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Restaurantkritik 27.Februar 2017

Family Business

Der zweite Stopp unserer letzten Schweiz-Reise führte uns ins beschauliche Mels, ein von prachtvollen Bergen umgebenes 8 000-Seelen Dorf im Kanton St. Gallen, das an diesem sonnigen, klirrend kalten Mittag einen verschlafenen Charme verbreitet. Hier befindet sich der Schlüssel, seit 42 Jahren in Hand der Familie Kalberer. Vater Seppi hat das Haus, das in Gourmetstube und Bistro unterteilt ist, im Jahre 1974 übernommen und über vier Dekaden in die Spitze der Schweizer Gastronomie gebracht. Der Patron und sein Restaurant heimsten in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Auszeichnungen ein. Die wohl wichtigste Errungenschaft von Papa Kalberer dürfte allerdings eine "Entdeckung" sein – sie dreht sich um das bescheidene Kalbsbäckchen.

Natürlich haben es die kleinen Rinder schon selbst geschafft, sich die Bäckchen wachsen zu lassen, doch der erste, der ihr Potenzial für die gehobene Küche in der Schweiz erkannte, war Seppi. Auch dadurch wurden er und sein Restaurant bis über die Landesgrenzen hinaus berühmt. Mit Erreichen des Pensionsalters hat Kalberer senior das Küchenzepter an seinen Sohn weitergegeben. Das sind große Fußstapfen, in die der junge Roger mit der Übernahme des Restaurants getreten ist. Doch der Filius, unter anderem bei Philippe Rochat im Hotel de Ville und bei Andreas Caminada auf Schloss Schauenstein ausgebildet, ruht sich nicht auf den Meriten seines Vaters aus und hält im ersten Jahr, nachdem er den Platz am Herd übernommen hat, mal eben locker den Michelinstern und 17 Gault-Millau-Punkte. Und das, ohne "nur" auf die Klassiker des Herrn Papa zu setzen. Denn neben diesen serviert Roger auch ein komplett von ihm entworfenes Menü. Wir lassen uns heute Mittag eine Art "Best-of" aus Alt und Neu servieren und sind äußerst gespannt, wie der Generationswechsel in der gemütlichen Stube schmecken wird.

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Wir starten mit vier Apéros. Das Melser Rieslingcrèmesüppchen mit Kalbskutteln könnte nicht besser zu diesem typischen Schweizer Dezembermittag passen. Die leichte Säure der Suppe macht gepaart mit den hervorragenden Kutteln richtig Freude. Sehr gut. Für etwas gemäßigtere Begeisterung sorgt eine geräucherte Forelle aus dem Weißtannental mit Gurken. Wenngleich der Fisch von zweifellos guter Qualität ist und die Beilagen in Form von Gurkenspaghetti, Gurkengelee, Gurken- und Hibiskusgel und einem Brotchip sorgsam gewählt und zubereitet wurden, kann uns dieser Happen nicht ganz so begeistern wie die Suppe. Trotz der modernen Ideen im Schälchen wirkt es etwas zu brav. Mit dem Murmeltiercanneloni auf Orangenconfit, Austernseitling und Kumquat erlebt einer der Sternefresser heute eine Fresspremiere. Die in der Schweiz auch "Munggen" genannte Wild-Delikatesse erfreut sich bei unseren südlichen Nachbaren auf der Jagd nach wie vor großer Beliebtheit. Dieses von Seppi Kalberer höchstpersönlich geschossene Exemplar drückt dem Gericht durch seinen ausgeprägten Wildgeschmack, der uns an Innereien wie Leber und Nierchen erinnert, seinen Stempel auf. Das aromatische Fleisch kommt mit den durchaus kräftigen, fruchtig-säuerlichen Begleitern problemlos klar und macht gerade in Kombination mit den ungewöhnlichen Partnern richtig Laune. Ein geglücktes erstes Mal. Zum Schluss widmen wir uns dem fast schon legendären Käsespeckbrötchen, das seinen Platz in den kulinarischen Geschichtsbüchern absolut zurecht innehat – soviel ist uns nach dem kleinen Haps klar. Die simple Leckerei ist so gut, dass wir uns wünschen, sie nach nordischem Vorbild als einzelnen Brotgang serviert zu bekommen. Sensationell!

Das Menü startet mit Rock Lobster aus Tristan da Cunha, Blumenkohl, Estragoncrème, Zitronengel, Finger Limes und Rucola. Der Hummer aus dem Südatlantik ist optimal gegart, mit leicht glasigem Kern, und hat durch das Angrillen dezente, aber präsente Röstaromen, die perfekt mit der maritimen Süße des Meeresbewohners harmonieren. Dieser unverkennbare Geschmack weckt in uns immer Erinnerungen an lockere Strandgrillabende im Süden. Begleitet wird der Hummer von einer Blumenkohl-Trilogie: einer stichfesten Mousse, einer sämigen Creme sowie einigen karamellisierten Stückchen. Eine schöne Beilage, bei der lediglich die gebratenen Blumenkohlrosen etwas störend wirken, da sie einen Tick zu lange in der Pfanne waren und dadurch bitter geworden sind. Finger Limes und Zitronengel bringen eine willkommene, zitrussige Frische ins Spiel, während der sehr sparsam dosierte Rucola hier tatsächlich nicht nur als nur als überflüssige Deko dient, sondern durch seine herben Senföle einen wirklichen Beitrag zum Geschmacksbild leistet. Alles in allem ein ansprechender und abwechslungsreicher Start. Nur ein bisschen wärmer hätte es sein dürfen.

