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Restaurantkritik  7.März 2019

DER SÜSSESTE STERN DER WELT

Berlin, Februar 2019, Michelin-Gala. Der Echo der Sterneküche versammelt hunderte Menschen, darunter die neu- und höher besternten Köche des Jahres, die sich auf der Bühne für ihre Auszeichnung feiern lassen dürfen. Darunter: René Frank, der mit seinem CODA den weltweit ersten Stern für ein ausschließlich auf Desserts ausgerichtetes Speisekonzept einheimst – nur: Darüber spricht keiner. Viel eher geht es um Nachhaltigkeit, Regionalität, Produktfokussierung. Die Phrase "Nose-to-tail" hat bereits einige Jahre auf dem Buckel und fällt an diesem Abend trotzdem zuhauf. Es wird bewusst auf Züge gesprungen, dabei rollt in Neukölln bereits seit Jahren eine einsame, bunt bemalte Eisenbahn innovativ und mutig durch die kulinarische Landschaft. Einsteigen bitte, es gibt was zu erzählen!

René Frank steht auf der Bühne und hat nur wenige Sekunden Zeit, zu erklären, was er da eigentlich macht. Überhaupt: Er muss es immer wieder erklären. Verdeutlichen, was er da eigentlich tut, dass sich sein Restaurant im Kern vom Ansatz aller Spitzenküchen Deutschlands unterscheidet, denn die Idee, Nachspeisen als Restaurantkonzept zu etablieren, kannten sogar wir bislang nur aus Barcelona (Espai Sucre), New York (ChikaLicious) und Antwerpen (Het Gebaar). Anfangs bot Frank das noch als legeres "After-Dinner-Absacker"-Modell an, mittlerweile ist daraus ein 7-gängiges Degustationsmenü geworden. Die Angst, dass die kneipige, wahlweise studentische oder alteingesessene Nachbarschaft Berührungsängste mit dieser im Vergleich zur Dönerbude eher kostspieligen Verköstigung haben könnte, hat sich gelegt, und der mehrfache "Pâtissier des Jahres" und ehemaliges Süßspeisen-Oberhaupt des dreifach besternten "La Vie" in Osnabrück darf sich derweil als feste Instanz in der Dessertwelt bezeichnen.

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Das Restaurant ist schummerig, der breite Holztresen bestätigt das selbstbetitelte "Bar"-Konzept. Die Mischung aus Holz, Steintischen und Metall passen zur urbanen Hippness der Stadt, genauso wie die Tatsache, dass das Coda immer noch schwer aufzufinden ist; kein Schild prangt über dem Laden, immer noch verzieren Graffitis die Neuköllner Altbaufassade seit der Eröffnung im Jahre 2016. Die Abläufe innerhalb des Restaurants haben sich indes "verschlankt", denn René kümmert sich mittlerweile selbst um die Kreation der Pairings, die den jeweiligen Teller als Cocktail ergänzen und uns bereits beim letzten Besuch Spaß bereiteten. Wir nehmen am Tresen Platz und sind gespannt, was uns in sieben Dessert-Gängen und gänzlich ohne industriell raffinierten Zucker geboten wird.

Als Apéros: Grüner Apfel (maceriert mit Minze und Ingwer, unten in Ringen), gepickelte Rote und Gelbe Bete (oben links, länglich), Knochenmark-Kuchen vom Hohenloher Weiderind mit Süßkartoffel und Mandel (oben links, rund) sowie gepuffte Haut vom Schwäbisch-Hällischen Landschwein (rechts). Perfekte, unaufdringliche Snacks, von denen sich Haribo gerne eine gelatinöse Scheibe abschneiden und wir uns hoffentlich bald über einen bundesweit flächendeckenden Vertrieb des Schweinepopcorns freuen dürfen.

