Interviews  7.August 2014

Interview mit "Robert", dem Michelin-Inspektor (Teil 1)

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Frankreich gegründet, ist der Guide Michelin inzwischen in 23 Ländern präsent und gehört zu den meist beachteten Restaurantführern der Welt. Die Inspektoren – so werden die Tester genannt – sind speziell ausgebildet und agieren anonym, wodurch den Michelin stets eine Aura des Geheimnisvollen umgibt. Unzählige Mythen und Geschichten kursieren, doch wenig ist aus erster Hand bekannt.

Wir wollten mehr wissen und haben nach langem Kampf einen der renommierten Tester überreden können, sich einem Interview zu stellen. Da Eure und unsere Neugier in eine Vielzahl an Fragen mündete, erscheint das Gespräch in zwei Teilen. Los geht es heute mit dem Job an sich und dem Alltag eines Michelin-Inspektors...

Wie sollen wir Sie nennen?
Nennen Sie mich „Robert“. 

Wie lange arbeiten Sie bereits als Michelin-Inspektor?
Seit über 20 Jahren. 

Inspektoren müssen eine Gastro- oder Hotel-Ausbildung haben. Wie war Ihr Weg?
Mein persönlicher Weg war eigentlich ein Zufallsprodukt. Ich habe einen Freund, dessen Vater Hotelinspektor bei Michelin war. Er teilte mir mit, dass im Zuge der Wiedervereinigung ein neuer gesucht wird. Der letzte Inspektor war 19 Jahre vor mir eingestellt worden; eine große Fluktuation gab es also nicht. Ich erfüllte alle Voraussetzungen, habe mich dann beworben und es hat geklappt. 

Wie sah Ihr beruflicher Werdegang vor dem Michelin aus?
Ich habe die Hotelfachschule besucht, habe eine Ausbildung zum Koch gemacht und dann den Hotelfachmann. Im Anschluss habe ich mehrere Jahre in der gehobenen Gastronomie im In- und Ausland gearbeitet, und zu diesem Zeitpunkt habe ich von der freien Stelle gehört. 

Hatten Sie als Koch Ambitionen auf die Sternegastronomie?
Für mich war es wichtig, dass ich die Ausbildung in einem Sternerestaurant mache. Das war eine Vorgabe, die ich mir selbst gesetzt habe.

Den Namen des Restaurants dürfen wir vermutlich nicht nennen?
Den können wir leider nicht nennen. Danach war es mein langfristiges Ziel, Hoteldirektor zu werden, und ich begann auch, meine Karriere dementsprechend aufzubauen. Als das Angebot vom Michelin kam, war das jedoch hinfällig.

Gibt es besondere sensorische Fähigkeiten, die vor der Einstellung getestet werden?
Absolut. Ich bin damals zweimal mit dem Chefredakteur essen gegangen, habe das Gleiche wie er gegessen und anschließend meine Berichte über das Essen verfassen müssen. Da wurde sehr drauf geachtet.

Ganz wie bei uns ;). Stimmt es, dass man im Vorfeld der Inspektoren-Tätigkeit auch in Frankreich – sozusagen im Mutterschiff – ausgebildet wird?
In meinem Fall war es so, dass ich ein halbes Jahr ausgebildet wurde, den Großteil der Zeit in Deutschland. So ist es eigentlich auch im Allgemeinen. Man reist mit den erfahrenen Inspektoren, isst dasselbe und tauscht sich anschließend aus. Zur Ausbildung gehört aber auch, dass man ins Ausland geht. Das kann zum Beispiel Frankreich sein oder auch Belgien, Italien usw.

Ist das Ihr Traumjob, Robert?
Eigentlich ja. Unheimlich abwechslungsreich, vielseitig, verantwortungsvoll. Aber man darf nicht vergessen, dass es auch ein sehr anstrengender Beruf ist. Es kommen viele Stunden zusammen, übers Jahr gesehen sind es 600 Hotel- und Restaurantbesuche, dazu müssen Berichte geschrieben werden, außerdem 40.000 Dienstkilometer. Das Essen macht vielleicht 20 Prozent meiner Arbeit aus. Was immer vergessen wird, ist die Dokumentation, die zu leisten ist.

