Restaurantkritik 12.Mai 2016

Die etwas andere Familie

Natürlich sind wir spät dran. Und natürlich ist nur der Verkehr schuld. Schließlich liegt Mülheim an der Ruhr in der Metropolregion Rhein-Ruhr und somit an der stark befahrenen A 40, dem sogenannten Ruhrschnellweg. Einer Perlenkette gleich sind die Städte an dieser Autobahn aufgefädelt. Doch trotz des Verkehrs und aller Vorurteile kann man frisch gewaschene weiße Wäsche zum Trocknen im Garten aufhängen. Die Luft ist rein, die Zeit des Ruhrgebiets als Herz der Kohle- und Stahlindustrie ist schon länger passé. Zwar gründete August Thyssen in der Stadt einst seine Firma, und auch die Mannesmann-Werke waren hier beheimatet, jedoch sind die Hochöfen seit Ewigkeiten erkaltet.

Die A 40 haben wir längst hinter uns gelassen, als wir in eine Straße in einem Wohngebiet einbiegen und unser Ziel erblicken: ein Fachwerkhaus, das in der aufziehenden Dunkelheit mit seiner hübschen Architektur und dem alten Baumbestand an ein Ausflugslokal erinnert. Besonders bei einem von uns, einem Kind des Potts, ist die Vorfreude groß – schließlich gibt es in der früheren Heimat nicht so viele Sternerestaurants zu entdecken. 

Seit November 2015 darf sich das Haus über einen Macaron freuen, erkocht vom nunmehr 28-jährigen Sven Nöthel, der seit 2011 am Herd steht und – der Name lässt richtig vermuten – aus einer berühmt-berüchtigten Gastronomenfamilie stammt. Nach ersten Erfahrungen in der Küche seines Vaters im legendären Düsseldorfer Hummerstübchen schlug der Filius, der zwischendurch auch mit einer Karriere als Tennisprofi liebäugelte, den Berufsweg Koch ein. Seine bei Sascha Stemberg begonnene Ausbildung setzte er nach nur sechs Monaten zur Unterstützung seiner Mutter in Mülheim fort und wurde nach dem Abschluss sogleich Küchenchef. Mit Mutter Heike Nöthel-Stöckmann, die Patronin und wandelnde Weinkarte zugleich ist, bildet er ein ungewöhnliches Duo.

Das Interieur des 1732 erbauten Fachwerkhauses hält, was Name und Äußeres suggerieren: Wohnzimmeratmosphäre mit niedrigen Decken, gemütlicher holzig-plüschiger Einrichtung und natürlich dem namensgebenden Kamin. Letzterer sorgt im Winter für eine mehr als behagliche Temperierung, sodass wir unsere trockenen Kehlen erst kühlen müssen und im wahrsten Sinne des Wortes dem Menü entgegenfiebern...

Los geht es mit einer Ceviche vom Kabeljau mit Roggencräcker und Kapuzinerkressecrème. Das ist noch nicht weiter bemerkenswert und gerät sehr fischig. Das etwas bröckelige Brot erinnert den ehemaligen Messdiener unter uns an eine nicht ganz taufrische Oblate.

Um Längen besser gefällt uns der zweite Aufschlag, pardon, das Amuse-gueule aus Apfel, Zwiebel, Taubenleber und -herz. Mit roher Lebercrème, Sonnenwurzel (ein naher Verwandter des populären Topinamburs) und confiertem Apfel schmeckt das äußerst delikat, wenngleich am Ende ein wenig Frittieraroma durchkommt. Wir fragen uns, warum die Chefs – nicht nur hier – so ein Ass gleich im Auftaktspiel servieren und so delikate Innereien-Kreationen nicht öfter als größere Portion im Menü schicken? Einfach mal mehr wagen!

Mit Entenleber, Topinambur, Grünkohl, Quitte und Senf starten wir dann mit größeren Portionen ins Menü. Und das ist gut so, denn es handelt sich um eine ausgesprochen interessante Kombination: Das typische Aroma des Kohls ist prägnant, wird aber von einer präzisen Säure eingefangen und dürfte auch Skeptikern den Kohl sympathischer machen. Für einen Lebergang ist das Gericht ungewöhnlich herb, sodass die feinfruchtige Quitte genau richtig kommt, zumal Senfkörner auch noch leichte Schärfe beisteuern. Ein rustikales und dabei leichtes Gericht – sehr schön. Hier außerdem der Hinweis an den Leser, die Kombination im Kopf zu behalten. Die Auflösung folgt später...

