Restaurantkritik 18.August 2014

Raue Schale, entschärfter Kern

Tim Raue hat es geschafft – und das gleich in dreierlei Hinsicht. Erstens ist er einer der wenigen deutschen Spitzenköche, die auch international wahrgenommen werden. Seine durch und durch asiatisch inspirierte Küche ist im deutschsprachigen Raum einzigartig und gehört somit zur seltenen Spezies unverwechselbarer kulinarischer Stile, für die etliche andere Chefs morden würden. Gepaart mit Raues „Bad Boy“-Image und bisweilen großer Klappe sorgt ebendies für ein hilfreiches Plus an Aufmerksamkeit.

Raues Hinwendung gen Osten war dabei kein schleichender, aber ein langwieriger Prozess: Noch 2005 war der Wandel angesichts einer „Kaviar-Stulle“ als Amuse und einem „Makrelenfilet mit warmem Meerrettichschaum, Sprottenbrandade, Rote-Bete-Salat und Gänsestopfleber“ als Zwischengericht nicht mal im Ansatz absehbar. Damals stand er für eine sicherlich gute, aber eben auch wenig einzigartige Küche. Mit dem Umzug ins Adlon und im Anschluss in die Rudi-Dutschke-Straße scheint dann eine strategische Denke in die eigene Positionierung eingeflossen zu sein. Wir erachten seine nachhaltige Orientierung an der ostasiatischen, speziell der chinesischen Küche noch immer als einen der cleversten Schachzüge in der deutschen Spitzenküche des letzten Jahrzehnts. Diese stilistische Nische war bis dahin unbesetzt, lediglich Christian Bau steht bereits seit einigen Jahren für eine gewisse Beimischung dieses Ausdrucks.

Zum zweiten erkochte der gebürtige Berliner im November 2012 den zweiten Stern – ein Erfolg, der gerade in der Hauptstadt ein essentieller Aktivposten ist, um sich aus dem Meer der 13 Sternehäuser herauszuheben.

Zu guter Letzt gelang es dem 40-Jährigen aber, nicht nur einzelnes Restaurant in der viel umkämpften Gastronomie der Hauptstadt zu etablieren. Während anderswo Konzeptänderungen, Schließungen oder auch eine eigene Gewürzlinie als Einnahmequelle diskutiert werden, baut Raue neben seinem Hauptrestaurant, dem gefeierten „La Soupe Popoulaire“ und dem im Adlon-Gemäuer befindlichen „Sra Bua“ aktuell sein viertes Restaurant „Studio“ auf, welches im Spätherbst in Mitte eröffnen soll.

Ob der Chef das Mutterschiff mit Hilfe seines Küchenchefs Christian Singer bei all diesen Nebenschauplätzen weiterhin auf Kurs halten kann, wollten wir in diesem Sommer unbedingt herausfinden. Auf also in Kreuzbergs belebte Rudi-Dutschke-Straße...

Zum Auftakt wird uns vom Service eine Art Mikro-Menü aufgetischt, das konzeptionell an die acht Kostbarkeiten des Konfuzius erinnert und einen Spannungsbogen von hochfeiner Küche (Vietnamesische Kalbssülze; Jakobsmuschel-Ceviche; Japanische Flunder mit Combava) bis hin zu eher herzhaftem Soulfood (Japanischer Rettich mit japanischem Senf und japanischer Mayonnaise mariniert; Cashewkerne mit rotem Thai-Curry geröstet; Sauer-scharfe Shanghai-Gurke; Sichuan-Schweinebauch; Teufelsei von der Wachtel, Saiblingskaviar und fermentierte Paprikapaste) schlägt. Das ist abwechslungsreich und bereitet wunderbar auf die folgende asiatisch kolorierte Küche vor.

Das eigentliche Menü startet mit einer vegetarischen Kreation aus Erbse, grüner Melone und Limette, wobei wir uns hier auch den Namen „Menage à trois en vert“ hätten vorstellen können. Das Gericht ist nicht nur wunderschön anzusehen, sondern auch derart ausbalanciert, dass sich die „grünen“ Aromen hier förmlich aneinander schmiegen, ohne in undefinierbarer Beliebigkeit verloren zu gehen. So vereint jeder Löffel die milde Fruchtsüße der Melone, die Knackigkeit der Erbsen und die belebende Säure der grünen Zitrusfrucht.

Die folgenden Drunk'in Prawns lassen sich aufgrund ihrer Präsentation durchaus als essbares Äquivalent zur Kunstform des Pointillismus einordnen und kommen auch geschmacklich schnell auf den Punkt: Die leichte Süße der rohen, zarten Eismeer-Garnelen wird von den rauchigen Noten des im Dipp verarbeiteten Hennessy XO Cognac um Herzhaftigkeit und aromatisches Volumen bereichert, was diesem Gericht besonderen Charakter verleiht.

