Restaurantkritik  9.Oktober 2015

Gert, der Gärtner

Die kulinarische Szene in Belgien und den Niederlanden ist bekanntlich sehr reich und die Qualität insgesamt sehr hoch – gemessen an den Einwohnerzahlen gibt es bemerkenswert viele Sternerestaurants. Stilistisch fallen diese vor allem in zwei Kategorien: die Klassisch-Modernen, die in der Tradition von lebenden Legenden wie Peter Goosens (Hof van Cleve) und Geert van Hecke (De Karmeliet) stehen, und die experimentierfreudigen, sehr kleinteilig arbeitenden Modernisten, die deutlich von Stars wie Jonnie Boer (De Librije) und Sergio Herman (The Jane) beeinflusst sind.

Zu den wenigen Köchen, die sich diesen Hauptkategorien entziehen und seit jeher eine ganz eigene Linie fahren, gehören Kobe Desmeraults vom In de Wulf und Gert de Mangeleer vom Hertog Jan. Bei beiden spielt Naturnähe und das "Farm-to-table"-Konzept eine zentrale Rolle. Während man im In de Wulf sehr konsequent eine verfeinerte Rustikalität und Bäuerlichkeit kultiviert, die bisweilen allerdings an Simplizität grenzt, ging es im Hertog Jan schon immer etwas eleganter zu – und das mit großem Erfolg: Sieben Jahre nach der Eröffnung erhielt das Restaurant im Michelin 2012 erstmals 3 Sterne (die es seither hält).

Bereits 2010 hatten Gert de Mangeleer und sein Geschäftspartner (und Maître) Joachim Boudens ein Hofgut unweit von Brügge gekauft. Dort bauten sie Kräuter und Gemüse an, begannen aber auch mit der Grundsanierung des alten Gehöfts, um eines Tages ihr Restaurant dorthin zu verlegen. Im Sommer 2014 war es schließlich soweit: Das neue Hertog Jan öffnete seine Pforten. Aus dem verfallenen Bauernhof, den wir 2012 besichtigen durften, ist ein prächtiges Anwesen geworden, dessen alte Bausubstanz um ultramoderne Anbauten ergänzt wurde. Das Flair in den großzügigen und architektonisch hochspannend konzipierten Räumlichkeiten hat Weltklasse. Als vergleichbar faszinierend fällt uns nur das Azurmendi bei Bilbao ein, wobei die Atmosphäre im Hertog Jan angenehmer, weil entspannter ist.

Unser Menü startet mit drei Snacks zum Aperitif: hauchfeine, ultrakrosse "Zigarren" mit einer angenehm intensiven Füllung aus Tomate und Frischkäse, die mit würzigem Tomatenpuder bestäubt sind, frittiertes Kartoffelstroh mit einer feinwürzigen Crème aus Aubergine und Miso sowie ein warmer Schweineschwarten-Kräcker mit Pulled Pork, BBQ und Lardo – ein vollmundiger Wuchthappen. Welch überzeugender Start!

Weiter geht es mit Meringue aus Himbeere und Roter Bete gefüllt mit Gänseleber. Süße, Säure, Erdigkeit und die fette Cremigkeit der Leber stehen hier in einem idealen Wechselspiel, obenauf etwas Fenchelsamen für einen dissonanten, aber eigentümlich passenden Würzkick. Perfekt.

Zum Abschluss der Amuses ein Klassiker des Hauses: der Kartoffelschaum mit Kaffeestaub und geriebenem Mimolette ist ein cremiges Wunderwerk aus aromatischen Kontrasten (herber Kaffee, mildwürzig-süßlicher Käse), die dank perfekter Feinabstimmung zu einer absoluten Geschmacksharmonie verbunden werden. Wow!

Der erste Gang des Menüs nennt sich Tomaten "2014" und besteht – genau – aus diversen Tomatensorten: leicht mariniert, geschält und ungeschält, gewürzt mit Kardamom, Gewürztagetes, Frühlingszwiebeln und Kapuzinerkresse, darunter etwas Ziegenfrischkäse und Tomatenwasser. Das erinnert uns an einen fantastischen Sommertag im Garten – frisch und leicht, ungemein rein und intensiv nach Tomate, von der Zwiebel leicht geschärft und von Kardamon und Tagetes mit einer dezenten, pointierten Würze versehen. Nur dass die Kresseblätter kreisrund ausgestanzt wurden, anstatt sie in ihrer natürlichen Form zu belassen, widerspricht für unser Empfinden der Natürlichkeit dieses Gerichts.