Eher etwas fad kommt der erste Gang, Möhre, Heumilch und Grapefruit, daher. Die Kombination klingt an sich spannend, doch die Möhre ist kaum wahrnehmbar, die Milcheis-Kugeln zu mächtig (und mit zunehmender Temperatur verwässernd), sodass auch die Grapefruit kaum eine Chance hat, gegen die kalte Wucht anzukommen. Frank will damit nicht überfordernden, einen "leichten" Einstieg schaffen. Wir finden eher: Ein mutiges Konzept darf auch selbstbewusst starten.

Viel besser dagegen Aubergine, Pekannuss und Lakritz. Das Menü nimmt Fahrt auf, und eine heftige, doch flüchtige Prise Apfelbalsamico weckt unsere Geister. Dank gekonnten Spiels mit Temperaturen bleibt die Aubergine, die Nuss und die erdige Lakritze noch lange spürbar, und das äußerst alkoholische Sherry-Pairing (mit Oloroso, César Florido, Spanien Oolong Tee, Kumin und Safran) sägt in die cremige Melange wie ein scharfes arabisches Saif. Exzellent.

Unverhoffte Götterspeisen sind uns die Liebsten, und so liefert das Coda mit Petersilienwurzel, Kokos, Pistazie, schwarzer Knoblauch und Limette eines der besten Desserts in der Sternefresser-Historie. Optisch einem Hummus-Kuhfladen nicht unähnlich vereint dieses "Reduced-to-the-max"-Löffelgericht eine unscheinbare Kombination aus Wurzelaromen, Kräutern und frischer Limette in mal cremiger, mal crunchiger Textur. Ein mit Hafer angereichertes Bier (englisches "Oatmeal Stout") mit etwas spanischem César Florida-Muskatteller ergänzt diese reichhaltige wie köstliche Komposition um etwas sprudelnde Leichtigkeit.

Das Eissandwich von der Nori-Alge als "Zwischen-Snack" (und mit der Alge als Hinführung zum nächsten Gang gedacht) ist uns dann eine Spur zu viel: zu kalt, zu jodig, kurzum zu krass. Wäre das Plättchen nur halb so groß, würde es unseres Erachtens besser funktionieren.

Sehr experimentell und definitiv kein Dessert für jedermann ist dann Blue Jersey-Blauschimmelkäse, Wassermelone und Nori-Alge. Der Käse kommt als gebackener, heißer Topfenknödel, dessen schiere Intensität durch die Melone als Sud und als Essig-Gelee aufgefrischt wird. Das funktioniert gut, doch die Menge erschlägt uns etwas; wie beim Chip wäre auch hier weniger mehr gewesen. Der dazu gereichte, mit Erdbeere aromatisierte Sake kann sich indes nicht so recht gegen den selbstbewussten Blauschimmel durchsetzen.

René Frank bleibt beim intensiven Käse - in diesem Kontext interpretieren wir das als "Hauptgänge" - mit Bergkäse, Birne und Kraut. Das funktioniert schon viel besser, besonders die heiße Temperatur des gebackenen Knödels im Kontrast zum süß-säuerlich-kalten Sauerkraut-Gratinee und der gedörrten Birne zu Boden eröffnet ein wunderbares Wechselspiel zwischen Herzhaftigkeit und Frische. Hier brilliert das Pairing, denn der sprudelige Cidre aus Frankreich mit Fichtensprossen ergänzt das Trio um Saftigkeit und Waldduft.

Wie ein "Pré-Pré-Dessert" gibt sich Rote Bete, Himbeere, Tofu und Tapioka. Der Seidentofu entkommt der Langeweile und wird zu einer Espuma, das hier endlich mal kein Mittel zum Zweck ist, sondern sich dem Teller absolut dienlich auf jedem Löffel verteilt. Die Rote Bete ist Süße-Lieferant, der Zucker wurde durch langes Einkochen konzentriert und ist stets merkbar. Dass die Himbeer-Tapioka mit Lakritze angereichert wurde, merken wir nicht - es fehlt diesem reinen, zwischen Süße und Erdigkeit changierenden Gericht aber auch nicht. Als alkoholischen Muntermacher bekommen wir ein kräftiges Gemisch aus Weißem Portwein, Schweizer Schattenmorellen und Zwetschgen-Brand. Das macht jeden müden Geist munter.

