Restaurantkritik 21.Mai 2019

Der schnelle Jérôme

Zwei Sterne, das ist bekanntlich eine sehr hohe Bewertung, die für außergewöhnlich gute Küche steht, welche gemäß Guide Michelin »einen Umweg wert« ist. Trotzdem gibt es Orte, wo man selbst mit dieser Auszeichnung in der Masse untergehen kann. Wir meinen Paris. Dort gibt es satte 15 Zweisterner (zusätzlich zu den neun Dreiern), also mehr als genug für ein langes Wochenende. Und egal, wie oft wir die Stadt besuchen, gibt es immer diese Restaurants, wo wir überlegen, zögern, reservieren wollen – und es dann aus einem Bauchgefühl heraus doch nicht tun.

Das Le Gabriel war lange so ein Fall. Zwei Sterne, tolle Kritiken, aber am Ende dann doch nur ein Zweier von vielen, wobei andere immer irgendwie reizvoller auf uns wirkten. Diesmal aber sollte es sein. Wir hatten von geschätzten Freunden und verlässlichen Fressverrückten wieder einmal nur Bestes gehört. Für ein kleineres Menü am Ankunftsabend schien es uns genau passend.

Das Restaurant befindet sich im ausgesprochen noblen und bemerkenswert schönen Hotel La Réserve in der Avenue Gabriel, nahe den Jardins des Champs-Élysées. Der Gastraum wirkt auf Fotos vielleicht etwas altbacken, gehört tatsächlich aber zu den stimmungsvollsten, die wir kennen. Es herrscht eine Atmosphäre entspannter Noblesse. Von manchen Tischen, darunter der unsere, hat man sogar einen Blick auf den Eiffelturm. Paris wie im Film. Und die Küche? Nun, Chef Jérôme Banctel hat früher unter anderem bei Alain Senderens und im L'Ambroisie gearbeitet. Es gibt schlechtere Voraussetzungen. Also dann ...

Als Amuses kommen drei Happen auf den Tisch: ein hauchdünn knusperndes Kissen aus Sellerie mit Pinienkernen, Salbei und Parmesan; eine ebenso filigrane Tartelette mit Zwiebelconfit und rotem Pfeffer und schließlich eine wolkenzarte Yuzu-Meringue mit Krabbenfleisch und Granny-Smith-Gel. Das ist alles sehr, sehr fein gearbeitet und die diversen Aromen kommen exquisit zur Geltung; vor allem die Yuzu-Krabben-Kombination gefällt uns ganz ausgezeichnet. Das könnte heute etwas Großes werden.

Sehr kurz nach den Apéros beginnt das Menü, und zwar mit einem Knaller: Artischocke "Macau". Die Herzen des Gemüses sind mit japanischem Kirschessig glaciert, darauf Artischockenchips und frischer Koriander, dazu Artischockenpüree, Kirschessiggel sowie eine Barigoule-Emulsion. Wir nehmen es vorweg: Kein Wunder, dass diese Kreation ein Klassiker der Küche ist. Sie schmeckt unfassbar gut. Der delikate, erdige Eigengeschmack der Artischocken wird durch die diversen Zubereitungen geradezu genial herausgearbeitet. Es ist texturell abwechslungsreich, durch den Essig angenehm frisch und leicht fruchtig, durch die federleichte Emulsion cremig und dicht – nein: ein Gedicht. Wow.

Wir haben diesen Hochgenuss noch auf der Zunge, da kommt – keine fünf Minuten nach dem Abräumen – bereits der nächste Gang auf den Tisch. Nun gut. Es sind Jakobsmuscheln mit Topinambur und einem Jus aus Dalmore-Whisky. Die prächtigen Muscheln, man sieht es, sind exzellent geröstet: außen gleichmäßig braun, innen saftig im Kern noch eine Spur milchglasig. Dazu die Topinambur als Püree, Chip und glasiertes Bonbon, leicht erdig, leicht süßlich, die nussig-röstige Aromatik der Muscheln sehr schön unterstützend. Den Clou bildet indes der Jus: Der rauchige, leicht salzig-torfige Whiskygeschmack gibt diesem klassisch anmutenden Teller eine ungeheure Spannung, ohne die Hauptdarsteller zu dominieren. Das ist einmal mehr verdammt gut, gerade auch in der klaren Aromenstruktur und der wohltuend übersichtlichen Ausgestaltung.

Offenbar wirken wir sehr hungrig, denn keine zwei Minuten später eilt der Service mit dem nächsten Gang an unseren Tisch. Sehr irritierend, aber sei's drum. Auf dem Teller haben wir einen weiteren Klassiker des Hauses: Lachs, mariniert in Yuzu, mit Daikon, Auberginenmousse und Pollen-Emulsion. Der Lachs ist zweifellos von exzellenter Produktqualität, butterzart am Gaumen, delikat im Geschmack und von der Marinade sehr elegant gewürzt. Allein die Kombination mit der immer etwas dumpfen Aubergine und der leicht bitteren Pollen-Emulsion empfinden wir als nicht so stimmig. Kein missratenes, aber ein braves Gericht; nichts, was uns zum Träumen bringt.