Vom Tomatenbeet tauchen wir beim nächsten Gang tief ins Meer: Rohe Makrele mit Gartenkräutern, "gepufften" Nori-Chips und Ponzu-Jus schmeckt wie die Quintessenz eines japanischen Fischgerichts – schmelzend weich, jodig und leicht salzig, vom Ponzu mit Zitrusfrische aromatisch aufgehellt und von den Nori-Chips texturell bereichert. Das klingt so simpel und schmeckt so genial.

Es folgt ein weiterer Klassiker: der "Gartenspaziergang", eine Hommage an Michel Bras, mit über 40 Sorten Gemüse und Kräutern aus dem eigenen Garten. Hier beeindruckt einmal mehr der Variantenreichtum aus gegarten und rohen Gemüsen, aus buttrig Gesottenem und Naturbelassenem. Spannung und Wohlgeschmack auf Weltklasse-Niveau, und das nahezu vegan. Die Zusammenstellung dieses Gerichts ändert sich beinahe täglich, und wenngleich uns die Komposition beim letzten Besuch 2012 mehr begeisterte, bleibt als Fazit: Etwas Schöneres kann aus Gemüse kaum werden.

Der bretonische Hummer mit Zucchini, Beten und Gemüsevinaigrette wirkt etwas unscheinbar, entzückt aber durch das Zusammenspiel süßlicher und herber Aromen sowie die unterschiedlichen Zubereitungen von Zucchini und Bete, von knackig mariniert bis weich gedämpft. Der Knaller ist neben dem exzellenten Hummer jedoch das Gemüsetatar, das einen tiefen und intensiven Geschmack hat, ohne dominant zu wirken. Exzellent.

Noch besser gefällt uns allerdings der folgende Gang: Foie gras, geräucherter Aal, Fenchel, Gartenkräuter und Miso-Bergamotte-Fond. Die Kombination von Fettleber und Aal ist längst ein Klassiker, bekommt hier aber durch die Beigaben eine ganz neue Dynamik. Während die frischen Kräuter die Wucht des Räucheraals auffangen, entlocken die Anisnoten des knackigen Fenchels der Leber und dem Fisch ganz neue Noten – köstlich. Das einzige, was bei dieser Kreation den Götterspeisen-Status verhindert, ist die zu große Menge Fenchel sowie die festen Kräuterstiele, die unangenehm zu essen sind.

Es bleibt delikat, sowohl visuell als auch geschmacklich: Bei Gurke, Dill und Lachs spielt Gert de Mangeleer mit einem klassischen Produkt-Dreiklang, dem er durch die Abweichungen in den Details Finesse gibt. So wirkt die eingelegte Gurke durch das deutliche Grillen weniger wie ein Salatelement, sondern wie ein Gemüse – gefüllt mit einem hervorragenden, leicht cremigen und mit Dill gewürztem Lachstatar und begleitet von einer seidigen Champagnersauce sowie Lachstatar für Frische und Textur. Sehr schön, aber nicht so begeisternd wie die vorherigen Kreationen.

Großes Kino dann wieder im Hauptgang. Beim Wagyu Sirloin (Qualitätsgrad 11) mit Erbsen, Frühlingszwiebeln, Bohnen, Paprika und Knochenmark ist allein das Fleisch schon absolut begeisternd: butterzart, mit krosser Grillkruste, von saftigen Fettadern durchzogen und hocharomatisch. Aber auch die Beilagen sind herrlich: knackiges Erbsen-Bohnengemüse mit Frühlingszwiebeln und cremigem Ochsenmark, dazu als würziger Kontrast Pürees von roter Paprika und schwarzem Knoblauch. Drei-Sterne-Eleganz und Steak-mit-Salat-Rustikalität werden hier aufs Allerbeste vereint – göttlich, und so zieht dieses Gericht in unsere Götterspeisen-Hall-of-Fame ein!