Probleme mit der Wärme gibt es beim pochierten Atlantik-Steinbutt auf Eschalottenconfit mit weißem Bohnenpüree, Zwiebelpüree, Perlzwiebeln, Tannenschößlingessig, frittiertem Zwiebelring und Dill nicht.  Doch der pochierte Plattfisch hat es gegen die herzhaften Mitspieler, die sich auch noch in Überzahl befinden, trotz zweifellos guter Produktqualität ein bisschen schwer. Ein etwas zu lieblich geratenes Eschalottenconfit überlagert die natürliche, delikate Süße des Fischs ebenso wie das mächtige Bohnenpüree. Die Küche versucht zwar, durch den Tannenschößlingessig und etwas Dill einen Kontrapunkt zu setzen, doch insgesamt überwiegt ein (zu) süßer Eindruck. Das ist alles Mäkeln auf hohem Niveau, doch wir glauben, dass man mit ein bisschen Feintuning bei den Proportionen und einer anderen Garmethode des Fisches (braten?) aus einem guten ein hervorragendes Gericht daraus machen könnte. 

Weiter geht’s mit Black-Angus-Ravioli und Trüffel. Der hauchdünne Teig zeugt von tollem Küchenhandwerk und macht es nötig, die Ravioli mit dem Löffel zu essen. In unseren Augen ein absolutes Qualitätsmerkmal. Da die Füllung nicht bis zur Unkenntlichkeit gewolft wurde, entsteht sogar ein feines Texturspiel zwischen Fleisch und Teig, das wir in dieser Form bei der allseits beliebten italienischen Nudelspezialität eher selten erleben. Zur exzellenten Pasta gesellen sich eine nicht minder hervorragende Steinpilzsauce, aromatisiert mit schwarzem Trüffel aus dem Périgord, der trotz seiner wunderbaren Intensität nicht schwer wirkt und auch nicht auf Effekthascherei setzt. Das ist ganz einfach eine technisch hervorragend umgesetzte und großartig schmeckende Sauce. Um die Trüffelschlacht zu komplettieren werden großzügig lokale Trüffeln aus Mels über den Teller gehobelt, womit man natürlich wenig falsch machen kann – der Höhepunkt unseres Lunches. Aufgrund des strammen Programms in den nächsten Tagen bleiben wir vernünftig und bestellen keine weitere Portion.

Klassisch-herbstlich servieren die Kalberers nun ein Hirschkalbfilet auf Rahmwirsing mit Holunderbeer-Cassissauce, Topinambur, Kirsche und Pfefferminze. Das perfekt rosa gegarte Filet probieren wir zuerst mal ohne weitere Beigaben. Ein Hochgenuss par excellence. Doch selbstverständlich widmen wir uns danach auch den weiteren Komponenten auf dem herrlich altmodischen Geschirr, das die Wohnzimmeratmosphäre der wunderschönen Stube auch auf den Tisch zu bringen vermag. Der Rahmwirsing hat Referenzcharakter, was vor allem am verwendeten ausgezeichneten Rahm liegt, der durch seine schiere Qualität eine luxuriöse Note in dieses scheinbar simple Gericht bringt. Umwerfend! Auch die weiteren Komponenten sind sorgsam gewählt, bringen Diversität auf den Teller und sorgen so für viele abwechslungsreiche Gabeln. Im Glas befindet sich mittlerweile ein 2013er Pinot Noir 'Monolith' aus der Demi Bouteille von Francisca und Christian Obrecht aus dem nahen Jenins, der bereits schön gereift ist und einen gewichtigen Teil zum herrlichen Genuss dieses Gangs beiträgt.

