Restaurantkritik  9.Oktober 2015

Work in Progress

Mag der Schmerz über die Schließung des Oud Sluis noch immer die fragilen Sternefresser-Seelen belasten, so trägt der Verursacher der Qual ironischerweise selbst zur Linderung bei: Sergio Herman hinterließ uns mit Desire ein außergewöhnliches (Koch-)Buch und setzte mit der sehenswerten Dokumentation "Fucking Perfect" zudem einen cineastischen Seelenstriptease drauf. Auch kulinarisch lässt er seine Fans nicht am ausgestreckten Arm verhungern. Im letzten Jahr eröffnete er in Antwerpen seine neue Pilgerstädte The Jane, mit Nick Brill als Küchen-Statthalter. Zudem ersann Herman schon vor einigen Jahren eine an der Nordsee gelegene Dependance in Cadzand.

Seinen einstigen Meisterschüler Syrco Bakker machte er zum Küchenchef des seit 2011 mit einem Stern ausgezeichneten Restaurants mit direktem Blick auf Dünen und Meer. Der ehrgeizige 30-jährige Niederländer durchlief nach seiner Ausbildung an der Hotelfachschule in Tilburg nicht nur die harte Herman-Schule, sondern arbeitete auch bei Branchenschwergewichten wie Jean-Georges Klein, Jonnie Boer und Gordon Ramsay. Darüber hinaus beeindruckte er beim letzten CookTank in der Schwarzwaldstube die Teilnehmer durch ein Kabeljau-Gericht, bei dem er im Sinne des Themas „Nose to tail“ alle Teile des Meeresfisches verarbeitete.

Das Strandhotel, ein Betonklotz im mit Bausünden gestraften "Seebad" ist inzwischen in die Jahre gekommen und kann nur noch mit prominenter Promenadenlage punkten. Kaum betreten wir das Pure C, könnte der Kontrast kaum größer sein: die Mittagssonne durchflutet das ohnehin lässig-loungige Restaurant mit den weißen Sitzrondellen und lässt den Ausblick auf Dünen, Strand und Meer bei wolkenlosem Himmel noch grandioser wirken. Wie wir später erfahren, wurden die Zeichen der Zeit jedoch erkannt und das Hotel soll noch 2015 ein komplettes Facelift erhalten; überraschenderweise ebenso das Restaurant. Grund zur Neuausrichtung der Küche von Syrco Bakker sahen wir bei unserem letzten Besuch zwar nicht, allerdings konnten wir den Einfluss Sergio Hermans noch deutlich spüren. Daher sind wir jetzt gespannt, ob sich Bakker weiter vom Meister emanzipieren konnte...

Als kleines Suchspiel in den Strand- und Dünengewächsen entpuppen sich die Apéros: Sanddorn, Joghurt und Senfsamen sowie Räucherfisch, Schwarzwurzel und Meerrettich. Ist die Praline von der Küstenpflanze cremig-leicht und  fruchtig-säuerlich, verkörpert die herb-rauchige und würzige Fisch-Rolle das Gegenteil. Fast wollen wir vom geschmacklichen Yin und Yang sprechen, in jedem Fall jedoch ein Auftakt nach Maß.

Sieht der zweite Snack, die Kabeljau-Brandade mit knuspriger Haut, nicht grandios aus? Zusammen mit Seegras, einem Tupfer Mayonnaise und dezent fischigen Noten weckt die Kombination bei uns Erinnerungen an ein Fischbrötchen – allerdings um Längen feiner und unendlich besser! Vielleicht ein Vorläufer des genialen CookTank-Beitrags Bakkers rund um den Kabeljau?

Da auch die Kammmuschel mit Salbei und Gurke optisch enorm ansprechend rüberkommt, nehmen wir uns vor, bei allen weiteren Gerichten nur noch über den Geschmack zu berichten. Der deutlich schmeckbare, jodige Muschelgeschmack wird hier überraschend süßlich und dennoch erfrischend von der geradezu harschigen Gurke und dem mediterranen Kraut begleitet. Gelungen.

Die niederländische Genussprovinz Zeeland ist zu Recht für ihre Miesmuschel-Zucht bekannt. So steht bei Muscheln mit Poudre d'or und Fenchel der intensive Schalentiergeschmack im Fokus. Vom knusprigen Happs mit Weizen und Fenchelstreifen zum "suppigen" Vergnügen mit Fenchelfond eine wahre Wonne.

Bei der Makrele Boemboe Bali ist die indonesische Würzung eine Verbeugung des Küchenchefs vor seinen familiären  Wurzeln. Der fette Fisch ist perfekt gegart und einen Hauch glasig im Kern. Auch kann sich der Protagonist gegen die Vielzahl von Gewürzen, die auch bei der in den Niederlanden sehr beliebten Reistafel zum Einsatz kommen, sowie das Kokosnuss-Aroma (geschreddert und als Gelee) und die Erdnüsse wunderbar behaupten. Mit Miniatur-Pilzen und Karottenscheiben kommt eine gewisse gemüsige Frische ins Spiel, wobei das Gericht trotz aller Würze und Schärfe ausgewogen bleibt. Ein starker Abschluss der Kleinigkeiten, bevor das eigentliche Menü startet.

