Restaurantkritik 15.Juni 2015

Mit sich im Reinen

Berlin ist immer eine Reise wert – Punkt. Oder doch eher ein Fragezeichen? Was früher zumindest kulinarisch eher unklar war, lässt sich heute unumwunden positiv beantworten. Wir sind geneigt, anstelle des Punktes eher ein Ausrufezeichen zu setzen. Sicher, in Berlin gibt es keinen einzigen Dreisterner. Dafür hat sich die Stadt an der Spree in den letzten Jahren nicht nur zur Hipster-Hauptstadt entwickelt, sondern auch eine ungemein interessante Gastrokultur entwickelt, die sie auch im kulinarischen Sinne zur deutschen Hauptstadt macht. Dabei ist es nicht nur die reine Dichte an Sternerestaurants, die den Reiz Berlins ausmacht, sondern auch die Heterogenität der Küchenstile und der gastronomischen Konzepte. Besonders hat sich hierbei das Reinstoff in Mitte hervorgetan, das eines unserer ersten echten Berlin-Highlights war.

Heute zählt das Reinstoff zu jenen Restaurants der Hauptstadt, zu denen wir einleitend kaum noch Worte verlieren müssen. Seit der Eröffnung im Jahr 2009 hat sich das Haus zur festen Größe entwickelt, wobei dies nicht nur allein an den Bewertungen in den einschlägigen Guides festzumachen ist, sondern vielmehr am Respekt, den Chef Daniel Achilles unter seinen Kollegen auch über die Stadtgrenzen hinaus genießt. So spricht man unter Berliner Köchen ehrerbietig vom "Herrn Achilles". Dieser Zuspruch gründet auf der von Intelligenz und Akribie getriebenen Stilistik des gebürtigen Leipzigers, aber auch auf der Reflexion über das eigene Schaffen und dem steten Willen zur Weiterentwicklung, der die Küche des Reinstoff zu einer der spannendsten Deutschlands gemacht hat.

"Spannend" sind auch die Entwicklungen, welche es seit unserem letzten Besuch hinter den Kulissen gegeben hat. So hat Mitbegründer Ivo Ebert das wohl dunkelste Restaurant Berlins verlassen, um einem eigenen Projekt nachzugehen. Sein Nachfolger wurde Pascal Kunert, der aus dem Osnabrücker La Vie gekommen ist und den jungen Service um Gastgeberin Sabine Demel trefflich ergänzt.

Trefflich dann auch die Reihe von Appetithäppchen, die sich zum Apéro gesellen und genau das machen, was diese Bezeichnung erwarten lässt: Lust auf mehr. So ist die knusprige Blutwurstwaffel ein köstlich herzhafter und zugleich aromatisch feiner Bissen,  während die Karpfenbauch-Rolle durch das Zusammenspiel des schmelzigen Fetts des Süßwasserfisches mit der geschmacklich tiefen Miso-Remoulade punktet. Von einer ähnlich rustikalen Intensität ist auch die gebackene Puntarella mit Sauce tartare, während uns das kleine Salatbouquet mit seiner abwechslungsreichen Textur und betonten Frische gefällt.

Das im Anschluss servierte Amuse aus gegrillter Karotte, Fenchelwurzel und -blüte mit aromatischer Emulsion besticht durch das gekonnte Austarieren verschiedener Texturen (von knackig bis sämig ist alles dabei) und kraftvoller Protagonisten, wobei der Reiz vor allem im Wechselspiel zwischen den süßlichen Röstnoten der Karotte und der anisähnlichen Frische des Fenchels liegt.

Mit Softeis von geräucherter Kartoffel, Brathering und Imperial-Kaviar starten wir sodann ins Menü und sind sprachlos! Was da so vermeintlich einfach klingt, entpuppt sich als finessenreiches Aromenspiel mit einem nuancierten Spannungsbogen. Das wunderbar cremige Eis entfaltet eine dezente Aromatik von Bratkartoffeln, die durch den Brathering um rustikalen, nahezu fleischigen Biss bereichert und von den nussig-jodigen Noten des Kaviars abgerundet wird. Wundervoll und auf jeden Fall eine Götterspeise.