Noch minimalistischer in der Komposition ist dann der "Steamed Seabass", der in einem Sud aus 15 Jahre gereifter Kamebishi-Soja-Sauce sowie Lauch, Ingwer und Yuzu-Marmelade serviert wird. Auch wenn der perfekt gegarte Wolfsbarsch hier im Fokus steht, ist doch die Soja-Sauce der eigentliche Star dieses Gerichts. Sie verleiht dem Arrangement einen herzhaften und zugleich aromatischen Unterbau, der von der Marmelade um Säure und eine leichte Süße bereichert wird. So ist die Bühne für den feinen Fisch bereitet, der sich geschmacklich wirkungsvoll mit dem süffigen Sud verbindet, punktuell akzentuiert durch die Schärfe des Lauchs und des Ingwers. Fantastisch.

Die Dorade mit Zitrone fußt ebenfalls auf dem minimalistischen Konzept „Fisch im Sud“. À part ergänzt um einen marinierten Kopfsalat gewinnt dieser Gang an Textur. So wirkt der milde Zitronen-Sud nicht nur als Einfassung für die zarte Dorade, sondern dient gleichzeitig auch als Marinade für den Salat, der grüne Aromen und knackige Frische mit ins Spiel bringt. Erneut überschaubar in der Komplexität, aber sehr gut.

Notiz am Rande: Auch wenn wir À-part-Gerichten oft mit einer gewissen Skepsis begegnen, so trägt die räumliche Trennung von Salat und Fisch hier zur Wahrung der Balance bei. Ohne diese würde der Kopfsalat schnell die geschmackliche Oberhand auf dem Teller übernehmen.

Mit der geschmorten und mit Reiswein marinierten Miéral-Perlhuhn-Keule geht es zu den Fleischgängen über. Raue kombiniert das edle Geflügel mit Morcheln in Marsala-Sud und Habanero-Chili, grünem Spargel sowie Perlzwiebeln, die in einem Portwein-Essig-Sud mit Sichuan-Pfeffer mariniert wurden. Was sich nach einem bunten Strauß von Aromen anhört, entpuppt sich beim Essen als überaus eingängige und wohlschmeckende Symbiose aus französischer Klassik und asiatischer Würzung.

Ähnlich der Dorade pendelt der Hauptgang optisch und geschmacklich zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite haben wir die butterzart geschmorte, überaus köstliche Kalbsbacke, gebettet in einer zum Niederknien guten Jalapeño-Jus und getoppt von einem Dim Sum vom Kalbskopf, für dessen deftige Füllung wir erneut auf die geschundenen Knie fallen möchten.

Und als wäre das nicht schon gut genug, haben wir auf der anderen Seite noch die futuristisch wirkende Rolle aus Staudensellerie und Jalapeño, die mit ihrer Knackigkeit und der belebenden Mischung aus Schärfe und Säure den perfekten Konterpart zur Umami-Seligkeit des Haupttellers bildet und für jenes wohlige Stöhnen bei Tisch sorgt, das vom Genuss einer Götterspeise kündet.

Nach diesem furiosen Gang ist das Pré-Dessert aus geeister Birne, Süßholz, Fenchel und Aniskraut eine kurzweilige und willkommene Abkühlung, die Lust auf das Dessert macht...

... dieses besteht aus dem asiatischen, leicht säuerlich schmeckenden Milchgetränk Calpico mit Himbeere und Rhabarber – ein leichtfüßiger, unkomplizierter Genuss zwischen Frucht, Säure und Cremigkeit. Kurzum, ein gutes Dessert. Nicht mehr, nicht weniger.

Ebenso eigenständig wie gelungen sind die Petits Fours zum Ausklang: Mango und Veilchen – Mangosorbet mit Veilchenschokolade und Mangogelee, Thai-Mango mit Veilchenzucker-Salz und Zitronengras sowie Chocolates mit Veilchenduft.

Nach diesem Menü kommen uns Erinnerungen an unseren ersten Besuch im Jahre 2012 in den Sinn: Galt damals bei uns noch die einhellige Meinung, dass bei Raue zwischen Sympathie und Antipathie kein Platz sei und man ihn mit samt seiner Küche eben mag oder nicht, so hat sich in diesem Zusammenhang einiges gewandelt.

Mittlerweile hat sich Tim Raue viele Fans erkocht, die noch vor 3 oder 4 Jahren keinen Fuß in sein(e) Restaurant(s) gesetzt hätten. Das mag daran liegen, dass er seinen Gästen neben dem puren Essen auch eine interessante Geschichte zu vermitteln weiß. Ein Talent, an dem es anderen Spitzenchefs oft mangelt – vielen fehlt schlichtweg die zwar polarisierende, aber auch markante Haltung.

Zum anderen heißt das große Zauberwort in dieser Entwicklung Diplomatie. Und hier stellen wir fest, dass Raue nicht nur persönlich, sondern auch kulinarisch ruhiger geworden ist. Seine Kompositionen sind reduzierter, noch schlüssiger und deutlich zurückgenommen in der Schärfe. War er für uns damals noch Mr. Scoville, vollzieht er den Grenz- bzw. Würzgang nun bravourös.

