Restaurantkritik 12.Februar 2015

Nicht nur für Freudianer

Es erstaunt uns immer wieder, wie stark die Pariser Restaurantszene praktisch ununterbrochen in Bewegung ist: Ständig wird irgendwo ein spannendes, neues Lokal aufgemacht. Man könnte alle sechs Monate wiederkommen und eine Wochentour ausschließlich mit lohnenden Neueröffnungen füllen.

Das "Es" von Takayuki Honjo gibt es bereits etwas länger, nämlich seit dem Frühjahr 2013. Das Restaurant erhielt auf Anhieb einen Stern, trotzdem hat es noch immer einen gewissen Geheimtipp-Charakter: Es liegt in einer kleinen Seitenstraße im schicken Rive Gauche, kein Schild weist auf die Existenz des Restaurants hin, die altmodische Glasfront ist mit transluzenten, weißen Gazestoffen verhängt.

Der Gastraum ist klein und hat gerade mal zwei größere und vier kleine Tische. Ganz in Weiß gehalten und ohne jede Dekoration wirkt die Atmosphäre im ersten Moment etwas karg. Zum Glück füllen sich die Tische im Lauf des Abends mit weiteren Gästen, wodurch eine angenehme, entspannte Atmosphäre aufkommt. Wir fühlen uns jedenfalls pudelwohl, was nicht zuletzt aber auch am äußerst sympathischen Serviceteam liegt.

Der berufliche Werdegang von Küchenchef Takayuki Honjo ist durchaus beeindruckend: Er war im Quintessence in Tokio, im L'Astrance, im Le Petit Nice, im Mugaritz und im Noma – eine illustre Mischung aus Klassik, Moderne und Avantgarde. Im "Es", benannt übrigens nach Sigmund Freuds Begriff für den triebhaften Teil der menschlichen Psyche, soll er jedoch eine eher traditionell orientierte Küche servieren – wir sind gespannt. 

Es geht los mit einer Kugel aus karamellisierter Roter Bete mit Physalis. Ein interessanter Happen, der die Erdigkeit der Rübe und die ebenfalls leicht erdige Seifigkeit der Physalis spannend zusammenführt. Nur vielleicht einen Tick zu süß.

Große Klasse die Topinambur-Heu-Suppe: Das Erdig-süßliche der Topinambur und das rauchige Stallaroma vom Heu ergeben eine süchtig machende Kombination – leider gibt es nur ein Schnapsgläschen voll. Wichtige Randbemerkung: Die Suppe ist schön heiß. Nicht lauwarm oder sehr warm, sondern richtig heiß! So, wie es sich gehört.

Immer wieder fällt uns auf, dass in Frankreich die Amuses keine so umfangreiche Rolle spielen wie etwa in Deutschland. So geht es auch bei Honjo nach den zwei Petitessen direkt mit dem Menü los: Bei den Jakobsmuscheln mit Maronenpüree und Pfifferlingen setzt sich die Idee der Amuses fort, Verbindungen zwischen disparat scheinenden Produkten herzustellen. Hier ist es ein Dreiklang aus nussigen Aromen. Das schmeckt sehr harmonisch, bleibt in den Abstufungen von Muscheln, Maronen und Pilzen dennoch unterschiedlich genug, um spannend zu sein. Ein souveräner, leicht zugänglicher Auftakt – und nicht zuletzt: Die Muscheln sind qualitativ der Hammer.

Es geht exzellent weiter: Der gegrillte Chicoree mit gezupftem Krabbenfleisch und Trüffel spielt mit der Bitterkeit des Gemüses und der Süße des großartigen Krabbenfleischs. Würzig ergänzt durch die Trüffelspäne, die in dieser Verbindung wie kleine "Irritationen" im positiven Sinne wirken. Das schmeckt wahnsinnig fein, überraschend komplex und einfach verdammt gut.

Bei der gebratenen Gänseleber mit Weißer Rübe und Seeigel gehen die Meinungen auseinander: Einem von uns ist die Jodigkeit der Seeigelzunge viel zu intensiv, und sie erzeugt in Verbindung mit der Leber auch ein unangenehm weiches Mundgefühl. Dem anderen hingegen gefällt gerade der Kontrast aus gaumenschmeichelnder Foie Gras und wuchtigem Seeigel ausgezeichnet, mit der Emulsion aus Weißer Rübe als harmonisierendem Bindeglied. Einigkeit herrscht darüber, dass dies in jedem Fall eine ungewöhnliche Komposition ist, die unter anderem durch die stark gebundene Sauce am ehesten an den Stil des Mugaritz erinnert.

