht für sich, sagt der eine. Der andere bemängelt fehlende Raffinesse und eine gewisse Monotonie. Naja, selbst in der ansonsten so harmoniedurchfluteten Sternefresser-WG hängt manchmal der imaginäre Meinungs-Haussegen schief.

Minutiös in der Küche arrangiert und anschließend im Gastraum präsentiert wird der Käsewagen. Zwischen 60 und 80 (!) lokale Erzeugnisse präsentiert Wiesner jeweils. Zu jedem einzelnen weiß er etwas zu erzählen. Dass es immer noch Chefs gibt, die sich mit solcher Inbrunst diesem sowohl zeitlich als auch monetär anspruchsvollen Thema widmen, berührt unsere sonst so kalten Fresserherzen zutiefst. Danke dafür, Herr Wiesner. Wir lassen uns vom Meister eine kleine Auswahl zusammenstellen und genießen in aller Ruhe.

Zu Beginn des Lunchs wurden wir gefragt, ob wir unser Dessert mit oder ohne Blut mögen. Eine kuriose Frage, die wir aber dann doch mit "mit" beantwortet haben. Nun bekommen wir die Antwort zur Frage serviert: ein Flan aus Wasserbüffelblut. Tiefrot guckt er uns an und wartet darauf, gemeinsam mit verschiedenen Holunderzubereitungen, einem Büffelbuttercrumble sowie karamellisiertem Büffeljerkychip verspeist zu werden. Blut im Dessert ist gar nicht so ungewöhnlich, das haben wir auch schon im Frantzén in Stockholm und im Berliner Horváth gesehen - jedoch meist in Pralinenform. Beim Hexer ist die Ausprägung eine etwas andere, gröbere und vor allem merklich präsente. Von der oft leicht unangenehm metallischen Note, die Blut anhaften kann, ist gar nichts zu spüren. Der Flan ist vollmundig-cremig, dabei fast zart im Geschmack. Die floral-salzigen Beilagen lassen sich perfekt einbinden. Irgendwie aufregend und dazu auch noch äußerst schmackhaft. Was will man mehr?
Der Wasserbüffel hat beim Alpenrosen-Glacé mit Kefir, Wasserbüffelrohmilch, fermentierten Alpenrosenblätter mit Traubenkernöl und geeisten Alpenrosenblüten einen weiteren Auftritt. Die Cremigkeit des Eises bei gleichzeitig lebendiger Säurestruktur ist schon richtig geil. Die Rosenblätter mit ihrem mystischen Duft sind ein trefflicher Konterpart und vervollständigen dieses simpel anmutende Dessert auf bestmögliche Art und Weise.

Auch bei den Petits Fours lässt sich Wiesner nicht lumpen. Eine Praline mit Torf, wilder Schokolade, Milch und Langenthaler Whisky sowie eine Gelbe Enzianwurzel-Eiswolke komplettieren ein packendes Mahl.

Vor unserem Besuch wussten wir nicht so recht, was uns in Escholzmatt erwartet. Klar lasen wir die Berichte von Kollegen, des Hexers Bücher und haben auch die Doku in der Flimmerkiste gesehen. Doch Stefan Wiesner dreht für jedes Menü die Steine des Entlebuch wieder um und kreiert eine komplett neue Welt in seinem ganz eigenen kulinarischen Universum. Nun wissen wir, dass er sich trotz - oder gerade wegen - der Verwendung abwegiger Zutaten wie Torf und Bachkieselsteinen und einer ungebrochenen Experimentierfreudigkeit dem höchsten kulinarischen Gut verschrieben hat: Schmecken muss es.
Auch wenn die Show und vielleicht sogar ein gewisser Schockfaktor sicherlich ein nicht zu unterschätzendes Element im Rössli darstellen, passiert hier nichts, nur um Aufmerksamkeit zu erregen. Manche Gerichte überzeugen dabei natürlich mehr als andere. Der Kürbis zum Beispiel ist etwas gar monoton geraten, der Hauptgang sorgte zumindest für Diskussionen am Tisch. Das Tatar, die Leber und die Desserts waren dagegen über jeden Zweifel erhaben.
Man muss einen Besuch beim Hexer auch als eine Art Gesamtkunstwerk betrachten. Das rustikale Ambiente, Wiesner, der jeden Gang erklärt, die Darbietung und das Essen selbst sind untrennbar miteinander verwoben und wollen ganzheitlich erlebt werden, um vollumfänglich genossen werden zu können. Das Menü, das wir heute serviert bekamen, hört übrigens auf den Namen "Der Land Rover wird 70", weil der Hexer viele Zutaten mit seinem alten Land Rover Defender einsammelt und transportiert. Irgendwie clever und irgendwie skurril. Typisch Wiesner halt.

Fazit

Das Erlebnis Hexer enttäuscht nicht. Stefan Wiesner ist ein wahres Unikat der Kulinarik, dem jeder geneigte Fresser mindestens einmal einen Besuch abgestattet haben sollte.

Wein

Die Weinauswahl im Restaurant Rössli in Escholzmatt

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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