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Restaurantkritik  6.Januar 2018

Relaxter Rausch

Wien ohne Oper? Geht nicht. Das denken sich viele Kulturinteressierte aus aller Welt. Wien ohne einen Besuch im Steirereck? Dass das nicht geht, denken sich alle kulinarisch interessierten Besucher der österreichischen Hauptstadt. So wie wir. Das Steirereck und sein Intendant Heinz Reitbauer Jr. sind längst zu einer Wiener Institution geworden. Seit Jahren wird Reitbauer als Vordenker einer modernen, österreichischen Regionalküche mit Auszeichnungen und Anerkennung aus aller Welt überhäuft. Durch den vieldiskutierten Umbau vor einigen Jahren hat sich das Restaurant auch optisch klar als Vorreiter der neuen österreichischen Küche positioniert. Die zeitgenössische Architektur inmitten des Wiener Stadtparks ist natürlich Geschmackssache - wir finden, dass sich das Steirereck wunderbar ins grüne Parkbild einfügt und gleichzeitig einen unübersehbaren Akzent setzt.

An diesem sonnigen Sommermittag zeigt sich Wien von seiner schönsten Seite. Der Stadtpark ist gefüllt mit Alt und Jung, die für eine angenehm ungewöhnliche Geräuschkulisse sorgen. Unser Tisch liegt im Eingangsbereich des Restaurants. Das Fenster ist hochgefahren, so dass ein erfrischendes Lüftchen um unsere Beine weht. Zwischendurch hören wir Kinder auf der nahegelegenen Wiese jubeln, Gesprächsfetzen von Fußgängern, die vorbeilaufen. Das sorgt zusammen mit der verwinkelten, intimen Architektur unseres Speisesaals und dem familiären Empfang durch das Steirereck-Team dafür, dass wir uns komplett relaxed fühlen. Zur zusätzlichen Entspannung serviert Sommelier René Antrag einen Winzersekt. Wir sind bereit.

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Eine Reise durch Österreich und darüber hinaus läßt die Festspiele beginnen. Mit dabei: Prinzen mit Röstzwiebel & Salatherzen, Brösel-Brokkoli mit fermentierten Kalamansi & Estragon, Hechtnockerln mit geschlagenem sauren Rahm, Fenchelpollen & Dill, 48-Stunden-Speck mit Senf-Radieschen, Falafel mit geschlagenem Minz-Ayran & Sumac-Paprika, Okra mit Ayran & Olivenkraut. Ein spannender, höchst abwechslungsreicher Einstieg. Der leicht panierte Brokkoli und die Hechtnockerln stechen aus den durchgehend ausgezeichneten Petitessen besonders heraus. Auch der fluffige Falafel, der nicht überwürzt daherkommt, sondern subtil orientalisch abgeschmeckt ist, verdient ein Sonderlob.

Reinanke mit jungen Erbsen, Kamille und Meerfenchel gibt den ersten Gang. Der Fisch ist unter einer dünnen Cremeschicht versteckt. Die fantastische Qualität des roh marinierten Felchen kann es problemlos mit den süßen Erbsen aufnehmen, die den subtilen Eigengeschmack sogar zu akzentuieren vermögen. Die Kamille bringt eine schöne grün-florale Note ins Spiel, während der Fenchel vor allem als ätherisches Würzelement wirkt. Das sieht unspektakulär aus, ist aber ein eleganter wie feiner Menüauftakt, der Hunger macht auf mehr.

Vegetarisch geht's weiter mit Zucchini und Dinkel. Reitbauer schafft es, selbst einem oft langweiligen Gemüse wie der Zucchini ordentlich Leben einzuhauchen. Das erstaunlich aromatische Kürbisgewächs wird unterstützt durch Dinkelkeimlinge, die neben einem getreidig-erdigen Unterton vor allem einen willkommenen Biss ins Spiel bringen. Erweitert wird das Ganze um die frühlingsfruchtige Note der Orangenblüte, den nussigen Crunch von Pistazien und etwas gebeizten, gehobelten Eidotter. Erneut ein eher leises Gericht, das vom harmonischen Zusammenspiel der einzelnen Komponenten lebt, ohne dabei zu langweilen. So darf es gerne weitergehen.