Ein Blick aus dem Panorama-Fenster und ein weiterer auf den Teller zeigen, dass die in Dünengras geräucherte Zeeland Auster mit salzigen Kräutern, Hagebutte und Foie gras als Menüauftakt perfekt die Umgebung aufgreift. Da die Zeeland-Auster eine der größten Austernarten ist und eine enorme Fleischigkeit besitzt, scheint das sanfte Pochieren und Räuchern durchaus sinnvoll, weil ausreichend jodiges Aroma erhalten bleibt. Ein Dünengras-Schaum fügt einen grünen Eindruck hinzu und die Leber sorgt für aromatische Grundierung und die wichtige Cremigkeit. Immer wieder stechen Süße und Säure der Hagebutte hervor und beleben so diesen grandiosen Gang weiter.

Der Oosterschelde Aal in grüner Soße sieht aus wie ein Kinderteller, wobei das typisch flämische und südniederländische Regionalgericht besonders den Erwachsenen schmeckt. Unter der Petrischale liegt die Zeichnung „Vette vis“ eines mit Herman befreundeten Cartoonisten, die wir bei Gerichten mit Speisefischen bereits aus dem Oud Sluis kennen. Die Konsistenz und der Geschmack des Fettfisches aus dem zeeländischen Meeresarm sind überraschend fein und mild; das harmoniert gut mit der Aromatik der Kräutersauce. Zusammen mit Lauch und der Säure von gepickelten Zwiebeln ergibt sich ein kräftiger, rauchiger Geschmack, der lediglich von etwas zu süßer Topinambur gestört wird. So von Schwere befreit und modern interpretiert kann auch ein eher deftiges Aal-Gericht in der Spitzenküche überzeugen...

Auch beim folgenden Gang – Garnelen aus Breskens mit Kohlsorten, Maronen und Bergamotte – steht lokales Meeresgetier im Mittelpunkt. Die verschiedenen Kohlsorten (Grünkohl, Weißkohl, Rosenkohl) werden pur und  als süßlicher Kohl, als Püree und getrocknetes Kohlblatt zubereitet. Mit Garnelenfond, Maronenschaum und geriebener Bergamotte ergibt sich in Summe ein andersartiges Geschmacksbild, dessen floralen, gar parfümigen Eindruck wir der Bergamotte zuschreiben. Als Geschmacksverstärker und Salzlieferanten fungieren die frittierten Garnelen – sehr interessant und durchaus herausfordernd.

Wesentlich übersichtlicher und dadurch auch einfacher essbar wird es bei der Jakobsmuschel mit lberico, Steinpilzen und Artischocke. Das recht erdige Gericht gerät mit der fleischig-saftigen Jakobsmuschel sehr stimmig – sowohl gebraten mit hervorragenden Artischocken, als auch roh auf einem Artischocken-Chip mit Iberico-Schinken schmeckt sie uns ausgezeichnet.

Wir bleiben beim Fisch, allerdings stammt dieses Produkt nicht aus der Nordsee: Seeteufel mit Kaffirlimette, Aubergine und Rau Ram. Zum Fisch wird die Aubergine durchdekliniert und als Püree, geräuchert, roh mariniert und gebraten gereicht. Das Gemüse übertönt den Fisch nicht und zusammen ergibt sich Wohlgeschmack und pure Harmonie. Spannung liefern immer wieder grüne Peaks von der mit vietnamesischem Koriander (Rau Ram) versetzten Mousseline und eine spitze Zitrus-Säure, was die Konzentration fordert und schärft. Sehr gut.

Als einziger Fleischgang folgt Hirsch mit Cassis, Pilzen und Butternut-Kürbis. Trotz einer à part gereichten, herben „Leberwurststulle“ aus Hirschpaté, Rettich und Cassis sowie einer ausgezeichneten, Säure spendenden Schokoladensauce zum Hirsch, bleibt dieser Gang gegenüber den aromenstarken und differenzierten Gerichten zuvor blass. Es schmeckt zwar "gut", aber auch nicht besonders spannend – da hilft auch der aus Kartoffel geschnitzte Pilz nicht weiter.

Auf den ersten Blick bahnt sich mit Vacherin Mont d'Or mit Knollensellerie, Karotte und Trüffel ein klassischer Käse-Gang an und der Brotdeckel lässt uns Mächtiges befürchten. Doch wir irren: gerade die Säure der karottig-zwiebeligen À part-Reichung und die ungewohnte Zugabe von Linsen im Käselaib sorgen für eine willkommene Abwechslung und Auflockerung. In Summe ist das ist zwar kräftig, aber die Küche hat die Portion auf wenige Löffel beschränkt und übersättigt uns somit nicht.