Nach diesem Knaller zum Auftakt lässt der folgende Gang, Grönlandgarnelen mit Chinakohl, Meerlattich und Jakobsmuschelcorail, zunächst eher bedächtiges Fortschreiten in der Dramaturgie vermuten. Weit gefehlt: Das Zusammenspiel der süßlich-fleischigen Garnelen mit dem erdigen Kohl und dem jodig-frischen Meersalat ist kraftvoll und kurzweilig, wobei insbesondere die salzig-herzhafte Intensität des Corails wie ein punktuell gesetzter Geschmacksverstärker wirkt.

Die danach servierte pochierte Nordseeauster mit Brandade, Feinem vom Kabeljaukopf und Grünkohlsaft ist aromatisch ähnlich aufgebaut, aber von grundsätzlich anderem Charakter. Wir haben hier einen echten Wohlfühl-Gang, dessen Fokus auf den Meerestieren liegt, die eine feine Liaison zwischen Jodigkeit und fettigem Schmelz (Kabeljaubäckchen) eingehen. Eingefasst wird das Duo von einer sämigen Soße, die ihren erdig-grünen Geschmack durch den Grünkohl bekommt. Das schmeckt insgesamt sehr harmonisch, aber für unser Empfinden würde etwas mehr „Biss“ dem Gericht mehr Reiz verleihen.

Die Wildkräuterbuchtel und Weinbergschnecken lassen hingegen keine Wünsche offen, im Gegenteil. Sowohl optisch als auch geschmacklich ist dieser Gang von einnehmender Präsenz. In der grasgrünen Buchtel (ein gedämpfter Hefekloß) verbergen sich die wunderbar zarten Schnecken, die pur genossen schon zu den Besten gehören, die wir jemals auf dem Teller hatten. Zusammen mit der kräutrigen Buchtel, einem Petersilien-Püree und der punktuell gesetzten Süße eines roten Frucht-Coulis potenziert sich dieser Wohlgeschmack zu einem lange nachhallenden Genuss. Exzellent.

Mit der Jakobsmuschel, jungem Lauch, Kujyo-Vinaigrette und Périgord-Trüffel wird es dann deutlich klassischer, aber keinesfalls schlechter. Die Kombination aus der süßlichen Edelmuschel mit dem leicht scharfen Zwiebelgemüse und der milden Knoblauchnote des schwarzen Trüffels gerät köstlich. Durch die Zugabe der würzig-säuerliche Kujyo-Vinaigrette (japanische Lauchvinaigrette) wird das Ganze aus seiner aromatischen Schwere heraus auf ein unerwartet leichtes Niveau gebracht.

Der gezupfte Taschenkrebs bildet im Zusammenspiel mit Perlen von gestocktem Eiweiß, Meerrettich und bissfest gegarten Eiszapfen (eine Rübenart) eine sehr spannende und zugleich harmonische Basis für den nächsten Gang. Der Star ist hier allerdings der Sud vom gepökelten Schwein, der mit seiner herzhaften Dichte den Geschmack der anderen Elemente nochmals intensiviert, so dass es eine Lust ist, sich Löffel für Löffel am Changieren zwischen Süße, Säure, Herzhaftigkeit und Würze zu berauschen. Dass die Eiszapfen zudem für texturelle Abwechslung sorgen, ist das i-Tüpfelchen, welches diese Kreation zu einer Götterspeise macht.

Nach diesem Höhenflug serviert Achilles mit der „Gefüllten Gans“ eine seiner Gänseleber-Inszenierungen. Scheint diese Bezeichnung auch etwas abgehoben, so trifft sie im Kern zu, haben wir doch in den letzten Jahren im Reinstoff stets außergewöhnliche Leber-Gerichte serviert bekommen. So auch heute.

In Adaption eines Gänsebratens wird eine Gänseleber-Crème um Gänseschinken, Maronen, Beifuß, gebratene Renetten und in Gänseschmalz gegarte Zwiebel ergänzt. Das macht dieses Gericht deutlich herzhaft – und auch etwas zu schwer. Hier fehlt uns letztlich Säure, die der gefiederten Umami-Keule ihre Wucht nimmt und hilft, den einzelnen Komponenten mehr Präsenz gegenüber der Crème zu geben. So bleibt es bei allem Aufwand ein gutes Gericht, aber eben nicht mehr.

