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Restaurantkritik  6.Oktober 2019

Wellenschläger

Den holländischen Dreisterner De Librjie zählen wir nach unzähligen Besuchen im ehemaligen Frauengefängnis in Zwolle zu unseren All-time-favourites. Jonnie Boers höchst eigenständige und niemals stillstehende Küche hat uns in den vergangenen 15 Jahren so manche Sternstunde beschert. Als uns zu Ohren gekommen ist, dass sein ehemaliger Küchenchef in der Schweiz angeheuert hat, nahmen wir das zum Anlass, unserem südlichen Nachbarn einen Besuch abzustatten. Jeroen Tamme Achtien, so der klingende Name des ehemaligen Boer-Protegés, hat sich als Arbeitsplatz einen der wohl schönsten Orte der Schweiz ausgesucht, den Vierwaldstättersee. Ein malerischer See, umgeben von unzähligen Bergen – die Bilderbuchschweiz quasi. Das Hotel Vitznauerhof liegt im namensgebenden Vitznau direkt am See. Dank der markanten Fassade mit blutrot gestrichenen Holzverkleidungen kann man es bei der Anfahrt kaum verfehlen.

Das prägnante Äußere setzt sich im Innern mit einem gelungenen Stilmix aus bei der Renovierung erhaltenen Stuckdecken und Holztreppen und modernen Elementen wie der Rezeption fort. Der Grund unseres Besuchs hört auf den Namen "Sens" und liegt in einem separaten Gebäude mit hübscher Terrasse und einem Steg im sanft dahinwogenden Wasser. Hier legen auch mal Standup-Paddler und Hobbykapitäne an, um auf einen Drink einzukehren oder zu essen. Wir machen es uns an diesem lauschigen Sommertag auf der Terrasse gemütlich, genießen die beruhigende Aussicht und harren der Dinge, die da kommen.

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Los geht's mit einigen Grüßen aus der Küche. Ein fermentierter Rotkohltee mit grünem Apfel und Ras el Hanout setzt direkt den Ton für das Menü. Funky, frisch, exotisch. Das dürften spannende Stunden werden im Sens.

Die Entenlebermousse im Randengelée-Mantel haben wir in ähnlicher Form über die Jahre immer wieder serviert bekommen. Achtiens Kugel schmeckt grundsätzlich ok – wenn auch sicher nicht erinnerungswürdig – krankt aber an einer etwas bröckeligen Mousse, die man sicher feiner hätte arbeiten können. Ein kleiner technischer Lapsus, der aber auf das etwas biedere geschmackliche Endresultat keinen Einfluss hat. Viel besser ist ein gepuffter Reiscracker mit Puder von Gartenkräutern und schwarzem Knoblauch. Knusprig, würzig, komplex, fabelhaft. Dem steht der Sellerie-Chip mit Selleriedip in der eigenen Knolle in nichts nach. Erneut superber Crunch, die Crème elegant abgeschmeckt und dazu eine wirklich schöne, unerwartete Präsentation. So geht fleischlos glücklich.

Das Menü beginnt mit Saibling, Kaffirlimette, Sonnenblume, Tomate und Rinderherz. Das Tatar des Fisches wird begleitet von einer Kaffirlimettencrème, einer klaren Tomatensauce mit Kaffirlimette und Sonnenblumenkraut. Am Tisch wird mit der sehr stylischen neuen Microplane mit Holzgriff noch etwas getrocknetes und geräuchertes Rinderherz über den Teller gehobelt. Das klingt nicht nur höchst ungewöhnlich, sondern schmeckt auch so. Und das im besten Sinn. Während man meinen könnte, dass der delikate Saibling von seinen Mitspielern komplett erschlagen wird, zeigt sich in Wahrheit ein extrem fein austariertes und spannendes Aromenspiel höchster Güteklasse. Die Verknüpfung des Fisches mit würzig-knackiger Frische (Zitrusfrucht und Tomate), kräutriger Herbheit (Sonnenblume) und des Umami-Wumms (Rinderherz) gelingt hier optimal. Am Tisch sind erste, noch leicht verhaltene Begeisterungsbekundungen auszumachen.