Zum süßen Abschluss des Menüs serviert uns der sehr freundliche Service Apfel, Dulce de Leche, Vanille und Huacatay. Mit Milchschokolade, der spanischen Milchkonfitüre und einem Vanilleeis ist zwar für reichhaltige Cremigkeit gesorgt, Apfelkompott, -sorbet und besonders das peruanische Würzkraut aus der Tagetes-Familie mit ausgeprägtem Zitrusaroma steuern neben Kühle und Knusprigkeit aber auch Frische und gefühlte Leichtigkeit bei. Ein dem Bisherigen würdiges Dessert.

Widerstehen wir den Petits Fours? Natürlich nicht, denn zu verlockend sind Éclaires, weiße Schokolade, Macarons, Turrón, ein Küchlein und Pandam-Eis. Ein perfekter Abschluss.

Vom anfänglich deutlich zu spürenden stilistischen Einfluss des Meisters hat sich Syrco Bakker stärker emanzipiert – loswerden wird er den großen Namen Sergio Herman vermutlich nie. Schon alleine weil er ähnlich gekonnt zwischen Süße und Säure sowie Intensität und Frische kocht und die Optik der Gerichte bisweilen auch Erinnerungen weckt. Er begeisterte uns beim jüngsten Besuch insbesondere mit spielerischen und geschmacksintensiven Kreationen, die verstärkt die Produkte und Eindrücke der umgebenden zeeländischen Landschaft aufgreifen. Bei aller Lokalität verschließt er sich aber nicht Produkten oder Zubereitungsarten aus dem asiatischen oder südamerikanischen Raum – das ist definitiv eine Bereicherung des Geschmacks, die es bei reiner Beschränkung auf die Region nicht gäbe.

Kein Wunder, dass bei derart fokussierter und hervorragender Küche, einer coolen, aber nicht kalten Atmosphäre und einem freundlich kalkulierten Menü auch mittags die Hütte brennt, wobei sich die Küche selbst beschränkt und abends maximal 60 Gedecke schickt. Ein Wunder – und für uns fast unverständlich – ist hingegen, dass der Guide Michelin diese starke Entwicklung mit nur einem Stern honoriert. Gerade im direkten Vergleich zu anderen Zweisternern kocht Bakker mindestens auf Augenhöhe.

Die Sommelière Lotte Wolf liebt es bei ihrer interessanten und eigenständigen Weinbegleitung kraftvoll und international. Ab und an hätten wir uns vielleicht auch einen leichteren Tropfen gewünscht, doch das ist Klagen auf hohem Niveau. Das engagierte und junge Serviceteam agiert bei aller Lässigkeit stets korrekt und bestens informiert, so dass sich alle Gäste sichtlich wohl fühlen.

Fazit

Work in Progress - die Küche von Syrco Bakker hat eine tolle wie beachtliche Entwicklung genommen und beeindruckt uns mit guten Ideen und spannendem Geschmack. Immer lecker, immer lässig und noch lange nicht am Zenith angekommen.

Wein

2012 Zuani Vigne Collio Bianco, Collio DOC, Italien

2013 Adèle, Côte-du-Rhône Blanc, Eric Texier, Rhone

2013 Te Arai Vineyard Chenin Blanc, Millton, Gisborne, New Zealand

2013 Chardonnay Unoaked, Chamonix, Franchoek, Südafrika

2004 Fossiles Pinot Blanc, Château Pauqué (Abi Duhr), Luxembourg

2009 Verdicchio Castelli di Jessi DOCG Classico Riserva, San Paolo, Marken

2008 Serenity, Ataraxia (Wines of Kevin Grant),  Walker Bay, Südafrika 

2001 Prelude Cabernet Merlot, Leeuwin Estate, Margaret River, Australien

Fragen an die Suffmeisterin (a.k.a. Sommelière) Lotte Wolf

1. Anzahl der Positionen?
Wir haben etwa 140 Weine auf der Karte

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Ja, ich fokussiere mich auf "Natural Wines". Organisch-biologische Weine, die mit höchstem Respekt für die Natur und deren Balance hergestellt wurden. Produzenten aus der Neuen Welt, die diese Anforderungen erfüllen, führen wir auch.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Am preiswertesten ist unser Hauswein, der Chardonnay von Guillaume Aurele aus Frankreich für 27€. Am teuersten ist der 1990er Lafitte für 990€.

4. Die ungewöhnlichste Rarität? 
2005 Semillon von Tim Adams aus Australien. Semillon, der kein Holz gesehen hat, ist in diesem Alter einfach großartig!

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Der "Dog point section 94" aus Neuseeland verkauft sich sehr gut. Ansonsten sind es natürlich auch alle Weine, die ich in die Weinbegleitung einbaue.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Die Weine von Johan Meyer aus Swartland / South Africa. 

7. Ihr Lieblingswein? Weshalb?
Wirklich schwierig zu sagen, welches mein Lieblingswein ist. Ich mag den Pinot Noir Calvert Vineyard von Felton Road in Neuseeland sehr. Er ist so erdig und elegant, mit einer enormen Kraft. Beim Weisswein liebe ich den Corton-Charlemagne von Jean Marc Pillot!

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden? 
Jüngst wurde ich nach rotem Chardonnay gefragt. Den Wunsch konnte ich leider nicht erfüllen.

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