Kochbücher  9.Juni 2014

Faszination Kochbuch

„Faszination Kochbuch“ -, selten hat der Titel dieser Rubrik so den Nagel auf den Kopf getroffen, wie bei „Desire" von Sergio Herman. Aber es ist sogar mehr als reine Faszination: Rührung, Melancholie, ein Pendeln zwischen Freude, Enthusiasmus und sentimentalem Kopfschütteln kommen auf, wenn wir beim Blättern an die Schließung des Oud Sluis zurückdenken. 

Aber „Desire" ist nicht einfach nur Kochbuch. Es ist ein vielmehr eine Chronik, die sich dem letzten Jahr des Restaurants widmet.  Mit den Höchstwertungen von drei Sternen im Guide Michelin und 20 Punkten im Gault Millau hatte Sergio Herman im Oud Sluis die Spitze dessen erreicht, was in kulinarischen Sphären möglich ist. Doch so wichtig diese Ehrungen auch sein mögen,  spielen sie im Buch bzw. den Büchern eher eine Nebenrolle. „Desire" behandelt das Werk Oud Sluis aus der Sicht seines Schöpfers aus dem Inneren heraus, aber nicht dessen Rezeption durch Kritiker und Tester. 

Diese Unabhängigkeit drückt sich schon in Machart und Design der Bücher aus. Gegenüber dem optischen Kochbuchkonformismus von weißem, seidenmattem Papier, dunkelgrauer Schrift und hochauflösenden, detailverliebten Fotos sieht dieses Werk rebellisch aus. Stylisch und doch aus einer anderen Zeit: Die Fotos sind eher matt, das Papier ist cremefarben, dick und von wunderbarer Haptik. Die Typografie ist zurückhaltend und zeugt gerade deshalb von Selbstbewusstsein. Das gesamte Layout ist durch die Verwendung von grafischen Texturen aufgewertet und fällt damit in eine Kategorie, die man als Vintage bezeichnen könnte. Wir aber finden, dass dies zu kurz greift, da sich Hermans Werkschau durch seine subjektive Perspektive und seine Emotionalität einer einfachen Kategorisierung entzieht. 

Ungewöhnlich schon die Zweiteilung: Das auf 400 englische Exemplare limitierte Werk „Desire" besteht aus zwei Büchern, die schlicht „Recipes“ und „Stories“ heißen. „Recipes" ist das größere Buch und widmet sich den 25 Gerichten, die Sergio Herman im letzten Jahr für das Oud Sluis kreiert hat – mit besonderem Augenmerk auf das letzte Menü. Dabei ist der Name „Recipes“ allerdings irreführend, da auf keiner der 315 Seiten Rezepte geschrieben stehen. Der Grund dafür ist so einfach wie nachvollziehbar: Sergio Herman findet, dass es für den Hobbykoch sinnlos ist, Gerichte kochen zu wollen, für die es seltene Zutaten, aufwendige Techniken und teilweise speziell entwickeltes Zubehör braucht. Für Kollegen mag er die Rezepte nicht veröffentlichen, da es – sinngemäß – ihr Beruf sei, selbst auf Ideen zu kommen. Das ist schonungslos offen, und er eckt damit sicher bei vielen an. Aber gerade das finden wir schon wieder sympathisch und nachvollziehbar. Vor allem auch deswegen, weil die Küche des Oud Sluis von vielen jungen, aber auch etablierten Chefs zur Inspiration herangezogen wurde. Gerade hinsichtlich des Anrichtens und der verwendeten Produkte beobachten wir dies oft bei Restaurantbesuchen.

Den Mangel an Rezepten machen die Geschichten rund um die Gerichte mehr als wett. Jedes Gericht hat ein eigenes Kapitel bekommen, welchem jeweils ein Zitat vorangestellt ist, das nicht nur in Verbindung mit dem Gericht steht, sondern auch als Credo für die Stilistik von Sergio Herman gelten darf. Dieser gewährt zu jedem Gericht Einblicke in seine Denkweise als Koch. Er legt dar, woher die jeweilige Inspiration kam, was er mit der Speise ausdrücken möchte, welchen Druck er beim Schaffensprozess spürte und wie er diesen letztlich überwand und seine Ideen zu einem fertigen Gericht weiterentwickelte. Das klingt simpel, ist aber durch die tiefen Einblicke in eine kreative Seele sehr ergreifend, da sich Herman einer gleichermaßen prägnanten wie emotionalen Sprache bedient. Es mag pathetisch klingen, aber gerade bei der Beschreibung vermeintlich einfacher Kochvorgänge hatten wir bisweilen ein kleines Tränchen des Glücks in den Augen. Eine Erfahrung, die wir bisher nur vom Essen kannten. 