Diesmal sind wir vorausschauend und bitten den Service beim Abräumen um etwas mehr Zeit bis zum nächsten Gericht. Das funktioniert …

… immerhin 10 Minuten gewährt uns die Küche, dann kommt der Hauptgang. Beim Huhn von La Cour d'Armoise verhält es sich ähnlich wie beim Lachs: Das Produkt ist exzellent ebenso die Garung. Das Fleisch ist wunderbar saftig und hat einen für Huhn bemerkenswert vollen Eigengeschmack; die Haut ist perfekt kross. Allein, es fehlt an Beigaben, die aus der kleinen Produktschau eine große Kreation machen. Die puren Kräuter (Petersilie, Kerbel), so sehr wir sie mögen, wirken in ihrer leicht pfeffrigen Würzigkeit schnell dominant. Auch der etwas feste Raviolo aus grünem Kräuterteig schmeckt vor allem nach der Kräuterwürze. Da hilft auch der Löffel eines hervorraenden, vielleich einen Tick zu klebrig eingekochtem Hühnerjus nicht mehr viel. Produktgüte hin oder her, am Ende bleibt uns das alles etwas zu simpel.

Dafür kann das erste Dessert wieder voll überzeugen: Ein Törtchen aus Zitronencrème ist gefüllt mit karamellisierten Mandeln, Stücken von Pain de Gênes, Zitronenconfit und Quark-Miso-Vanillesorbet; der »Deckel« des Schiffchens besteht aus Earl-Grey-Vanille-Meringue. Pâtissier Adrien Salavert verbindet hier kräftige Zitrusfrische mit der Dichte des Pain de Gênes, einem Gebäck aus Mandelpaste, Eiern und Butter, sowie der hauchfeinen Umami-Salzigkeit des Miso. Das ist eine originelle Idee, umgesetzt mit vollendeter Pâtisserie-Handwerkskunst – mit dem Resultat einer frischen, lebendigen Komposition, die durch den Umami-Touch dem Gaumen umso mehr schmeichelt. Schlichtweg grandios – mehr noch: eine Götterspeise.

Da kann das wenige Minuten später servierte zweite Dessert leider nicht mithalten, wenngleich es sich um ein Signature-Dessert Salaverts handelt: Die Kaffeebohne besteht aus einer Espresso-Meringue, gefüllt mit Milcheis, Kirschsirup, Galabé-Zucker und Kaffeestreuseln. Die Meringue ist zwar bemerkenswert fein gearbeitet, bekommt in diesem Kontext, speziell beim Anschneiden, aber auch etwas quietschig-styroporhaftes. Die Füllung ist angenehm mild und frisch, das Gesamtbild nur wenig süß und wenig kaffee-intensiv. Diese Qualitäten bilden zugleich auch das Handicap des Desserts: Es bleibt allzu gefällig, will nicht fordern oder gar irritieren (um dann Begeisterung oder Ablehnung auszulösen). Das Resultat dieser Zurückhaltung mag man elegant nennen – wir finden es fad.

Ganz ausgezeichnet gefallen uns dann wieder die Petits Fours, insbesondere die Vanille-Windbeutel sind à la bonheur!

Das war ein Abend mit Höhenflügen und Schwächen. Wir finden es immer wieder erstaunlich, wie es zu solchen Diskrepanzen innerhalb eines Menüs kommen kann. Es gab zwei exzellente Speisen, gefolgt von zwei mäßigen Gerichten; bei den Desserts gab es ein ganz hervorragendes und ein eher langweiliges. Ein wenig erinnert uns das an das Le Meurice, wo sich das Menü ebenfalls in zwei Hälften teilen ließ, gut und schwach. Anders als dort lag das Problem im Le Gabriel jedoch nicht in der Handwerklichkeit oder den Produkten - beides war heute über jeden Zweifel erhaben. Uns fehlte es bei den schwachen Gängen vielmehr an Konsequenz im Purismus und an jenem Funken, der bei uns die Sterne aufgehen lässt. Dass Jérôme Banctel ein Könner ist, daran haben wir keinen Zweifel. Nur funktioniert sein Konzept einer beinahe japanisch anmutenden Reduziertheit nicht immer so gut, wie es könnte.

Mag man über Speisen noch geteilter Meinung sein, geht das beim vorgelegten Serviertempo sicher nicht. Zwischen den Gängen kaum Zeit für einen Schluck Wein zu lassen, grenzt schon an Unhöflichkeit. Womöglich wollte man unseren Tisch noch ein zweites Mal vergeben? Glücklicherweise lassen wir uns von derlei die Stimmung nicht verderben; aufgefangen wurde die Sache auch durch die sympathische Servicecrew.

So spazieren wir zu nicht allzu vorgerückter Stunde Richtung Place de la Concorde und überlegen, ob unsere bisherige Vermeidung des Le Gabriel gerechtfertigt war ... Nein, dafür waren die Highlights heute zu gut. Und am Ende ist sowieso jeder Restaurantbesuch eine bereichernde Erfahrung.

Bleibt die Frage, ob das Restaurant nun ein Zweisterner unter vielen ist. Die besten Gerichte des Abends sprechen dagegen. Doch um die Frage abschließend zu beantworten, müssten wir erst alle anderen Kandidaten besuchen. Gute Gründe also, um nach Paris zurückzukehren. Allein für diesen Vorsatz hat sich der Abend im Le Gabriel schon gelohnt.

Kai Mihm

FAZIT

Zwischen grandios und belanglos: Jérôme Banctel lässt uns nach diesem schnellsten Restaurant-Besuch in der Sternefresser-Geschichte etwas ratlos zurück. Da hilft nur eines: irgendwann nochmal hin!

Weine

Weinauswahl im Restaurant Le Gabriel in Paris

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