Nicht ohne meinen Brotwagen! Natürlich musste es auch eine mehr oder minder kleine Auswahl aus dem Sortiment von "Aufschneider" Andreas Djordjevic sein.

Mit dem Solo-Spargel mit Topinambur, Fichtenwipferl und Waldmeister zieht das Menü ganz behutsam an. Einmal gegrillt und einmal kurz blanchiert, profitiert der fantastische Spargel von der Süße der Jerusalem-Artischocke, die den typisch gefälligen Eindruck der Stangen verstärkt. Als gelungener Konterpart fungieren die momentan allseits beliebten zartgrünen Spitzen der Fichte, die gemeinsam mit dem Waldmeistersud eine ungewöhnliche, waldig-herbe Begleitung darstellen. Sehr interessant ist, wie sich die prägnante Waldnote mit jeder Gabel zusehends intensiviert, was zu einem fast schon betörenden Genuss führt. Sehr gut!

Eine Überraschung folgt mit dem Amur-Karpfen mit Kochsalat, Haferwurzel und Dill. Karpfen kriegt man heutzutage sowieso kaum noch serviert, und in einem Restaurant dieser Klasse schon gar nicht. Zu Unrecht, wie sich zeigt. Der ursprünglich in China beheimatete Fisch vermeidet den oft dumpf-sumpfigen Geschmack, der erfolgreich am Ruf des Karpfens gesägt hat. Der eher zurückhaltende Salat kommt roh und gekocht auf den Teller und dient gemeinsam mit dem hocharomatischen Dill als ideale Unterlage für das kräftige Fleisch inklusive wunderbar knuspriger Haut. Schön. Lediglich die Haferwurzel vermögen wir nicht herauszuschmecken.

Der Weg der Subtilität wird mit dem glacierten Stör mit jungen Artischocken, Physalis und Olivenkraut endgültig verlassen. Durch das Grillen und anschließende glacieren ist der festfleischige Stör schön intensiv, jedoch für sich genommen beinahe eine Spur zu süß. Hier steuert einerseits die Artschocke mir ihren charakteristischen Bitternoten entgegen sowie die Physalis mit ihrer prononcierten Fruchtsäure. Zusätzlich gibt das nach eingelegten Oliven schmeckende Olivenkraut dem Ganzen einen mediterranen Anstrich. Gerade dieses Kraut zeigt sich als entscheidende Komponente, sorgt es doch dafür, dass das Gericht in sich schlüssig wirkt.

Wilder Lattich mit jungem Mais, Kalbshaxl & Eierschwammerl markiert den sanften Übergang zum fleischigen Teil des Menüs. Dem Arrangement können wir geschmacklich viel abgewinnen, jedoch scheint uns die Haxe ein wenig unterrepräsentiert und vor allem zu klein geschnitten. Irgendwie werden wir beim weiteren Probieren das Gefühl nicht los, dass Reitbauer hier auch ein wenig mit den Erwartungen seiner Gäste spielt. Denn schlussendlich dient das Kalb hier eher als Würzelement und bringt ein wenig noblen Schmelz ins Spiel. Ungewöhnlich. Doch es funktioniert im Kontext dieses Gerichts ganz ordentlich. Für unseren Geschmack hätte man zwischen relativ neutralem Lattich, süßlichem Mais mit Popcornanleihen und den zarten Pilzen doch noch ein wenig stärker aufs Haxerl setzen dürfen. In Summe dennoch gut.

Nun folgt ein Klassiker des Hauses: Gänseleber mit Cox Orange. Dafür wird eine dicke Scheibe Foie gras auf der Unterseite paniert und auf der oberen Seite mit dünn geschnittenen Cox-Orange-Äpfeln belegt, um dann kurz in Gänse- und Butterschmalz gebraten zu werden. Dazu gesellen sich eine Madeira-Gänsesauce und etwas Majoran. Was sollen wir sagen? Es schmeckt genau so, wie es sich liest. Klassisch fantastisch. Mundfüllender Schmelz, ansprechendes Säurespiel, etwas Crunch - alles da. Zum heutigen Kanon der Reitbaurschen Küche will diese Reminiszenz an vergangene Tage trotz ihrer zweifellos hohen Qualität jedoch nicht mehr so recht passen.