Ich sage Ihnen auch, wieso das vergessen wird: Weil man im Michelin keine Berichte liest. Die Öffentlichkeit denkt sich: Naja, die Inspektoren gehen ins Restaurant, futtern das Menü runter und machen dann einen, zwei oder drei Stempel unter den Bericht.
Das mag sein. Küchenchefs sind auch immer wieder erstaunt, wenn sie in Karlsruhe die ausführlichen Dossiers über ihre Restaurants sehen.

Der ehemalige französische Michelin-Tester Pascal Rémy hat ein Buch geschrieben, in dem er die Missstände beim Michelin anklagt: Zu wenige Inspektoren, zu viel Druck. Außerdem lebe man sehr einsam. Was sind die Schattenseiten Ihres Berufes?
Wie es damals in Frankreich war, kann ich nicht sagen. Wir sind personell jedenfalls sehr gut aufgestellt. Allerdings hat er Recht, dass man viel Zeit alleine verbringt. Das ist nicht jedermanns Sache. Von Montag bis Freitag sieht man die Familie praktisch nicht, hat keinerlei soziale Kontakte und ist auf sich gestellt.

Das führt uns zur Frage, wie häufig Sie im Jahr essen gehen?
Zwischen 200 und 250 Mal. Wir haben sogar einen Kollegen, der 300 Mal essen geht.

Privat gehen Sie aber nicht mehr essen, oder?
Doch, natürlich (lacht).

Alleine essen gehen ist für viele Menschen schwierig oder sogar unvorstellbar. Auch wir haben damit unsere Probleme. Wie gehen Sie damit um?
Das ist mein Beruf. Wir gehen nicht in ein Restaurant, um uns einen netten Abend zu machen, sondern um festzustellen, wie das Handwerk dort ist und wie gearbeitet wird. Das kann man nicht mit einem netten Beisammensein vergleichen – das ist unser Job.

Wir stellen bei der Planung unserer Fresstouren immer wieder fest, wie aufwändig das ist: Restaurant- und Hotelreservierungen, effiziente Routen, etc. Wie läuft das bei Ihnen ab? Machen Sie das persönlich?
Ja, das macht jeder Inspektor persönlich für seine Touren. Aber sie sagten es selbst: Der Aufwand ist enorm. Wir bereisen normalerweise Gebiete und besuchen dort Hotels und Restaurants. Das muss natürlich im Vorfeld koordiniert werden und man kann pauschal sagen, dass wir für die Nachbereitung und die Planung einer 3-bis-4-Wochen-Tour eine Woche im Büro sind. Hotels müssen reserviert werden, die Öffnungszeiten sind manchmal problematisch. Viele gute Restaurants haben Montag und Dienstag geschlossen, so dass es mit viel Fahrerei verbunden ist.

Wie reservieren Sie im Restaurant? Per Telefon, per Mail?
Das ist unterschiedlich. Vielleicht verrate ich hier ein kleines Geheimnis. Wir haben im Büro ein Telefon mit einer unterdrückten Telefonnummer, das wir für die Restaurants nutzen. Aber die Hotelreservierungen laufen ganz normal ab. Und natürlich nutzen wir nicht immer unsere richtigen Namen.

Das dürfte inzwischen jeder Gastronom wissen. Wie läuft die Reservierung bei gehypten Restaurants wie dem Noma oder dem Alinea ab, wo es durchaus schwierig ist, einen Tisch zu bekommen. Nehmen Sie dann an der ganz normalen Reservierungs-Lotterie teil?
In der Tat. Zufälligerweise bin ich im Mai noch im Noma gewesen, und wir sollten zunächst einen Shared Table bekommen, uns also mit anderen Gästen einen Tisch teilen. Das ist auch vollkommen in Ordnung, aber wir hatten dann doch Glück, einen Einzeltisch zu bekommen. 

Vielleicht hätten Sie mit einem der Sternefresser zusammen gesessen :) Skandinavien ist ja nicht gerade Ihr Aufgabengebiet. Sind Sie damit bestrebt, den eigenen Horizont zu erweitern?
Da muss ich widersprechen. Die englische Redaktion ist zwar für den Guide „Main Cities of Europe“ verantwortlich, allerdings werden aus ganz Europa Inspektoren zusammengezogen, die in Skandinavien, in Warschau oder in Budapest usw. testen. Außerdem ist es üblich, dass die Inspektoren in verschiedenen Ländern eingesetzt werden, um überall denselben Standard sicherzustellen. 

