Restaurantkritik  4.Februar 2015

Im Wohnzimmer

Jean-François Piège, Jahrgang 1970, ist der stille Star der Pariser Spitzengastronomie. Er gehörte jahrelang zum Team von Alain Ducasse und führte von 2000 bis 2004 die Küche im dreifach besternten ADPA; als Küchenchef im Hotel Le Crillon (2004-2009) erkochte er auf Anhieb zwei Sterne. Und seit dem Sprung in die Selbstständigkeit im Jahr 2009 hat er sich in Paris ein Mini-Imperium von drei Restaurants aufgebaut: Die Brasserie "Thomieux", das Gourmetrestaurant "Jean-François Piège" im gleichen Haus und seit Ende 2014 das lässige Neo-Bistro "Clover" ganz in der Nähe. Als feines i-Tüpfelchen betreibt Piège gemeinsam mit Thierry Costes das kleine Hotel Thoumieux im selben Gebäude; und gegenüber dem Stammhaus eröffnete er eine kleine Pâtisserie namens "Gâteaux Thoumieux". In Deutschland fällt uns als Vergleich in Sachen Geschäftstüchtigkeit nur Tim Raue ein.

Unter Kollegen genießt Piège denn auch enormen Respekt, und bei Gastrophilen sind seine klassisch-modernen Kreationen überaus beliebt – obwohl er seit Jahren als Juror bei der populären Kochshow "Top-Chef" fungiert. Offenbar sind die Franzosen in dieser Hinsicht weniger dünkelhaft als deutsche "Feinschmecker".

Entsprechend schwierig ist es, einen Tisch im nur 22 Plätze zählenden Gourmetrestaurant zu ergattern. Unser Tipp: Mittags ist es mit ein paar Wochen Vorlauf durchaus machbar. Soviel vorab: Es lohnt sich.

Das Restaurant befindet sich direkt über der Brasserie im ersten Stock. Der Eingang, eine schmale, nicht gekennzeichnete Tür, ist leicht zu übersehen, und so landen wir erst einmal am Empfang des Thoumieux, wo eine leicht blasierte junge Dame uns skeptisch mustert, dann aber doch pflichtschuldig den Weg weist. In Sachen Freundlichkeit, denken wir uns da, kann es nur besser werden. Wird es zum Glück auch: Oben werden wir äußerst charmant in Empfang genommen und zum Tisch geführt.

Der Gastraum, gestaltet von der iranischen Stardesignerin India Mahdavi, ist ein wilder Mix aus unterschiedlichen Farben, Formen, Mustern, Stoffen. Die Gediegenheit wird durch diesen Kunstgriff aufgebrochen, der Pomp wirkt beinahe ironisch. Ein wenig fühlt man sich wie im überdimensionalen Wohnzimmer eines reichen Exzentrikers. So richtig unseren Geschmack trifft das zwar nicht, aber es ist uns allemal lieber als die grau-braun-beige Biederkeit mitteleuropäischer Spitzenrestaurants.

Ungewöhnlich auch das Menükonzept: Man wählt aus vier Gerichten entweder eine oder zwei Hauptspeisen, die dann von einer festgelegten Folge von Amuses, kleinen Vorgerichten, Käse, Desserts und Petits Fours flankiert werden. Die ganz kleinen Happen nicht mitgezählt, kommt man so auf etwa acht Gänge.

Unser Mittag starte mit einem Pizzateigsoufflée, Dickmilch, wildem Aal von der Loire und Zwiebeln. Die Kombination ist grundsätzlich spannend, doch dürfte die Teigballon für unseren Geschmack deutlich mehr Füllung haben – wir beißen vor allem auf Luft. Anders gesagt stimmt hier die Austarierung nicht, und alles bleibt etwas blass.

Umso vollmundiger schmeckt dafür das knusprige Quinoa mit Crevetten und schwarzem Sesam. Das ist kross und cremig, leicht orientalisch, angenehm würzig und mit einem Hauch Meeresbrise in Form winziger Crevettenstückchen versehen – die Luxusversion von Chips mit Dip. Exzellent.

Schon optisch ein Genuss: die Radieschen mit Nussbutter und Blattgrün-Tartelette. Die Radieschen sind beinahe schmelzend fein gehobelt und entwickeln dadurch ein ganz eigenes, mildwürziges Aroma. Sie sitzen auf einer gaumenschmeichelnden Nussbutteremulsion und filigranen Teigböden, die vor allem etwas Textur beisteuern. Ein ungemein feiner und ungemein köstlicher Happen.