Flankiert werden Hermans Gedanken in „Recipes“ durch die ungewöhnliche Fotografie von Tony De Luc, der bei vielen Bildern auf eine Detailfokussierung verzichtet. So kommt jedem Element innerhalb des Gerichts auch auf dem Foto die gleiche Bedeutung zu. Dies ist bei der detailverliebten Küche, in der jedes Element auf dem Teller wie ein Zahnrad in das nächste greift und nur im Zusammenspiel aller das Gericht komplett funktioniert, sinnvoll.   

Dieses Prinzip gilt auch für „Desire“ als Gesamtwerk. Ist bereits „Recipes“ allein ein großartiges Buch, so ist es ungleich wertvoller, wenn man „Stories“ gelesen hat. Dieses dünnere Buch trägt den Untertitel „written down by Mara Grimm“ – eine Food-Journalistin, die Sergio Herman lange Jahre begleitet hat. Es ist nichts geringeres als ein Tagebuch, welches das letzte Jahr des Oud Sluis aus Sicht des Meisters beleuchtet. „Stories“ gewährt tiefe Einblicke in das Denken und Fühlen des Menschen und des Kochs: authentisch, offen und – so wirkt es zumindest – bis auf die Knochen ehrlich. 

Es geht um das „Monster“ Oud Sluis, das seinen eigenen Schöpfer aufzufressen droht. Um den damit verbundenen Drang nach Perfektion, die Angst zu versagen. All die spannenden Aspekte wie den täglichen Druck und Kampf, Pflichtbewusstsein gegenüber Gästen und Familie, Kontrolle, Kreativität, die rechte bzw. linke Hand von Herman (Nick Bril und Syrco Bakker) werden aufgegriffen. Es geht um den Kick beim Kochen und die pure Lust daran. Es geht um die Vorbereitung des letzten Menüs im Oud Sluis und um die Frage nach dem Danach. Es geht um The Jane und das Pure C. Und schlussendlich geht es – wie so oft im Leben – um Freude, um Vibratoren und um Geld. Kurzum, „Stories“ ist eine Berg- und Talfahrt, mitreißend und einnehmend.

Mara Grimm ist hierbei mehr Chronistin als Autorin, setzt aber die Aussagen von Sergio Herrmann durch eigene Notizen in einen Kontext des Wo, Wann und Wer. Wir bekommen dadurch einen Eindruck vom Alltag als Chef eines 3-Sterne-Hauses, der eben aus mehr als dem reinen Kochen besteht. Damit sind diese Randnotizen keine Marginalien mehr, sondern die Prise Salz, die allem, was Herman zu sagen hat, noch mehr Ausdruck verleiht.

Überhaupt ist „Stories“ das Salz in der bitter-süßen Sinfonie „Desire". Nachdem wir die letzte Seite gelesen und quasi nach den letzten Petits Fours des Oud Sluis das Buch zugeklappt hatten, überkam uns ein Moment der Schwere, ein flaues Gefühl im Magen. So, als wäre die Geschichte von Sergio Herman hier zu Ende. Doch das ist sie nicht. Mit den Restaurants „The Jane“ in Antwerpen und „Pure C“ in Cadzand-Bad schreibt er sie weiter. Wir sind gespannt, was er für die Ess-Enthusiasten und wahnsinnigen Foodies noch alles bereithält. Der König ist tot, lang lebe der König.

Fakten

★ Autoren: Sergio Herman und Mara Grimm 
★ Desire besteht aus zwei Teilen und wird im Leinen-Schuber geliefert
★ Der erste Band hat 216 Seiten, der zweite 144 Seiten
★ Größe des Schubers: 23 cm x 26 cm x 6 cm. Gewicht: 2 kg
★ Die 1600 Exemplare der niederländischen Ausgabe sind vergriffen
★ Es sind noch 11 englische Exemplare auf der Website verfügbar
★ ISBN (niederländische Version): 978 94 9002 8 60 2
★ ISBN (UK-Version): 978 94 9002 8 61 9
★ Weitere Details: desire-sergioherman.com
★ Preis: 149,50 € zzgl. Versandkosten

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