Nicht nur, dass wir bis hierhin ein großartiges Menü genossen haben, die weiblichen Gäste haben sich an diesem Tag sogar farblich korrespondierend zum Käsewagen gekleidet.

Das erste Dessert, Apfel, Kräuter und Holunderblüten, wird recht theatralisch präsentiert: Am Tisch lässt der Service eine große Zuckerkugel in einen tiefen Teller fallen, wo diese zebricht – darin: Sauerampfereis, frische Apfelkügelchen sowie Joghurt-Weizengras-Meringue. Darüber werden Kräuter gestreut, und es wird ein Holunderfond angegossen. Klingt toll, schmeckt aber, nun ja, gewöhnungsbedürftig. Das Ganze wird von einer intensiven Süße und vor allem von Minze dominiert – Assoziationen an Mundwasser und Zahnpasta werden wach. Zugleich sorgen die teils recht festen Kräuterblätter und Stiele für ein wenig angenehmes Mundgefühl. Anders gesagt, hier stimmt gar nichts. Wir lassen die Teller nach wenigen Löffeln stehen. Schade.

Sehr viel besser gefällt das Dessert für unseren Apfel-Allergiker: Kirsche und Joghurt ist ein Gaumenschmeichler par excellence, der vor allem von der sauberen Herausarbeitung des Aromas der Hauptprodukte lebt. Selten war Kirscharoma so intensiv und Joghurt so charaktervoll. Cremig, frisch, fruchtig, leicht – das ist nicht spektakulär, dafür aber sehr gelungen.

Ein Highlight ist das letzte Dessert: Spekulatiustarte mit Frischkäse, Beeren, Blüten und Kräutern. Ein perfekt mürber Boden, ein paar vollreife Erdbeeren, ein paar Sorbetbällchen für die Frische, aromatische Kräuter – mehr braucht es nicht, um eine geniale Nachspeise zu zaubern. Gert de Mangeleers Leitspruch "Simplizität ist nicht simpel" wird hier exemplarisch vorgeführt.

Als der imposante Petits-Fours-Wagen anrollt, sind wir eigentlich bereits pappsatt…

… können aber trotzdem nicht widerstehen. Zum Glück, denn die süßen Petitessen sind durchweg großartig, und die Auswahl erinnert hinsichtlich der Quantität an einige der großen Pariser Restaurants.

Reden wir nicht lange drumherum: Der Besuch im neuen Hertog Jan hatte Weltklasse. Gert de Mangeleer serviert Gerichte, hinter deren filigranem Aufbau sich intensive und komplexe Aromen verbergen. Immer wieder gelingt es ihm, scheinbar einfache Kompositionen unglaublich differenziert wirken zu lassen. Dabei wirkt nichts aufgesetzt oder akademisch, sondern nur wahnsinnig stimmig. Einzelne Ausrutscher wie das Kräuterdessert verzeiht man da gerne, und ein Ausbleiben würde uns fast Angst machen. Gleichwohl dürfte de Mangeleer mit seiner stärker denn je an Gemüse und Kräutern orientierten Küche manch "traditionellen" Gast irritieren oder Erwartungen enttäuschen. Aber als Teil seines Gesamtkonzepts funktioniert dieser Stil grandios – wenn wir kurz von den irritierenden Kampfpiloten-Uniformen der Küchenbrigade absehen.

Apropos Gesamtkonzept: Unsere Begeisterung ist keineswegs nur dem Essen geschuldet, sondern dem Gesamterlebnis "Hertog Jan". Gert de Mangeleer und Joachim Boudens ist es gelungen, einen einzigartigen, atmosphärischen Ort zu erschaffen: ultramodern, aber naturverbunden; stylisch, aber nicht steif; lässig, aber nicht affektiert. Hier stimmt einfach alles. Das neue Hertog Jan hat das Zeug zu einer Pilgerstätte für Fressverrückte aus aller Welt – und ist trotz des ambitionierten Preisniveaus zumeist ausgebucht.

Der Service bei unserem Besuch war mustergültig. Diskret, charmant, mit einem Schuss Humor und ohne jede Aufdringlichkeit. Hier schnurrt es in jeder Hinsicht.

Fazit

Sensationelle "Farm-to-Table"-Küche, einzigartiges Ambiente und eine tolle Stimmung – das Hertog Jan gehört für uns zu den allerbesten Restaurants weit über Belgien und auch Europa hinaus.