Sehr schön auch der butterweiche Würfel von gesottenem Kalbsschwanz mit intensivem Kalbs-Croustillant. Dazu als Dip Emulsionen von schärfendem Meerrettich, würzigen Wildkräutern und süßsäuerlich angemachtem Piment. Natürlich ist das für den (arg kleinen) Fleischwürfel zu viel, weshalb fluffige Brotkrume dazu gereicht wird – und die gehört mit ihrer unglaublich soften, beinahe schmelzenden Textur zum Besten, was wir je an Brot gegessen haben. Sie zergeht auf der Zunge wie eine Essenz an Weißbrotkrume. Wir haben keinen Schimmer, wie man das hinbekommt, aber es schlägt jeden lächerlichen "Sponge" um Welten.

Unscheinbar wirkt der Brotwürfel mit Jus und Petersilienschnee – aber er hat es wortwörtlich in sich: Das schön getreidig schmeckende Brot ist wie ein Schwamm vollkommen mit einem ungeheuer aromatischen Jus durchtränkt, der mit Wein vom renommierten Chateau d'Arlay angereichert wurde. Wenn es je ein Gericht gab, das die Bezeichnung "süffig" in Reinform verkörpert, dann dieses. Sensationell.

Jean-François Piège legt nach eigenem Bekunden Wert darauf, die Tradition des Suppengangs aufrecht zu erhalten. Nun, bei einer Kreation wie der Bouillon von Brunnenkresse mit Emulsion von geräuchertem Hering lassen wir uns das nur zu gerne gefallen. Die leicht säuerlich-scharfe Würze der üppig-cremigen Suppe passt wunderbar zu den würzig-rauchigen Aromen des Herings. Winzige Heringsstücke sorgen dabei immer wieder für Aromenblitze, die das gehaltvolle Süppchen weniger schwer erscheinen lassen. 

Als finales Vorgericht gibt es einen Klassiker des Hauses: Royale von Entenleber nach Lucien Tendret 1892 mit Flusskrebsen. In einer butterzarten, überraschend leichten und perfekt abgeschmeckten Lebercème ("Royale") finden sich knackige, feinaromatische Flusskrebse, darüber ein Flusskrebsschaum. Fertig. Wiese und Fluss in einem Töpfchen. Das ist kompositorisch und geschmacklich von zeitloser Eleganz und schlichtweg genial.  

Nun folgt der erste Hauptgang: Blauer Hummer, in Feigenblättern gegart, mit Feigen-Cassis-Essenz und wildem Pfeffer. Anders als so oft hat der Hummer einen ausgeprägten, leicht süßlichen Eigengeschmack, der es gut mit der sehr dichten Sauce aufnehmen kann. Diese changiert zwischen fruchtiger Süße, säuerlicher Herbheit und aufpeppender Schärfe. Die Korianderblätter greifen dabei die Bitternoten der Sauce auf und überführen sie ins Exotische. Fantastisch. Wunderbar passen dazu die Streifen von gebratener Foie gras, die das Ganze harmonisieren – wobei überhaupt: Foie gras passt eigentlich immer!

Etwas konventioneller wirkt der alternative Fischgang: Wolfsbarsch aus Saint Jean de Luz mit Gemüse und Sauce von Curry und grüner Zitrone. Der Fisch ist von bemerkenswert hoher Qualität, ideal gegart und wird von der mildwürzigen Sauce filigran eingefasst. Gut gefallen uns die hauchfein gehobelten Stückchen von rohem Rotkraut, die mit ihrer kohligen Bitterkeit Spannung bringen. Nur die Kräuter und Gemüse dazu wirken auf Dauer etwas eintönig. Hätte man sie reduziert oder ganz weggelassen, wäre das Bild stimmiger.