Der erste Hauptgang folgt in Form einer Milchkalbschulter mit Goldrüben, Zuckererbsen und weißer Zwiebel. Die ausgelöste Schulter wird zuerst im Ganzen am Tisch präsentiert, um dann zurück in die Küche zu verschwinden. Da läuft uns doch schon mal ordentlich das Wasser im Mund zusammen.

Zur ultrazarten Stelze, die in Sauermilch und Ajowan (ein Doldenblütler, der scharf und bitter ist und nach Thymian duftet) geschmort wurde, kommt eine mannigfaltige wie spannende Begleitung mit auf den Teller. Von den vielen Mitspielern hat es uns vor allem das Erbsen-Blattkohl-Gemüse mit Pekannuss, Wiesenchampignons und Chupetinhos angetan, das in sich bereits so abwechslungsreich ist und die Schulter so wunderbar ergänzt, dass wir beinahe auf die anderen Elemente verzichten könnten. Tun wir natürlich nicht. Schließlich hat sich die Küche ja etwas dabei gedacht. Nachdem wir alle erdenklichen Kombinationen durchprobiert haben, halten wir fest: ein in sich schlüssiges, äußerst schmackhaftes Gericht. Erster Hauptgang gelungen.

Ein Rehragout mit Schrot, Grünspargel & Schwarznessel ist, wie so oft im Steirereck, so viel mehr, als die Karte uns weismachen will. Neben dem Ragout mit Charapita (eine ursprünglich aus dem Regenwald stammende Chilibeere) wird vom Wiederkäuer auch noch das Rückenstück mit Schwarznesseln sowie das confierte Herz mit eingelegten Grünspargelknospen serviert. Am Tisch angegossen wird der Schmorsaft mit Gewürzmilch. À part im Schälchen wird ein Käferbohnen-Heiden-Emmer-Schrot mit Grünspargel, Rahm, Salzringlotten und Bucheckernöl gereicht. Es ist müßig zu erwähnen, dass jedes der Fleischstücke optimal gegart ist. Die auf den ersten Blick verschwindend kleinen Accessoires haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss und sorgen bei dem vielen Fleisch sowohl für etwas Abwechslung als auch für eine auflockernde Balance. Die Gemüseschüssel dazu hätten wir - obwohl der Inhalt tadellos schmeckt - nicht unbedingt noch gebraucht. Das mag aber auch an unserem bereits nicht unbeträchtlichen Sättigungsgrad liegen.

Weiter geht's mit einer Erfrischung: Frischkäse mit Rhabarber & Steinklee. Wir staunen im ersten Moment nicht schlecht, als ein Abtropfsieb mit einem kunstvoll drapierten Streifen Rhabarber, der mit Ingwer und Anis aromatisiert wurde, über den Dessertteller gestülpt wird. Darauf legt der Service noch ein Stück Sauermilch-Frischkäse, dessen Saft wohl auf den Teller darunter tröpfeln soll.

Viel Flüssigkeit findet den Weg nach unten zwar nicht. Dafür schmeckt die Auflage schon mal ausgezeichnet, wenngleich der Käse etwas überdimensioniert ist. Als der Service den Aufbau wieder entfernt, sehen wir, was wir als eigentlichen Refresher ausmachen: ein herrlich cremiges Heumilcheis mit Steinklee, eingelegtem Rhabarber mit Äpfeln und Berberitzen sowie eine Sauermilch-Frischkäse-Molke. Das erfrischt in der Tat. Die herrliche Säure, gepaart mit der Fruchtigkeit und der prächtigen Cremigkeit - ausgezeichnet!

Das Hauptdessert dreht sich um Kapuzinerblüte, Erdmandel, Holunderblüten und Baum-Klee. Hinter einem Holunderblüten-Baiser verstecken sich ein Kapuzinerblütensorbet, Erdmandelkuchen und Pudding, geeiste und gedörrte Stachelbeeren und einige Kräuter sowie Zitronenverbenenöl. Das ist ein süßes Finale ganz nach unserem Geschmack: kühl, frisch und spannend. Die komplexen floralen Aromen sorgen gemeinsam mit den gezielt herben wie frischen Kräutern für ordentlich Party am Gaumen, die beiden Erdmandelzubereitungen bringen etwas Substanz in das Arrangement. Saulecker. Wir sind fast geneigt, einen Nachschlag zu ordern ...