Rauchaal, Auster, Fenchel, Passepierre und Shiitake entpuppt sich als wahre Umami-Bombe. Der Gang ist mutig gewürzt, ohne den Eindruck aufdringlicher Salzigkeit zu erwecken. Noch gewagter geht es in der Austernschale zu, weil hier mit einer Austernemulsion, fermentierten Pilzen, Rauchfischsud, Fenchelgel die Texturen und Aggregatzustände durcheinander gewürfelt wurden. Weil Nöthel insgesamt auch hier auf eine feine Säure setzt, wirkt diese rauchig-intensive Zusammenstellung verblüffend leicht. Gut.

Mit vollmundigem Wohlgeschmack geht es auch bei den Pilzen mit Miso, Parmesan und Feige weiter, da bereits der natürliche Glutamatgehalt der Ausgangsprodukte enorm ist. Und weil man solch ein Gericht am besten mit dem Löffel isst, müssen wir beim Hineinschaufeln nicht lange analysieren: Das schmeckt unbestritten schlotzig-köstlich, ist aber, gerade wenn zu viel vom unter dem Schaum verborgenen Trüffelkaviar auf den Löffel gelangt, beinahe grenzwertig intensiv.

Dass es auch ganz anders geht, zeigt das Küchenteam bei Kalbszunge, Stundenei, Rettich, Radieschen und Lauchsud. Der Gang schmeckt wesentlich transparenter und dabei nicht minder rund. Durch die knackigen Radieschen wirkt es gleichsam frisch und leicht scharf, während eine feine Säure belebend wirkt. Das ist ein Gegenpol zur aromatischen Zunge, die sich durch die Cremigkeit des Eigelbs wunderbar mit dem Gemüse verbindet. In Summe ist dies ein zeitloser und origineller Frühlingsbote mit großer Natürlichkeit – exzellent.

Bei Schweinekinn, Steckrübe, Macadamia, Mandarine und Schalotte findet sich erneut ein Stück Muskelfleisch auf den Teller. Das gefällt uns prinzipiell, da in diesen Teilen oft mehr Geschmack drinsteckt als in den oftmals zum Beliebigen tendierenden „Prime“-Stücken ohne Fett. So auch hier: Das Fleisch ist würzig, recht fest und verträgt sich sogar mit den dominanteren Begleitern. Die Zwiebelconsommé ist karamellig-herb, und der Gesamteindruck aus Steckrübe (eine Reminiszenz an die Zeit als Notreserve-Gemüse auch im Ruhrgebiet?), Nuss und Frucht wirkt angenehm bitter, süß und sauer zugleich. Lediglich der nicht vorgewärmte Teller trübt den positiven Gesamteindruck dieses Gangs, da das Gericht sehr schnell an Temperatur verliert.

Was einem Malocher im Pott seine Tauben waren, waren dem anderen seine Kaninchen. Ob sich Sven Nöthel bei der Produktauswahl historisch leiten ließ? Egal, denn Kaninchen, Spinat, Klettenwurzel, Quinoa, und Gewürzquark schmeckt prima! Wenngleich das mildere Fleisch als Gang vor dem Schweinkinn dramaturgisch vermutlich besser gepasst hätte, bereitet uns das selten servierte Schlappohr großen Spaß. Das Fleisch ist saftig, die aromatische Einfassung behutsam, aber dennoch pointiert, so dass sie nicht den dezenten Eigengeschmack übertüncht. Fein.

Zurück auf Anfang heißt es beim Pré-Dessert: Entenleber, Topinambur, Grünkohl, Quitte und Senf – das Menü endet mit denselben Komponenten, aus denen der erste Gang besteht. Die ungestopfte Leber wurde zu einem Eis verarbeitet, der Grünkohl würzt in Pulverform und homöopathischer Dosierung, und dass Topinambur mit seiner leicht nussigen Süße ins Dessert passt, ist sowieso schlüssig. Eine wirklich originelle Idee, die leicht und schmackhaft umgesetzt ist.

In die gleiche Kerbe schlägt die Pâtisserie mit Weizengras, Pumpernickel und Schokolade. Die an Chlorophyll reiche Pflanze ist ein „Superfood“; allerdings interessiert uns neben Vitamingehalt und Detox-Eigenschaften eher der Geschmack: süßlich, grasig und grün. Diese etwas gesunde Freudlosigkeit hilft aber einem tendenziell mächtigen Schoko-Dessert herbal auf die Sprünge. Die malzigen Karamellnoten des typisch westfälischen Dauerbrotes verleihen dem Dessert eine besondere Note, die es aus der süßlichen Banalität erhebt. Toll!