Fressfreunde

Das Filet

"Ich war noch im «alten» in Brügge und habe gemischte Erinnerungen daran. Teilweise grossartig, manchmal etwas gar schlicht (geschmacklich), leider ausschließlich sehr junges männliches Servicepersonal und trotz Tasting Menü sehr lange Wartezeiten zwischen einzelnen Gängen."

Trois Etoiles

"Entgegen meiner Erwartung – ich hatte aufgrund einiger Schilderungen eine modische "Kräuterküche" erwartet ‒ erlebte ich hier 2014 eines meiner besten Essen überhaupt. Grandiose Produkte, meisterhaftes Handwerk und überraschende Aromenkombinationen. Bewegend!"

Wein

2004 Veuve Clicquot Ponsardin La Grande Dame, Champagne

2011 Riesling Zellberg, Julien Meyer, Elsass

2010 Family White Blend, Adi Badenhorst, Südafrika

Orval (Bier), Florenville, Belgien

2012 Garnacha & Cariñena, Alvaro Palacios, Priorat / Spanien

Liefmans Goudenband (Bier), Oudenaarde, Belgien

NV Pinot Noir Silver brut nature, André Clouet, Champagne 

2013 Riesling Auslese, Philipp Wittmann, Rheinhessen

Liefmans Cuvée Brut (Bier), Oudenaarde, Belgien

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Joachim Boudens

1. Anzahl der Positionen?
Unsere Weinkarte ist mit 250 Weinen bestückt. Im Keller lagern aber noch 300 Empfehlungen, was uns die Möglichkeit gibt, die Weinkarte kurzerhand anzupassen und somit unser Menü jederzeit passend zu begleiten.

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Wir haben die gesamte Weinwelt im Auge, bevorzugen dabei aber Weine und Rebsorten, die typisch für ein Land oder eine Region sind. Am liebsten natürlich, mit Respekt für die Natur hergestellt.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
2012 Benziger Syrah von der North Coast, Kalifornien für 45€
1982 Château Margaux aus Frankreich für 2900€

4. Die ungewöhnlichste Rarität? 
Ganz neu auf unserer Weinkarte ist seit diesem Jahr ein einzigartiger Wein: Ein Prosecco von Venissa, den die Bisol Familie im norditalienischen Venissa produziert. Das Besondere an Venissa ist, dass dieses 1-Hektar-Weingut auf der Insel Mazzorbo in der Lagune von Venedig liegt und mehrmals im Jahr überflutet wird. Die alte traditionelle Rebsorte ist Dorona, was nicht nur für einen goldgelben Wein sorgt, sondern auch für Gold steht wie zu früheren Zeiten auch die Stadt Venedig. Die Farbe stammt von der althergebrachten Herstellungsweise mit tagelanger Maischestandzeit. Der Wein ist zwar ziemlich teuer, dafür aber ein wahres Kunstwerk. Damit nicht genug: auch die Flasche wurde auf der für ihr Glas berühmten Insel Murano mundgeblasen – mit einem dünnen Label aus Echtgold und eingravierter Flaschennummer.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Grundsätzlich verkaufen wir viel Riesling in allen Variationen; zumeist aus Deutschland, manchmal aus Österreich. Wir mögen Riesling, da er mit seiner Spannbreite ein idealer Speisenbegleiter für viele Aromen ist. Neben der erfrischenden Säure kann Riesling auch komplex und reichhaltig ein.

6. Ihre Entdeckung des Jahres?
Südafrika. Eine neue Generation von Winzern sorgt für mehr und mehr Raffinesse.

7. Ihr Lieblingswein? Weshalb?
Nicht meine Vorlieben sind ausschlaggebend als Sommelier, sondern das Erkennen der Wünsche und Vorlieben des Gastes und die Abstimmung mit den Speisen stehen im Vordergrund.
Die perfekte Auswahl hängt von vielen Aspekten ab: Wie man sich fühlt, wer bei Dir ist und wo man sich aufhält. Grundsätzlich mag ich gute Champagner wie zum Beispiel den "André Clouet Un Jour de 1911".

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden? 
Der Klassiker: Einmal wollte ein Gast Eiswürfel in seinem Rotwein haben.

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