Restaurantkritik 13.Juni 2019

ICH WILL WIEDER AN DIE NORDSEE

Die steife Brise, die im Oktober die schöne Insel Sylt umweht, tut dem Nobel-Tourismus keinen Abbruch. Dank der gesteppten und selbst in den absurdesten Farben vertretenen Daunenjacken sind die Urlauber jedoch für alle Wetterverhältnisse gewappnet. Im Gegensatz zu uns – doch wir wollen uns die nächsten Tage sowieso über die Insel fressen und ausgiebige Dünenwanderungen den anderen Gästen überlassen, die am Mini-Bahnhof von Westerland in Massen aus dem Zug strömen. Unsere erste Station ist das mit einem Stern ausgezeichnete „Bodendorf‘s“ im Landhaus Stricker, die Heimat des medienaffinen Kochs Holger Bodendorf. Freundlicherweise wird uns die Tür bereits zum Mittag aufgesperrt, da der Besuch ansonsten nicht gepasst hätte. Sonst speist man hier nur zu später Stunde. 

Holger Bodendorf ist ein Sylter Wiederkehrer: Nach seiner Ausbildung kochte er bereits Ende der 1980er-Jahre im Landhaus Stricker, bevor es ihn innerhalb von nur drei Jahren vor allem quer durch Hamburg zog: Dem Landhaus Scherrer und dem Hotel Atlantic Kempinski folgte das Landhaus Dill sowie, als kleiner Ausreißer, die Petermann’s Kunststuben in Zürich (wo er sich vermutlich das Apostroph abgeschaut hat). Die Gasthaus- und Hotelgastronomie hat Bodendorf durchgespielt, als es ihn 1992 „zurück nach Westerland“ zog. Bodenständige neun Jahre kochte er in Tappe’s und im Veneto, in dem er 2000 seinen ersten Stern erhielt. 2001 besann er sich auf seine Dünenwurzeln und fand mit seinem eigenen Restaurant im Landhaus Stricker sein Glück – und 2002 erneut den Stern. 

Zeitgleich begann auch seine TV-Karriere. Es folgten zahlreiche Sendungen und Kochbücher, und da sich das Leben vor der Fernsehkamera nicht immer reibungslos mit dem Küchenalltag verbinden lässt, hat sich Bodendorf seit Februar 2018 einen gleichberechtigten Chefkoch an die Seite gestellt: Der sympathische Philip Rümmele, der bereits in der Schwabenstube in Asperg (wir berichteten) einen Stern erkochte, kümmert sich bei Abstinenz des 52-Jährigen um die Gäste. Bodendorf ist auch bei unserem Besuch nicht anwesend, dafür aber – neben Rümmele – eine charmante Bedienung, die sozusagen exklusiv für uns den Service schmeißt. Wir sind nämlich allein im kleinen, hellen, mit allerlei Kunst ausgestatteten Gastraum. Wie immer gibt es das große Menü, und die Restaurant-Website ist um ebenso große Versprechungen nicht verlegen: „Seien Sie vorsichtig: Suchtgefahr nicht ausgeschlossen!“ – na dann, auf geht’s!

Ein maritim dekoriertes „Amusebrett“ stimmt uns auf das Kommende ein: Beeindruckend kleinteilig gelingt der Einstieg mit cremig-leichten Hummertatar-Canneloni in Avocado auf dem Teller, in einer Schale ein gebratenes Hummermedaillon im Safransud mit geräuchertem Topinambur, eine heiße und leicht übersüßte Hummer-Eiswein-Bisque, eine mit filigraner Schärfe vielschichtige wie hervorragende, gepuffte Topinamburschale mit Topinamburtatar, Liebstöckel und geräuchertem Schwertfisch, ein saftiger Reiscracker mit konfierter Wildgarnele – dank Wasabi und Ingwer in die japanische Richtung gedacht –, ein fruchtig-herber Pumpernickel mit Entenleber und Rehschinken (ein Mü zu salzig) sowie etwas zu große als auch trockene Foccacia-Bälle mit und ohne Lardo-Überzug. Ein wahres „Brett“, mit dem wir nicht gerechnet hätten.

Die Königskrabbe mit Gartengurke, Passionsfrucht, Buttermilch und Kimchi gibt den erfrischenden Einstieg in das Menü. Die Gurke dämmt die schiere Süße der Passionsfrucht ein, das funktioniert prächtig. Ebenso überzeugt der Garpunkt der saftigen Krabbe, die eher dezent abgeschmeckt wurde, während das Kimchi (das mehr und mehr Einzug in die Spitzengastronomie findet, aber nur sehr selten als Begleiter funktioniert) mehr säuert, als dass es brennt. In Summe ein runder Auftakt. 

Ebenfalls gut, aber gefälliger und eindimensionaler: die Bayrische Garnele mit gratinierten Cannelloni, jungem Lauch, Shiitake-Pilzen und Vinaigrette von geschmorter Poularde. Die Pilze und ihre Aromen sind sehr omnipräsent, es macht sich eine gelernte Umami-Note breit, die nicht stört, die schmeckt – aber auch nicht überrascht. Die Garnele ist hier der einzige Faktor, der ab und an unterbricht – mit nussigen Aromen und Biss. 

Perfekte Inselküche dagegen beim Nagelrochen mit Mandelcrème, grüner Olive, Passepierre (ein salziges Kraut, natürlich auch „Queller“ genannt) und Salzzitrone. Äußerst präsent steht der bissfeste Fisch im Vordergrund, salzige Akzente setzt das Kraut obenauf, sodass es nie langweilig wird. Fast schon exotisch ist die Beigabe der Melone; skeptisch probieren wir diese Kombination, und mit der richtigen Dosierung harmoniert die frische Süße perfekt mit dem Küstenteller, dem es schlussendlich nur an einer Prise Salz mangelt, um alle Elemente miteinander zu verbinden. Nach wenigen Momenten attestieren beide Sternefresser wie aus einem Munde, dass wir den Rochen als Produkt in der Spitzengastro vermissen.