Auch die Petits Fours Schokoküchlein, Haferchip, Limette-Grüner-Tee-Praline, Fruchtgummi vom schwarzen Knoblauch wandern – wie wäre es anders zu erwarten – genüsslich in unsere reichlich vollen Bäuche. Gut, dass ein Gläschen „Korn“, das sich als feiner Brand entpuppt, bereitsteht.

Das war ein interessantes Menü. Nicht immer vorhersehbar und mit einer gewissen Note Individualität kocht Sven Nöthel mit seiner Crew eine zwischen bodenständig-rustikal und fein-innovativ changierende Küche. Es geht im Restaurant  Am Kamin nicht um vordergründige Optik oder Effekte, sondern eher um interessante Aromenpaarungen. An einigen Stellen finden sich – oder wollten wir sie finden – Rückgriffe auf die Produkte und den Geschmack der Region. Dazu musste der junge Küchenchef glücklicherweise nicht die Currywurst ins Feld führen.

Am stärksten erschien uns die Küche dort, wo sie nicht nur Kombinationen findet, die durchaus auch ein populäres Geschmacksbild bedienen (Pilz, Miso, Parmesan, Feige), sondern alten Bekannten (Gänseleber) neues Leben (Grünkohl) einhaucht oder klar und präzise aromatische Transparenz und vollen Geschmack (Kalbszunge) paart. Das Schöne ist, dass sich in einem derart familiären Umfeld ein Koch ausprobieren darf, experimentieren kann und dem Gast auch mal etwas zumuten will. Eine spannende Reise, die hoffentlich weitergeht.

Die Gästebetreuung durch Mutter Heike Nöthel-Stöckmann (vorne links) ist speziell und weicht erfrischend von einem stillschweigend definierten Standard in Restaurants dieser Klasse ab. Mancher Gast dürfte überrascht sein: Die individuelle Note aus Ruhrpott-Schnauze und familiärer Herzlichkeit passt bestens zur Wohnzimmeratmosphäre des Restaurants. Das Schema F wird hier auch bei den Weinen nicht bedient. Wie anfangs erwähnt existiert keine Weinkarte; der Gast kann, darf, muss und sollte – je nach Blickwinkel – sich in die mütterliche Fürsorge begeben. Die Kommunikation ist offen, so dass preislich keine unliebsamen Überraschungen drohen. Und gute Flaschen sind allemal auf Lager. An einigen Stellen haben wir die unvergorene Getränkebegleitung probiert. Wenngleich sie uns etwas dominant und säurelastig vorkam, ist das ein Ansatz, der unbedingt weiterverfolgt werden sollte, weil er gut zur individuellen, gemüsigen Note der Küche passt.

Fazit

Nah an der A 40, aber weitab vom Mainstream: Im Pott kocht Sven Nöthel eine moderne und kreative Küche, die positiv überrascht. Angesichts des Entwicklungspotenzials bleibt es spannend Am Kamin.

Wein

Wein im Restaurant Am Kamin in Mühlheim an der Ruhr

Fragen an die Suffmeisterin (a.k.a. Sommelière) Heike Nöthel-Stöckmann

1. Anzahl der Positionen
Wir haben ca. 400 Positionen, allerdings keine Weinkarte.

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Deutschland, Österreich und Natural Wines.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Preiswertester Wein: Andreas Bender 2014, Weissburgunder für 25 EUR
Teuerster Wein in 0,75: 1970 Grahams Vintage Port für 300 EUR
Teuerster Wein im Keller: 1988 Barolovon Angelo Gaja in der Doppelmagnum für 600 EUR

4. Die ungewöhnlichste Rarität? 
Jgia ein Rotwein von Tsikhelishvili. Es ist der einzige Erzeuger, der diese Rebsorte weltweit noch vinifiziert.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Das ist der "Paulessen Zenit" von Andreas Bender und der Sauvignon Blanc II von Stephan Attmann vom Weingut Von Winning.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Die georgischen Weine von Pheasant Tears und Tsikhelishvili.

7. Ihr Lieblingswein?
Die Kanzel von Möbitz. 

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden? 
Prosecco oder Champagner – beides haben wir nicht im Angebot :)

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

Umfrage

Familienbande / Family Affair – funktionieren familiengeführte Betriebe besser?

 

Das könnte dich auch interessieren