Beim zweiten Gang, Jakobsmuschel, Nori, Shiso und weißes Kimchi, kitzelt uns ein nicht zu überriechender Duft in der Nase. Im ersten Moment davon etwas irritiert, lassen wir unsere Fressernasen zuerst mal etwas ausführlicher an den Algenkörbchen schnüffeln. Der Duft nach einem Fischmarkt in Südeuropa an einem heißen Sommertag, das ist es! Das ist nicht despektierlich gemeint, sondern zeigt die Frische und Intensität von Achtiens Küche. In diesem Fall stammt die kräftige Note von der Jakobsmuschel, die hier komplett verwendet wurde – in der grünen Grütze rund um die Nuss ist alles verarbeitet, was nicht der Muskelstrang der Muschel ist. Zusätzlich verstärkt wird dieser charakteristische Eindruck durch die im Sens sehr beliebte Fermentationsnote, in diesem Fall vom Kimchi stammend. Während das Norikörbchen den heftigen Meereseindruck weiter verstärkt, sorgt die Shiso für einen dringend benötigten, erfrischenden Gegenpol. Mit diesem Gericht lehnt sich die Küche durchaus weit aus dem Fenster, denn das ist sicher nicht jedermanns Sache. Uns gefällts nach einer kurzen Eingewöhnung ganz gut.

Auch das nun folgende "Land and Sea" weicht deutlich von der Norm ab. Vor allem derjenigen eines regulären Fleischtatars. Denn ein Lammtatar mit Austern, Pilzen und Seealgensud ist sicher auch nicht jedes Gaumens Freund. Doch die ausgezeichneten Produkte, die zum Einsatz kommen, und der superb erarbeitete Zusammenschluss ihrer jeweiligen Geschmacksprofile dürften auch naserümpfende Fresser überzeugen. Denn wie die wilde Fleischigkeit und die angenehm zurückhaltende, jodige Brise gemeinsam mit den subtil-erdigen Pilzen und dem Sud verwoben ist, zeugt von großer Akribie bei der Komposition. Die Begeisterung bei beiden Sternefressern ist nun deutlich seh- und hörbar.

Ceviche vom Kaisergranat auf einem Saucenspiegel von Mole, junge Mango und Papaya hingegen findet am Tisch keinen Konsens. Einer von uns findet die Kombination aus süßlich-saurem Edelkrebs, opulentem, dunklem Sog der fantastisch tiefen Mole und knackigem Fruchtsalat grenzgenial und nahe an der Perfektion. Der andere hingegen stört sich sowohl an der Mole, die ihm weder wirklich passend noch – wenn schon, denn schon – optimal integriert scheint, als auch an der plakativen Exotik. Für Diskussionsstoff sorgt dieser Gang jedenfalls, selbst wenn wir uns nicht abschließend einig werden.

Wie ein alter Bekannter aus Zwolle wirkt der Seeteufel mit Sauerkraut im Sens-Style. Mit einer ähnlichen Kombination hat uns auch Jonnie Boer bereits begeistert. Achtiens Version besteht aus einem akkurat gegarten Schwanzstück der Lotte, das er mit fermentiertem Rettich, Wacholderschaum, vier Wochen gereiften Speckstreifen und einer Sauce von karamellisierten Schalotten und Senfsaat umspielt. Man braucht nicht lange um den heißen Brei herumsäuseln: Das ist verdammt gut. Dieses fein abgestimmte Konglomerat aus erstaunlich zartem Seeteufel, der salzigen Fettigkeit des Specks, der erneut wunderbar eingesetzten Fermentationsaromatik und der subtilen Sauce ist das nächste Highlight. Der unerwartete und gleichzeitig abrundende Clou ist der Wacholderschaum. Das Zypressengewächs kann bei unsachgemäßer Handhabung und Portionierung ein Gericht komplett aus den Fugen bringen. Doch die Küchenmannschaft zeigt auch in diesem Fall ihr Geschick bei der Einbindung potenziell störender Geschmäcker. Klasse.

Bevor es mit dem Hauptgang weitergeht, zeigt sich beim am Tisch mit flüssigem Stickstoff zubereiteten Yuzu-Sake-Sorbet, dass diese Kochtechnik ihre Berechtigung im Kanon der modernen Küche hat. Das Sorbets ist geradezu einschmeichelnd zart-cremig. Und das Intermezzo am Tisch sieht auch ganz nett aus.