Gut, in Budapest gibt es nicht so viele interessante Restaurants...
Das stimmt wohl. Aber abgesehen von der persönlichen Horizont-Erweiterung: Frankreich liegt um die Ecke, und wir werden oft von Frau Caspar (Anmerk. der Redak.: die deutsche Chefredakteurin des franz. Guide Michelin) gebeten, den einen oder anderen Besuch zu absolvieren. Die deutsche Redaktion ist auch für den Guide Schweiz verantwortlich, Salzburg und Wien betreuen wir ebenfalls. Da haben wir eine Menge Möglichkeiten.

Wie sieht der typische Tagesablauf aus, wenn Sie auf einer Tour unterwegs sind? Frühstücken Sie?
Ja, ein kleines Frühstück. Ich muss ein bisschen im Magen haben, Orangensaft, Joghurt, Banane – eine Grundlage. Was viele nicht wissen: Wir empfehlen rund 3.800 Hotels, und die müssen natürlich inspiziert werden. Gegen halb neun checke ich aus, bezahle meine Rechnung, stelle mich vor und möchte gerne mehr vom Haus sehen. Ist das Klassement in Ordnung, gibt es Nennenswertes zu berichten, ist das Personal freundlich? Danach wird über das Hotel ein Bericht verfasst. 

Schwarzlicht wie Herr Hormann haben Sie aber nicht dabei, Robert?
Nein (lacht). Am Vormittag geht es weiter, ich fahre zum nächsten Hotel, stelle mich vor, zeige meinen Ausweis. Dieser kostenlose Service kommt bei den Hoteliers gut an. Im Anschluss geht es zum Mittagessen. Es wird bestellt, gegessen und bezahlt. Und auch dort stelle ich mich offiziell vor. Wir sprechen mit dem Inhaber oder dem Küchenchef. Dieser Kontakt ist sehr wichtig, wenn es Fragen gibt. 

Allerdings geben Sie zu diesem Zeitpunkt die Anonymität auf. Das bedeutet, dass Sie in dieses Restaurant nie wieder zurückkehren?
Wir haben ein rollierendes System, das heißt, dass ich ungefähr nach 10 Jahren zurückkehre. Und am Nachmittag geht es weiter: Hotels werden inspiziert, Berichte werden geschrieben. Zwischen 5 und 6 gehe ich ins Hotel, plane den nächsten Tag, und dann geht es schon zum Abendessen. Nach einem großen Essen verlässt man das Restaurant erst zwischen 10 und 11, dann wird noch ein Bericht verfasst, und so endet ein langer Tag. 

Das glauben wir gerne. Landauf, landab trifft man immer wieder auf dieselben Produkte und ähnliche bzw. auch kopierte Gerichte. Wird das langweilig?
Ich muss sagen, dass es vor 10 oder 15 Jahren viel langweiliger war. Die Einheitlichkeit und Kopiererei war wesentlich stärker ausgeprägt. Natürlich gibt es Köche, die kopieren, aber auf der anderen Seite gibt es viele Küchen, die eigenständig sind. Wenn man das pauschalisiert, tut man vielen Köchen unrecht.

Mittags beim Dreisterner, abends beim Einsterner. Wie bewahren Sie sich die Konzentration, die Figur und vor allem die Freude am Job?
Man muss eine gewisse Affinität zum Essen haben, sonst macht das alles keinen Sinn. Man muss neugierig und produktversessen sein. Wer das nicht ist, macht den Job auch nicht lange.

Alkoholische Getränke gehören in Spitzenrestaurants zum Gesamtkonzept, so dass dies natürlich auch getestet werden muss. Wie gehen Sie damit um?
Wir achten schon darauf, dass es in Maßen abläuft. Ich persönlich bestelle mittags beim Essen je nach Menü vielleicht zwei Mal 0,1l und trinke dann nur die Hälfte. Es ist auch nicht so, dass wir ausschließlich in Top-Restaurants essen gehen. Wie empfehlen in Deutschland über 2.200 Restaurants, und davon haben 274 eine Sterneauszeichnung...

Die finanzielle Unabhängigkeit und die Anonymität der Inspektoren verleiht dem Michelin die Aura des Unkorrumpierbaren. Wie schützen Sie Ihre Anonymität, und wie anstrengend ist die Geheimhaltung?
Mein persönliches Umfeld hat sich inzwischen damit abgefunden, dass ich mich nicht großartig zu meinem Job äußere. Ich sage vielleicht, dass ich in München und das Wetter schön war, aber auf Details gehe ich nicht ein. 