Als Fleischgang haben wir Rehrücken, auf gegrillten Maronen gegart, mit Pfefferjus und Kürbis gewählt. Ob das Fleisch durch die gegrillten Maronen wirklich an Geschmack gewinnt, erschließt sich uns nicht, aber unabhängig davon ist es von sehr guter Qualität – wenn auch für unseren Geschmack einen Tick zu weit durch. Angesichts des köstlichen, seidigen Pfefferjus fällt das aber nicht weiter ins Gewicht. Der Knaller sind jedoch die hauchdünnen Kürbisröllchen auf geraspeltem Kürbisgemüse: Selten haben wir dieses Gemüse so intensiv erlebt. Der Texturunterschied setzt dabei noch einmal ganz neue Geschmacksnuancen frei. Und dann die Füllung aus Maronensahne mit Maronenstücken: federleicht und trotzdem eine Wucht am Gaumen. 

Danach etwas Käse aus dem Hause Xavier, schön präsentiert.

Das Pré-Dessert besteht aus Petersiliensorbet mit Pfeffer und Banane: das Sorbet ideal austariert zwischen Süße und Kräutrigkeit, der Pfeffer als Papillenkitzler und Streifen von knuspriger Banane als Texturkontrast und für ein etwas "tieferes" Aroma. Sehr gelungen.

Das erste Dessert ist eine Art Dekonstruktion der Tarte Tatin: Goldparmäne aus dem Ofen, geeiste Trockenpflaume, Knusperblätter. Das hervorragende, nicht zu süße Apfelkompott ist dabei mit Pflaumeneis zwischen unglaublich dünne Teigblätter geschichtet. Ein schönes, traditionell wirkendes Winterdessert, das einerseits filigran schmeckt, aber doch überraschend gehaltvoll ist.

Das zweite Dessert ist ein Piège-Klassiker: "Mein Blanc Manger" besteht aus ultrafeinem, gestocktem Eischnee, der mit einer dicken Vanillesauce gefüllt ist – die beim Anstechen aufs Köstlichste herausquillt. Hier variiert Piège den französischen Dessertklassiker "Île flottante" (auch bekannt als "Oeuf à la neige"), inklusive des obligaten Karamells in Form des hauchdünnen Deckels. Das Ergebnis ist ein Meisterstück an Purismus und Eleganz, Finesse und Vollmundigkeit. Allein dafür lohnt es, hier noch einmal einzukehren.

Zum Abschluss noch eine sehr gute Schokoladencrème mit Fleur de Sel, die uns nach diesem umfangreichen Menü aber etwas zu mächtig ist. Die Präsentation in der gedrechselten Holzkiste finden wir etwas übertrieben. 

Zum Kaffee nochmal Schokolade in Form eines "Überraschungseis" (kein Foto), das mit kleinen Leckereien gefüllt ist. Ein netter Gag. Als Take-away gönnen wir uns uns später noch eine kleine Armada an köstlichen Petit Fours aus der Pâtisserie "Gâteaux Thoumieux" gegenüber.

Unter den zahlreichen kulinarischen Erlebnissen, die wir in den letzten Jahren in Paris hatten, gehört das Mittagessen bei Jean-François Piège sicher zu den Besten. Hier wird eine Küche serviert, die ganz klar klassisch basiert ist, im Detail aber zeigt, dass sie auf der Höhe der Zeit ist. Die Gerichte sind geschmacksintensiv, wirken aber trotzdem angenehm leicht, sie haben Finesse und Kreativität, ohne überspreizt zu sein. Und immer wieder kann man angesichts der schieren Handwerkskunst ins Schwärmen geraten, von der milimetergenau abgeschmeckten Entenleber-Royale über das pointierte Kürbis-Maronengemüse bis zum hochfiligranen Blanc Manger.

Gut gefiel uns auch die klar erkennbare Menüdramaturgie. Von den ersten Happen über die etwas gehaltvolleren Vorgerichte bis zum Fleisch wurde es stetig intensiver – um dann mit Desserts in entspannt-genussvoller Weise abzuschließen.

Die Atmosphäre im Restaurant ist intim, aber angenehm. Beim Service stimmte ebenfalls fast alles: Bis auf einen Kellner, dessen Attitüde dem Klischee des arroganten Pariser Hipsters entsprach, agierte das vorwiegend weiblich besetzte Team exzellent – auf zurückhaltende Weise humorvoll und stets im richtigen Moment zur Stelle.

Fazit

In einem der charaktervollsten Pariser Restaurants serviert Jean-François Piège zugleich eine der eindrucksvollsten Hochküchen der Stadt: schmackhaft, elegant und ganz auf der Höhe der Zeit. 

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