Deutlich stimmiger dann wieder der Hauptgang, der unter der Überschrift „Frischling“ steht und in zwei Teilen serviert wird. Den Anfang macht eine Pastrami von der Keule, die uns mit ihrem zarten Biss und ihrem feinen Aroma begeistert, …

… und dennoch nur die zweite Geige gegenüber der geschmorten Rippe spielt, die mit Rübensirup, Schwarzwurzel und weißem Trüffel vollendet wird. Die leicht bittere Süße des Sirups verstärket den Eigengeschmack des butterzarten Fleisches, Röstaromen geben der Komposition Kraft und Nachhall, die Schwarzwurzeln sorgen für milden Biss und erdige Noten, die vom Trüffel nochmals Betonung finden. All das zusammengeführt von einem tiefen Jus. Herrlich.

Leider können wir ein derartiges Fazit nicht unter die folgende Erfrischung setzen. Die an sich eingängige Kombination von Quitte und Kefir leidet unter dem angegossenen Argalà Pastis, der sich wie ein Nebel des lakritzigen Grauens über die beiden anderen Komponenten legt und sie fast in den Abgrund der Ungenießbarkeit stürzt.

Aus diesem Tief reißt uns dann der Käsegang, der im engeren Sinne bereits alle Merkmale eines Pré-Desserts erfüllt: Die Welt des Salzigen vermengt sich mit der Welt des Süßen und bringt das Beste beider Seiten hervor. Dies geschieht hier mit Stilton blue, dessen markante Intensität von süß eingekochtem Blaukraut und süß-säuerlich confierten Kumquats aufgebrochen wird – eine gleichermaßen eingängige wie spannende Kreation.

Es folgt das erste Dessert, das den Namen „Gerösteter Buchweizen“ trägt und ähnlich dem Hauptgang in zwei Teilen serviert wird. Hier allerdings weiß uns das Kleinod aus Buchweizen, Amaranth und Preiselbeeren mit seiner Balance aus Süße und Säure, Cremigkeit und Crunch deutlich mehr zu überzeugen als der Hauptteller.

Auf diesem wird der geröstete Buchweizen mit einem Pudding aus Tonkabohne und Mariengras sowie Amaranth und gerührten Preiselbeeren kombiniert. Allerdings fallen die Proportionen zu Ungunsten des Genusses aus, da die eher rauchigen Röstaromen des Buchweizens über dem gesamten Teller liegen und einen dumpfen Eindruck auf der Zunge hinterlassen. Schade.

Auch dem Zitronen-Eisbonbon geht ein süßer Auftakt en miniature voraus, der aus einem Eis von fermentierter Yuzu, Philadelphia sowie Baiser besteht und besser kaum sein könnte, wobei es uns insbesondere das erfrischende und gleichermaßen vollmundige Eis angetan hat.

Auch hier fällt der Hauptteller ab, wenngleich es nicht ganz so deutlich ist wie beim Gang zuvor. Das Eiskrautsorbet mit Minze, Bergamotte und Cedrizitrone ist geschmacklich gut, erfrischend und kurzweilig, allerdings fehlt uns hier etwas die Mundfülle, die zuvor durch das Eis gegeben war. Alle Komponenten sind eher wässrig, und die Aromen haben nur wenig Zeit, sich auf der Zunge zu entfalten. Mit relativ wenig Aufwand lässt sich das sicher deutlich verbessern.

Versöhnt werden wir dann abschließend von den Petits Fours: Dominostein, Dunkle Schokolade mit Ingwer, Schwarzwälder Splitter und Kürbiskern-Nougat.

Nach diesem kurzweiligen – wenn auch üppigen – Menü lehnen wir uns mit einem Lächeln zurück, glücklich darüber, dass Daniel Achilles seine nordische Phase "überwunden" zu haben scheint. Das skandinavische Moment mit der starken Gemüselastigkeit ist deutlich in den Hintergrund getreten, was die Stärken des Küchenchefs gleichsam in den Vordergrund rückt: das Balancieren von geschmacksintensiven und herzhaften Aromen sowie das Ausarbeiten von filigranen und doch deutlich spürbaren Spannungsbögen, wie wir es oftmals bei seinem Lehrmeister erlebten. Was bei anderen Chefs plump daherkommen kann, ist im Reinstoff austariert und hochfein. Gerichte wie der gezupfte Taschenkrebs oder das Eis von der geräucherten Kartoffel sind beste Belege dafür. Dabei wirken diese Gerichte weder verkopft noch überdreht. Eher zeugen sie von einem Chef, der mit sich und seinem Können im Reinen ist.