Quizfrage: Wie schließt man ein Menü ab, das sowieso nur aus Desserts besteht? Frank macht's ganz klassisch mit Tanzania-Kakao (mit der Steinwalze eigenhändig aus den Kakao-Bohnen gedrückt), Topinambur, Sonnenblumenkerne und Sauerkirsche und liefert hier einen luftigen Schokomousse-Becher par excellence, der genau den richtigen Grad Säure von den Kirschen erfährt. Das passt prima zum erdigen Topinambur-Eis, und damit's nicht allzu matschig wird, knuspern die gerösteten Kerne ab und an dazwischen. Alles wirkt so sensationell einfach und rund.

Als Petits Fours zum Digestif: Haselnuss-Crunch mit dunkler Schokolade (links unten), Mandeln mit Roter Bete (rote Kügelchen rechts), Mandeln mit Beniano-Kakao (grüne Kügelchen rechts)sowie Piemonteser Haselnuss mit Chlorella-Alge (braune Mini-Eier rechts).

Wir können gar nicht zählen, wie oft wir schon Menüs aßen, die auf weite Strecken sehr gut bis hervorragend funktionierten und erst zum Ende, bei den Desserts, in zuckeriger Belanglosigkeit endeten. Demnach begegneten wir einem Süßspeisen-Only-Restaurant mit einer Spur Skepsis; doch René Frank und sein Team belehrten uns heute Abend erneut eines Besseren. Nach unserem letzten Besuch wurde hier ordentlich geschraubt, besonders in Sachen Dramaturgie, roter Faden und Eigenständigkeit erlebten wir einen der originellsten Fresserabende seit langem. Dabei gibt sich das Restaurant unprätentiös, leger und so überhaupt nicht "ernst" - das spiegelt sich auch auf die Rezeption der Speisen beim Gast wider. Hinter jedem Gericht stecken viele Stunden Tüftelei, Erfolg und Verwurf, doch davon merkt der Fressende nichts. Selbst in die etwas komplexeren Teller wie den Blauschimmel mit Wassermelone konnten wir uns problemlos "reinessen", und über den wenigen, in diesen Fällen den ungenauen Proportionen geschuldeten Kritikpunkten schwebt die exzellente Petersilienwurzel-Götterspeise. Lediglich beim Möhren-Einstieg wünschten wir uns ein wenig mehr kulinarischen Mut am Gast, mehr "Aufschlag" - und natürlich einen René-Frank-Expresslieferservice in all die blassen Sterneküchen-Pâtisseries Deutschlands.

Fazit

Im Coda, dem weltweit ersten besternten Dessert-Restaurant, schüttelt René Frank eine legere, enorm spannende Süßspeisen-Küche aus dem Ärmel – muss man gesehen und gefressen haben!

Weine

Die Getränke im Berliner Coda

Edelkorn (Brennerrei Böckenhoff, Deutschland), Waldmeister, Molke und Safran

Sherry Oloroso (César Florido, Spanien), Oolongtee, Kumin und Safran

Oatmeal Stout (Bevog, Österreich) und Moscatel (César Florido, Spanien)

„Lei“ Katsuyama Sake (Junmai Ginjo, Japan) und Erdbeere

Weisser Portwein (Quinta Sta Eufêmia, Portugal), Schattenmorelle (Humbel, Schweiz), Zwetschge (Brennerei Schwarzer, Deutschland) und Limette

Radice Lambrusco Di Sorbara (Paltrinieri, Italien), Edelkorn (Brennerei Böckenhoff, Deutschland) und Holunder

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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