Eine Art „Sylter Soljanka“ stellt Dry-aged Luma-Pork mit mariniertem Spitzkohl, “Ofenkartoffel”, BBQ und Sauerkrautsaft dar. Die Luma–Schweine nehmen während ihres Lebens eine große Menge Leinsamen auf und das Fleisch reift nach der Schlachtung für einige Zeit in einem Edelschimmelpilz. Das Ganze erinnert hier an ein aromatisch hochgezüchtetes Stück Kassler, das von einer subtilen Säure des Suds umspielt wird. Das passt hervorragend zu den kalten Temperaturen, und hier stimmt auch die Salzung. Für unsere „Mästung“ sorgen die am Tellerrand arrangierte Topfenpürree-Krokette – sehr fluffig – sowie eine prima gearbeitete Blutwurstpraline, wobei wir uns fragen, ob diese eher isolierten Begleiter direkt auf dem Teller nicht mehr Sinn ergeben hätten.

Außerordentlich gut gefällt uns die Imperial-Taube mit jungem Kopfsalat, Nashibirne, Röstzwiebeln und Dijonsenf. Die zarte, schmelzige Taube sowie die knusprige Haut sind gekonnt gegart und von außerordentlicher Qualität. Die darf gerne für sich stehen, sodass sich die Begleiter eher unterordnen und die Fleischaromen mit Fett (Röstzwiebeln) und Säure (Senf) weiter nach vorne bringen. Von der Birne nehmen wir nur wenig wahr, und auch der Sud ist eher leichtfüßig als deftig – mehr hätten wir auch nicht gebraucht. Vorzüglich!

Der Hauptgang: US-Prime-Onglet mit Ur-Tomaten, Artischocken, Tortelloni von geschmorten Ochsenbacken und Chimichurri (eine argentinische Grillsauce). Der Nierenzapfen aus der Nähe des Zwerchfells ist in den USA bereits das absolute Trendstück des Rindes, in der deutschen Steakküche jedoch (noch) nicht weit verbreitet. Das Foto deutet schon an, dass diese Stücke ungemein zart sind, noch dazu schmecken sie äußerst intensiv nach Rind – ein wenig heißer hätte der Teller allerdings sein können. Der Jus ist, wie bei der Taube, nicht allzu sehr gebunden, aber filigran abgeschmeckt; wir kippen gerne nach. Die grüne Crème auf den Fleischstücken erinnert uns an asiatische Seafood-Sauce und gibt dem ganzen einen süß-sauren Kick, etwas pfeffrige Schärfe liefert die Chimichurri. Das Teigtäschchen ist rustikal gearbeitet – die herzhafte Füllung kann es vertragen. Ein wunderbar unverspielter Hauptgang!

Nicht jedermanns Sache dürfte das Dessert, Joghurt und Sauerklee mit Kombucha, grünem Pfirsich und Buchweizen, sein. Was optisch erst mal nach einem „Sweet Pleaser“ anmutet, entpuppt sich als kühle, nur leicht gesüßte und eher bitter-saure Erfrischung. Der Sauerklee ist prominent dosiert, sodass man nicht um ihn herumkommt. Das funktioniert an und für sich gut, dennoch erschließt sich diese durchaus stimmige Komposition zu schnell – hier wäre, ähnlich wie bei der Garnele, eine Spur Komplexität schön, wenngleich dies als eines der besseren Desserts in der Sternefresser-Süßspeisenhistorie eingeordnet werden kann.

Zum Kaffee einige gute Petits Fours (von links nach rechts) : Baumkuchenfour mit Himbeere und Zitronencrème, Kokos- und Proseccopralinen sowie Weincrèmetörtchen.

Tja, da gibt es eigentlich nicht viel zu meckern. Holger Bodendorf und Philip Rümmele tischten uns heute ein amtliches Menü auf, souverän und unverkopft. Wie oft müssen wir – besonders im Einsterne-Bereich – mit der ausgelutschten „weniger ist mehr“-Keule kommen; dieses Restaurant zeigt, dass es auch anders geht. Ab und an wünschten wir uns sogar etwas mehr Abwechslung in den Kreationen (Garnele, Dessert), aber das sind eher konstruktive Anmerkungen. Ein etwas heißerer Teller hier, eine fehlende Prise Salz da, kleinere Focaccia-Bälle zu Anfang – all das sind nur Lappalien im Vergleich zu tollen Gerichten wie der Taube, dem Schwein und dem Rind im Hauptgang. Wir können nur vermuten, wie hoch der Anteil Rümmeles bei der kreativen Arbeit und als Ideenlieferant ist und wie viel vom Gastgeber selbst kommt, aber wie auch immer das Verhältnis ist: das Gespann aus dem 34-Jährigen und dem 52-Jährigen sollte man auf dem Zettel haben. Eine kleine Bitte hätten wir aber – bei der nächsten Überarbeitung der Corporate Identity einfach mal den „Deppen-Apostroph“ weglassen.

Fazit

Im „Bodendorf‘s“ bringen Philip Rümmele und Holger Bodendorf eine souveräne, unverkopfte und äußerst schmackhafte Urlaubsküche auf die Teller.

Wein

Die Weinauswahl im Restaurant Bodendorf’s auf Sylt

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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