Umso spürbarer ist im Vergleich aber auch der Abschwung bei den Desserts. Auch wenn dies bei früheren Besuchen weniger ins Auge bzw. in die Zunge stach, so empfinden wir das Fehlen eines echten Pâtissiers als qualitative Lücke, die zu schließen wäre. Dem Gesamterlebnis Reinstoff würde eine adäquate Pâtisserie überaus gut tun – nicht zuletzt, wenn man das bereits vorhandene Potenzial für noch höhere Weihen ausschöpfen will.

Dies gilt grundsätzlich auf für den Service, der mit jugendlichem Charme zu glänzen weiß. Dass dieser stellenweise in die etwas burschikosen Abgründe des Berliner Charmes abgleitet, ist für uns kein Problem und sicherlich auch situationsabhängig. 

Neben der spannenden Weinbegleitung ist auch erwähnenswert, dass eine "Wasser-Flatrate" für 7,50 Euro angeboten wird, wie wir sie aus den Vereinigten Staaten kennen und schätzen. Gäste können somit den ganzen Abend Leitungswasser trinken, das durch eine spezielle Anlage aufbereitet wurde. Eine faire Lösung für Gastronom und Gast, wie wir finden.

Fazit

Daniel Achilles bestätigt mit diesem Menü eindrucksvoll, warum er nicht nur in Berlin zu den Besten zählt: spannende, mutige Kreationen, die filigran arrangiert sind und geschmacklich mitten ins Herz treffen. Allein die Desserts werden diesem Anspruch nicht gerecht.

Fressfreunde

Küchenreise

"Eigenständig und außergewöhnlich. Manchmal schon zu viel der erdigen Aromen, doch immer wieder Gänge, welche reinen Stoff zum Träumen bieten!"

Das Filet

"Als Konzept grandios, aber geschmacklich nicht immer so überragend. Da hat mir etwas die konsequente Linie gefehlt. Hervorragend: geschmorter Gänsehals. Enttäuschend: das Dessert."

Trois Etoiles

"Mich konnte die Küche hier nie besonders in den Bann ziehen. Es wird viel experimentiert, kombiniert und angerichtet. Das führt häufig zu witzigen Ideen, aber seltener zu wahrem Wohlgeschmack. Trotz schicken Industrie-Ambientes recht förmlich."

Wein

2007 Riesling Brut Natur, Geheimer Rat Dr. von Bassermann-Jordan reinstoff exklusiv)

2013 Sauvignon Blanc Stettener Pulvermächer, Weingut Beurer, Württemberg

2013 Neuburger, Nikolaihof, Wachau

2011 Riesling Sackträger -RWeingut Bürgermeister Carl Koch, Oppenheim

2013 Xarel·lo, Terroir al Límit, Priorat

2011 Chardonnay XXL, Weingut Milch, Monsheim

Sherry Cristina Medium, González Byass

2006 Félix Callejo, Bodegas Félix Callejo, Ribera del Duero

2009 Thor le Chien, Terra de Verema, Priorat

2005 Tokaji Aszu 5 Puttonyos Samuel Tinon, Ungarn

Yuzu Shu, Japan

2003 Scheurebe Eiswein, Matthias Gaul, Asse

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Pascal Kunert

1. Anzahl der Positionen?
Etwas mehr als 500 Position 

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Schwerpunkt ist und bleibt Deutschland (Riesling) sowie Spanien, jedoch nicht mehr ausschließlich. Wir haben unsere Karte um Frankreich und Österreich erweitert. Zudem versuche ich, Jahrgangstiefe bei den deutschen Rieslingen reinzubringen. 

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
2013 Riesling Weiser von Künstler für 22€
1986 Chateau Lafite Rothschild für 3260€

4. Die ungewöhnlichste Rarität? 
Eine Vertikale von den Bischöflichen Weingüter Trier sowie alles aus dem Scharzhofberg bis 1971.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
2009 Sestal von Finca Ses Talaioles aus Mallorca für 81€.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Aus Deutschland ist es Tobias Knewitz mit seinem Weißburgunder Eselspfad und aus Spanien das Weingut DSG Vineyards aus der Rioja.

7. Ihr Lieblingswein? Weshalb?
Nichts Spezielles, da die Weinwelt so viel geilen Stoff bietet. Bei gereiften Großen Gewächsen vom Riesling werde ich jedoch niemals nein sagen. Genauso wie bei gutem Winzerchampagner. 

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden? 
Keine besonderen Vorkommnisse – Hugo oder Aperol Spritz sind mir einfach zu kompliziert.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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