Zum Espresso gibt einen kleinen Reigen von Petits Fours die das in der Stadt Wien allgegenwärtige Thema "300 Jahre Maria-Theresia" aufgreifen - hier unterteilt in fünf thematisch betitelte Kleinigkeiten: "Liebe": Ring mit Veilchen und Kaiser-Zitrone, "Architektur": Lorbeer süß-sauer, "Bildung": Schultüte und Schönbrunner Zitrus, "Gärten": Duftrose mit Heiden, "Dynastie": 16 Gewürze mit Lavendelmilch. Hinter jedem Häppchen verbirgt sich eine kleine Geschichte mit der Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn. Beispielsweise beziehen sich die 16 Gewürze in der Milch auf die Zahl Kinder Maria-Theresias. Ein netter Einfall. Viel wichtiger als die Geschichte ist für uns jedoch der Geschmack. Hier punkten die Friandises durch Abwechslung und prägnante Kombinationen. Ein wunderbarer Schlusspunkt.

Dass das Steirereck zu den Highlights einer jeden Wien-Reise gehört, ist keine Überraschung. Doch seit unserem letzten Besuch hat sich hier Einiges getan. Angefangen bei der spektakulären Architektur, die uns ausnehmend gut gefällt. Die Küche sowie die generelle Atmosphäre des Restaurants spiegeln die Philosophie Reitbauers nun akkurater wider, als das vor dem Umbau der Fall war. Auch die Küchenleistung des Teams hat noch einmal merklich zugelegt: Wo früher – vor allem, wenn es im großen Menü langsam auf den Hauptgang zuging – das eine oder andere vernachlässigbare Gericht zu finden war, fällt nun kein Gang mehr merklich ab. Ganz allgemein wirkt die Küche auf uns noch eine Spur schärfer fokussiert, reduzierter und schmackhafter. Zum Gesamterlebnis Steirereck trägt neben der tollen Küche und der spannenden Architektur natürlich auch der Service unter Leitung von Birgit Reitbauer (vorne mit Kind) und Sommelier René Antrag bei, den wir zu unserem "Suffmeister 2017" kürten. Das gesamte Team strahlt eine angenehme Souveränität aus, ist dabei im richtigen Moment aber auch nie um einen lockeren Spruch verlegen. Die Weinbegleitung des gebürtigen Sachsen Antrag bedarf ebenfalls eines ausdrücklichen Lobs: spannende Tropfen, optimal auf die Gerichte abgestimmt und fachkundig präsentiert.

Fazit

Noch fokussierter, noch klarer, noch besser. Heinz Reitbauer und das Steirereck befinden sich auf dem vorläufigen Höhepunkt und lassen (fast) keine Wünsche mehr offen. Jede Reise wert.

Wein

Die Weine im Restaurant Steirereck bei Heinz Reitbauer

2015 Alte Reben in Weiss, Wachter-Wiesler, Deutsch-Schützen

1990 Sauvignon Blanc „Zieregg/Grassnitzberg“, Tement / Berghausen

2015 Himmel auf Erden (WB,Scheurebe), Christian Tschida / Illmitz

2014 Grüner Veltliner Nr. 137 „Steirereck Selection“, Hannes Schuster / St. Margarethen

2011 Morillon „Graf-Spätfüllung“, Sepp Muster / Schlossberg

2013 Furmint „Garten Eden“, Michael Wenzel / Rust

2007 Riesling „Loibenberg“ Smaragd, F.X. Pichler / O.-Loiben

2010 Grüner Veltliner oxidativ „Steirereck Selection“, Geyerhof / Oberfucha

2007 Blaufränkisch „Spiegel“, Paul Achs / Gols

1997 Admiral (ZW,M,CS), Pöckl / Mönchhof

NV Sake Junmai Daiginjo „Turtle Red“, Ikekame / Fukuoka

2015 Schöner Riesling, Peter Veyder- Malberg / Vießling

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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