Als Hauptgang wird uns DER Klassiker des Hauses serviert: geschmorte Kalbskopfbacke. Die "Entdeckung" dieser Zutat für die Haute Cuisine machte Seppi Kalberer vor einem guten Vierteljahrhundert auch über die nahen Landesgrenzen hinaus berühmt. Denn tatsächlich war er es, der Anfang der Neunzigerjahre, nach einem Besuch bei Joël Robuchon, die Kalbsbacke gegen einigen Widerstand salonfähig machte. Damals, so erzählt er uns nach dem Essen, wollten ihm die Metzger die Backen gar nicht verkaufen, so ungewöhnlich war seine Bitte nach dem eigentlich für die Wurstherstellung verwendeten Stück. Die gar nicht so freundlichen Fleischer ließen ihn dann schließlich aber selbst Hand anlegen, und so kam er zu seinen ersten Kalbsbäckchen und fing an, daraus sein "Signature Dish" zu entwickeln – als niemand überhaupt wusste, was ein Signature Dish ist. In freudiger Erwartung denken wir an zerfallendes Fleisch mit einer Sauce von klassischer Opulenz, werden aber ein wenig überrascht. Das Fleisch ist natürlich butterzart, ohne dabei jedoch komplett zu zerfallen, und lässt uns sogar so weit gehen zu sagen: es hat noch einen minimalen Biss. Die Syrahsauce dazu ist keine Butterkeule mit Rotweinnase, sondern ein distinguiertes, mit hochfeiner Säure ausgestattetes, in diesem Kontext fast schon frisch wirkendes Elixier. Zum Teller ablecken gut. Da wir so langsam an unsere Kapazitätsgrenzen stoßen, dosieren wir das Kartoffelpüree vorsichtig, damit wir möglichst lange in den Genuss von Fleisch, Sauce und Stampf kommen können. Dieses Gericht gibt es übrigens auch vom neuen Chef in leicht modernisierter Form mit einem Kartoffelespuma, das einen etwas leichteren Genuss verspricht. Beim nächsten Mal dann...

Honigparfait mit Piemonteser Haselnüssen und Edelkastanienmousse leitet in den süßen Teil des Menüs über. Parfait, Nüsse und Mousse sind allesamt sehr schmackhaft, gut gearbeitet und harmonieren auch wunderbar, wirken jedoch nach einem bereits ziemlich ausgiebigen Mahl relativ schwer. Zitrusmalto und Mangopulpe zeugen zwar von einem Wink in die richtige Richtung, wir hätten uns jedoch weitere (oder ausgeprägtere) frisch-fruchtige Elemente als Gegenpol gewünscht. So bleibt der Eindruck eines eher biederen Desserts haften.

Den Abschluss des offiziellen Teils des Menüs bildet ein warmer Schokoladenkuchen aus Bolivia-Schokolade von Felchlin mit Aprikosen und Sauerrahmeis. Das warme Küchlein ist ein Traum in braun –wunderbar austarierte Aromen zwischen süß und bitter mit tiefem Schokoladengeschmack. Hier konterkarieren die Nebendarsteller den Star des Tellers jetzt auch optimal. Vor allem das tolle Sauerrahmeis bringt durch subtile Säurespitzen einen schönen Kontrast zur Schokolade ins Spiel. Aprikosenkompott sowie ein Sponge des Steinobstes machen das Dessert durch ihre süße Fruchtigkeit so richtig rund. Köstlich. 

Ein paar Petits Fours dürfen natürlich nicht fehlen. Den Anfang macht ein Gin Tonic Shot, der uns durch seine herben Noten unverzüglich aus unserem selbst herbeigeführten Fresskoma weckt. Sehr gut. Ein weiteres kleines Schokoladenküchlein steht seinem großen Bruder in nichts nach. Abermals ein Vorzeigeexemplar der Pâtisserie. Das Orangenguggelhöpfli (man beachte die typische Schweizer Verniedlichungsform „li“ am Ende des Wortes) überzeugt durch eine überraschend leichte, beinahe luftige Textur und angenehm intensives Orangenaroma. Brombeer- und Aprikosengummibärli (da ist es wieder, das „li“) sowie eine Mangomousse sind ebenfalls hochfein gearbeitet und bringen ganz zum Schluss noch einmal für frisch-fruchtige, Geist und Gaumen weckende Freuden. Ein passendes Finale.

Was für ein leckerer Lunch! Die zwei Welten von Kalberer Senior und Kalberer Junior sind dabei, sich zu vereinen. Chef-Nouveau Roger verschmilzt die klassische Küche seines Vaters mit den Einflüssen seiner berühmten Lehrmeister und versucht, nach und nach seine eigenen Vorstellungen auf den Teller zu bringen. Bei einer Stammgastquote von über 80 % sind bereits kleine Adaptionen wie der Wechsel von Kartoffelpüree zum Espuma sicherlich nicht immer einfach zu verkaufen. Doch wir sind uns sicher, dass Roger seinen Weg gehen wird und dabei die Klassiker seines Vaters immer in der einen oder anderen Form ihren berechtigten Platz auf der Karte haben werden.

Fazit

Der Generationswechsel ist geglückt. Papa Seppi kann seinem Sohn Roger bedenkenlos den Herd überlassen: Er wird die Tradition des Hauses in Ehren halten und darauf basierend in den nächsten Jahren seine eigene Sprache in der Küche entwickeln. Wir sind gespannt darauf, seinen Weg weiter zu verfolgen.

Weine

Die Weine im Schlüssel in Mels

2014 Sauvignon blanc, Weingut Bovel, Daniel Marugg, Fläsch (CH)

2013 Pinot Noir "Monolith", Weingut Obrecht, Graubünden (CH)

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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