Unstrittig ist der Wolfsbarsch mit Totentrompeten, Rüben und Sepiaemulsion: Der Eigengeschmack des perfekt gegarten Fischs wird von der Sepiacrème sowie einem Meerwasserschaum weiter nach vorne gebracht; die gerösteten Pilze bilden mit ihrem Geschmack nach Herbstwald einen spannenden Gegenpol zur geballten Meeresbrise auf dem Teller. Die Rübenscheiben passen mit ihrer sanften Nussigkeit gut zu Fisch und Pilzen. Sehr fein, sehr gut.

Das Highlight des Abends ist jedoch die Taube mit Wildkräutern und Schokosauce: Das Fleisch ist für sich genommen bereits von sensationeller Güte und exzellent gebraten – man beachte die deutliche Röstung der Haut! Dazu gibt es junge Kartoffeln, ebenfalls geröstet und von einer intensiven Kartoffeligkeit, wie wir sie eigentlich noch nie erlebt haben. Eine Offenbarung. Auch die mit Kakao gebundene Jus beeindruckt durch eine punktgenaue Feinabstimmung zwischen bittersüß und würzig. Mit diesen drei Komponenten wird das Ganze schon zu einem Wohlfühlgang allererster Güte. Der Clou sind aber die diversen Kräuter und Blüten: Je nach Kombination lassen sie das Fleisch immer wieder ganz anders aufscheinen, mal herb, mal würzig, mal eher fruchtig. Wunderbar.

Auf zu den Desserts: Die Birne mit Rum-Rosineneis besteht aus einer hauchdünnen Hippe, die mit diversen Texturen von Birne gefüllt ist, obenauf ein köstliches Rum-Rosineneis. Das klingt simpel, besticht aber durch eine so meisterhafte handwerkliche Umsetzung, dass wir dafür so manches Multikomponentendessert stehen lassen würden. Der Teig ist hauchfein, die Birnenfüllung intensiv und mit leichtem Biss, das Eis mit der idealen Dosis von alkoholischem Kick. Das ist klassische Pâtisseriekunst auf einem Niveau, das auch weit höher bewerteten Restaurants gut zu Gesicht stünde.

Das finale Dessert besteht aus Kaffee mit Nüssen (Mandeln für den Allergiker): In einem Zuckerzylinder befinden sich diverse Kaffeezubereitungen, unter anderem Gelee, Crème, Eis und ein Schaum, teils verfeinert mit Nuss/Mandel. Wir sind eigentlich keine Freunde von Kaffeedesserts, da Kaffee unserer Erfahrung nach keine allzu großen Nuancierungen zulässt und die Kreationen oft eindimensional wirken. Hier aber werden wir durch die mannigfaltigen Zubereitungen eines Besseren belehrt. Allein die Texturunterschiede bewirken eine differenzierte Wahrnehmung des Kaffeearomas, was durch unterschiedliche Dosierungen (von mild bis konzentriert) zusätzlich betont wird. Nuss bzw. Mandel geben Biss und Abwechslung. Ein ausgezeichnet schmeckendes Spiel mit im Grunde nur zwei Grundzutaten.

Die Petits Fours zum Abschluss sind, bis auf den etwas zähen Macaron, ebenfalls sehr gelungen.

Es mag ein Klischee sein, aber man merkt dem Menü im "Es" die japanische Sensibilität des Küchenchefs an: Takayuki Honjos Kreationen sind von einer seltenen Filigranität und Feinjustierung; er orientiert sich am Hauptprodukt und konzentriert sich auf exakt abgestimmte Nuancen, anstatt sich in einer Unzahl an Komponenten zu verlieren. Zugleich hält er eine schöne Balance zwischen klassischen Geschmacksbildern und kreativen Ideen.

Sein Gespür für aromatische Zusammenhänge birgt allerdings auch ein Risiko: Harmonie kann leicht ins Gefällige kippen. Dann schmeckt es bei einem Chef dieses Kalibers immer noch sehr gut, wirkt aber nicht lange nach. So gut sie auch sind: Momentan wirken Honjos Kreationen, um bei Freud zu bleiben, als wäre eher das bedachte Über-Ich am Werk. Mit ein wenig mehr wildem und herausforderndem "Es" würde uns seine Küche sicher noch besser gefallen.

Fazit

Nicht "noch ein Japaner ein Paris", sondern einer von denen, bei denen zu essen sich lohnt: Takayuki Honjos Kreationen sind höchst delikat und sehr wohlschmeckend, dürften hier und da aber noch etwas experimentierfreudiger sein.

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