Ihre Freunde wissen aber schon, dass Sie Michelin-Inspektor sind?
Mein Umfeld und meine Freunde wissen das schon, aber irgendwann ist es kein Thema mehr. Ansonsten schützen wir uns durch das 10-Jahres-Prinzip. Darüber hinaus benutzen wir falsche Namen. Uns ist natürlich klar, dass auch diese Namen die Runde machen, aber wir versuchen, den Vorsprung so groß wie möglich zu halten. Außerdem zahle ich oft bar. 

Wurden Sie bei einem Restaurantbesuch schon mal im Vorfeld enttarnt? Nach dem Motto: „Schön, dass Sie wieder da sind!“
Ja, das ist mir schon passiert. Da war der Oberkellner in ein neues Haus gewechselt.

Was haben Sie dann getan?
Weglaufen konnte ich nicht mehr (lacht)! Ich werde das Restaurant auch in 10 Jahren nicht mehr besuchen. In einem solchen Fall können wir eine Zweitmeinung durch einen anderen Kollegen einholen.

Waren Sie schon mal bei jemandem essen, mit dem Sie gearbeitet haben und der heute in einem Sternerestaurant arbeitet.
Ja, einer meiner ehemaligen Kollegen hat heute drei Sterne (lacht). Das hat mit seiner Auszeichnung allerdings nichts zu tun.

Wie oft gibt es Bestechungsversuche mit Wein, Weib, Gesang oder Geld?
Das denkt man immer. Ich erzähle Ihnen dazu mal eine lustige Geschichte. Vor etwa 10 bis 15 Jahren haben wir unsere Fragebögen noch postalisch versandt. Im Bayerischen Wald gab es einen kleinen Gasthof, der sich derart über die Erwähnung im Guide gefreut hat, dass die Betreiber 10 Mark in den Rückumschlag gelegt haben...

...nach dem Motto: Geht mal schön essen?
...oder für die Kaffeekasse! Wir haben uns freundlich bedankt und das Geld natürlich zurückgeschickt. Mal im Ernst: Das würde nicht gehen. Für mich besteht die Gefahr, dass ich sofort meinen Job verliere, und das wäre es mir niemals wert. Außerdem holen wir mehrere Meinungen für die Sternevergabe ein.

Der Koch müsste ja auch Angst haben, auf Lebenszeit verbannt zu werden.
Absolut. Das wäre ein No-Go.

Einflussfaktoren auf ein Esserlebnis sind vielfältig. Der Michelin bekräftigt aber immer wieder Objektivität und dass für eine Bewertung nur die Küche zählt. Wie stellen Sie sicher, dass ein Tester Ambiente, Stimmung, Tagesform, Appetit, Begleitung und persönliche Präferenzen ausblendet?
Dazu sind wir Profis genug. Wir sehen nur das, was sich auf dem Teller befindet. Das ist eine Grundvoraussetzung, und wir können das differenzieren.

Was bestellen Sie in einem Restaurant? Eher einzelne Gerichte, etwa solche mit ungewöhnlichen Produkten oder einem vermeintlich hohen Schwierigkeitsgrad?
Wir suchen uns natürlich schon Gerichte aus, bei denen wir den Koch fordern. Kein Rumpsteak mit Bratkartoffeln. Luxusprodukte müssen es gar nicht sein, da es viel eindrucksvoller ist, wenn ein Koch sich eben nicht nur auf die Produkte verlässt. Das ist in unseren Augen schwerer. An einem hervorragend zubereiteten Ochsenschwanz oder einem Saibling kann ich viel besser sehen, wie viel handwerkliches Geschick der Koch besitzt.

Wie viele Gerichte sehen Sie sich an, um sich ein dezidiertes Urteil zu erlauben?
Das kommt natürlich auf das Restaurant an. Wenn ich in einer Weinstube bin, muss ich keine 10 Gänge essen. Wenn es um einen Stern geht oder wir in einem Zweisterner sind, ist es üblich, dass wir ein Menü essen. Wobei das auch immer einen gewissen Schwierigkeitsgrad beinhalten sollte.

Reicht das Budget für das große Menü?
Ich sag mal Jein. Wenn es um das Essen geht, haben wir immer Budget. Allerdings bestellen wir keinen Wein für 350 Euro....

 

Der zweite Teil des Interviews mit Inspektor "Robert" folgt in Kürze...

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