Bei Achtien ist auch der Hauptgang ein absoluter Kracher, soviel können wir bereits vorwegnehmen. Taube und Rote Bete ist das Thema. Vom Federvieh kommt ein vorsichtig gebratenes Brüstchen auf den Teller, dazu ein Ragout des Schenkels. Eine Variation von Roter Bete begleitet das Täubchen, gemeinsam mit Zitronenjoghurtschaum und einer Beurre blanc mit Rande. Hauptgänge, die allein durch ihre Optik bereits richtig Bock machen, sind so selten wie gut gefüllte Weingläser auf unserem Tisch. Dieser Teller gehört definitiv in diese Kategorie und sieht so appetitanregend aus (das Foto gibt leider nicht die volle Pracht wieder), dass wir uns nicht lange mit unnötigem Geplänkel aufhalten, sondern gleich voll eintauchen. Mann, ist das geil! Das zarte Fleisch mit seinem präsenten wilden Aroma wird durch die erdig-süßliche Einfassung der Rande und der Opulenz der Beurre blanc perfekt ergänzt. Damit das alles nicht zu üppig gerät, setzt etwas Blutampfer frische, auflockernde Spitzen. Es klingt so simpel, doch so ein kleines Meisterwerk macht enorm viel Arbeit, um diesen hohen Grad nahe an der Perfektion zu erreichen. Allein schon dafür hat sich die Anreise gelohnt, denn das ist eine waschechte Götterspeise.

Angeschmolzener Stanser Fladä mit fermentierten Trauben, Lardo und Sud von geräuchertem Sellerie wirkt mitten im Hochsommer etwas deplatziert, was unserem Spaß beim Auslöffeln des Tellers jedoch keinen Abbruch tut. Der dem Vacherin ähnliche Käse hat ein eindringliches, betörendes Odeur, das jedes Käselieberhaber-Herz höher schlagen lässt. Der Teller wird bis zum letzten Fettmolekül weggeputzt.

Das Dessert, Soda von Kirschen und Kombucha, mit Waldmeistergelee gefüllten Kirschen, Zimtparfait, Kirschmousse und Eiscrème vom Sauerampfer, macht schnell klar, dass sich die Sens-Crew nicht nur auf Herzhaftes versteht. Und dass sie auch im Dessert nicht auf Fermentiertes verzichten will. Was sollen wir sagen? Es passt einfach alles wunderbar zusammen und ist zutiefst befriedigend. Alles durchdringende Kirschfrucht, belebend-herbe Kräuterfrische, ein Hauch wärmende Tiefgründigkeit vom Zimt, die erquickende Kohlensäure des Sodas – andersartig und doch vertraut. Wow!

Grapefruit-Vanille-Granité auf Grapefruitsalat mit gesalzener Mascarponecrème besticht durch die gelungene Symbiose aus bitterer Säure und Cremigkeit, ...

Von null auf hundert in einem Menü. So oder so ähnlich könnte man Achtiens Start im Sens beschreiben. Was der hochgewachsene Holländer und seine junge Mannschaft vom Stapel lassen, ist in weiten Teilen ein beeindruckendes Manifest einfallsreicher Kochkunst. Der Einfluss des großen Meisters Jonnie Boer ist zwar deutlich zu spüren, doch abgesehen vom Seeteufel kommen die Teller schon sehr eigenständig daher. Achtien verfolgt einen klaren Plan, den er absolut kompromisslos umsetzt. Gerichte wie die St. Jacques oder das Lammtatar kommen trotz ihrer unbestritten großen Qualität sicher nicht bei jedem Fresser gut an. Doch genau solche Leute braucht es, um die Entwicklung der gehobenen Küche voranzutreiben und den geneigten Gourmand auch mal etwas aus seiner Komfortzone zu locken. Das Sens dürfte in der Schweiz mit dieser Art von Küche ein Alleinstellungsmerkmal haben. Wir kennen bei unserem südlichen Nachbarn zumindest kein anderes Restaurant, das einen ähnlichen Kochstil pflegt. Uns hat der Besuch im kleinen Restaurant am Vierwaldstättersee begeistert, und wir wollen die Entwicklung Achtiens genau beobachten, denn hier scheint sich etwas Großes anzubahnen. Die nächste Stufe erreicht das Sens vielleicht bereits im Winter. Denn für die Skisaison siedelt die gesamte Crew nach Davos ins Waldhotel um und bespielt dort das 'Sens 1605'. Ein guter Grund, unsere nächste Tour in die Alpen zu planen ...

Fazit

Achtien und seine kleine Crew starten gleich richtig durch. Das Sens überzeugt uns mit einem spannenden und in großen Teilen saustarken Menü. Das schmucke Restaurant am Vierwaldstättersee wird in Zukunft sicher hohe Wellen schlagen.

Wein

Die Weine im Restaurant Sens in Vitznau

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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