Der Berliner bestätigt, dass er seinen eigenen Geschmack, für den es bei der Schärfe auch mal „auf die Fresse“ geben darf, zurückgenommen hat, um seinen Gästen – und damit letztlich auch den Kritikern – entgegen zu kommen. Eine Entscheidung, die entweder von Weitsichtigkeit und einer gewissen Größe oder von Opportunismus zeugt. Das mag jeder für sich entscheiden, das Resultat bleibt gleich: eine asiatisch inspirierte Großstadtküche mit großartiger Verpackung.

 

"Kreuzberger Schlümpfe": Das tolle Team um Tim Raue (links) und Küchenchef Christian Singer (rechts)

Der Service agiert locker, aber stets professionell. Hervorheben müssen wir einmal mehr Sommelier André Macionga, der wie sein Chef eine spezielle Wirkung auf Gäste zu haben scheint. Vorwiegend ernsthaft und fokussiert, aber dennoch unverkrampft, spüren wir seine Passion bei jedem vinophilen Kurzvortrag.

FAZIT

Maximale Aufmerksamkeit ohne drei Sterne – das gelingt nur Tim Raue.

Eure Meinung?

Schärfe im Essen. Wie gut kommt Ihr damit klar?

 

WEINE

N.V. Krug Grande Cuvée

2005 Sancerre "La Grande Côte", Francois Cotat, Loire

2005 Gewürztraminer "Hengst" Grand Cru, Josmeyer, Elsass

2011 "Es ist wie es ist", Horst Sauer & André Macionga, Franken

1975 Kanzemer Altenberg Auslese, Von Othegraven, Saar-Ruwer

2010 "Sua Sponte", Domaine Élian da Ros, Frankreich

2002 "Saarburger Rausch" Riesling Auslese, Geltz-Zilliken, Mosel

2002 La Cueva del Contador, Bodegas Contador, Rioja

2010 Brachetto d'Acqui "Braida", Giacomo Bologna, Piemont

Fressfreunde

Kulinarisches Interview

"Er macht einfach einen guten Job! Christian Singers Interpretation vom "Chinese Bauarbeiter Lunch" auf dem Berliner CookTank hat es mal wieder gezeigt."

David Schnapp

"Ich mag Tim Raues Geschmackswelt sehr, das Restaurant in Kreuzberg finde ich grossartig. Die Art von Fusion-Küche ist nicht so leicht zu machen, ohne dass sie sich schnell abnutzt und langweilig wird."

Boris Maskow

"Die unverschreckte Art zu würzen gefiel mir schon 2008, noch zu Adlon-Zeiten, sehr gut. Dass er sich bis zum zweiten Stern hochgeboxt hat, freut mich und am meisten freut mich natürlich seine Champagneraffinität."

Küchenreise

"Tolle asiatisch inspirierte Küche, klare Aromen. Legere Atmosphäre. Lunch bei Tim Raue ist Pflichtprogramm für uns in Berlin!"

Trois Etoiles

"Mutig; pikant; nichts für Weicheier; Berlins Bester!"

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) André Macionga

1. Anzahl der Positionen
Ca. 1200 Weine 

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Alles, was Marie-Anne, Tim und ich mögen.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
2012 Riesling, Jochen Dreissigacker für 32 €
1996 Krug Clos d'Ambonnay für 2222 €

4. Die ungewöhnlichste Rarität? 
Die haben wir gerade verkauft. An meinen Chef, zu seinem runden Geburtstag: 1867 Portwein aus dem Massandra-Keller. Es war glücklicherweise eine perfekte Flasche.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
2012 "Es ist wie es ist", Weißwein-Cuvée für 78 € vom Weingut Horst Sauer

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Der 2010 Sua Sponte von Elian da Ros

7. Ihr Lieblingswein...
Weiß: 1996 Chevalier-Montrachet Leflaive, gab es an einem Herren-Weinabend, dazu Ricotta Ravoli mit 50 Gramm Alba-Trüffel. Yummy!
Rot: 1962 Unico von Vega Sicilia, weil er pure Eleganz verkörpert
Rosé: 2006 Autrement Dit Rosé von Sine Qua Non. Haben wir zum Halbfinal-Aus bei der EM getrunken. Es war der Lichtblick an dem Abend.
Champagner: Aktuell 1996 Oenotheque Dom Perignon.
Restsüß: 1975 Yquem, weil der so wunderbar zur Blutwurst im Rekondo passt.
Sprit: King George Jonny Walker, gab es in illustrer Runde und zu später Stunde bei meinem letzten Geburtstag. Unvergesslich.

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden?
Wir hatten zwei Herren zu Gast, die anstatt 6 jeweils 12 Gänge aßen. Nach 4 Flaschen Weisswein & Rotwein und einer Flasche Yquem bestellten sie noch eine Magnumflasche Krug Grande Cuvèe. Beim Gehen hatten sie definitiv einige Defizite und Ausfälle. Waren aber so glücklich, dass sie kurz darauf wiederkamen.

Das könnte dich auch interessieren