Restaurantkritik  8.November 2016

WALD, WIESE, WENZEL

In Berlin tobt der Karneval der Kulturen. Menschenmassen stehen auf der Straße und schauen sich das Tohuwabohu aus Tanz und Verkleidung an, das die Hauptstadt jedes Jahr aufs Neue in ein Verkehrschaos stürzt. Für uns Fresserverrückte ist das Grund genug, in das schöne Mecklenburg zu flüchten, das uns nach knapp 90 Minuten mit landschaftlicher Idylle aus Seen und Rapsfeldern belohnt. Während der Fahrt ahnen wir freilich noch nicht, dass wir bereits an einigen Komponenten des bevorstehenden Dinners im Forsthaus Strelitz vorbeigerauscht sind. Wenzel Pankratz hat hier, nahe der Stadt Neustrelitz, den Betrieb seines Vaters übernommen. Er bietet den Gästen statt gutbürgerlicher Gasthofküche nun Produkte aus eigener Herstellung und regionale Menüfolgen. Mit Spannung und ordentlichen Löchern in unseren lokalen Mägen betreten wir das rustikale Landhaus ...

Auf den ersten Blick sieht’s hier so ganz und gar nicht nach Gourmet-Tempel aus – und das hat Charme! Pure Gasthof-Schlichtheit und blankes Holz nehmen jedem Fine-Dining-Muffel den Wind aus den Segeln, das gedämpfte Licht sowie die hervorragende Musikauswahl (aus den Boxen tönt die Stimme von Becks Vorzeige-Meditationsalbum „Sea Change“) tragen ihr Übriges zum Instant-Wohlgefühl bei. Wir nehmen am runden Community-Tisch neben anderen, uns unbekannten Gästen Platz und kommen schnell ins Gespräch; einige von ihnen sind, wie wir, zum ersten Ma(h)l hier, andere Wiederholungfresser, die alle paar Monate „beim Wenzel“ vorbeischauen und sich bestens auskennen mit dem Küchenkonzept, das sie in höchsten Tönen loben.  Ein sehr gutes Zeichen, schließlich wird das sorgsam restaurierte Landhaus mit eindrucksvollem Hof (dazu später mehr) erst seit etwas über einem Jahr von Pankratz junior bewirtschaftet. Nach seiner Lehre im Berliner Facil und Stationen im Petit Tirolia von Bobby Bräuer in Kitzbühel, bei Andreas Caminada im Schloss Schauenstein sowie bei Jonnie Boer kehrte er an den heimischen Herd zurück. Vater Hubert Pankratz kümmert sich jetzt vorrangig um den Hof, arbeitet also als eine Art Familienlieferant für den jungen Küchenchef, der allein in der kleinen, feuerlodernden Küche steht, aus der wir nun mit dem ersten Gruß für unsere Stadtflucht belohnt werden ...

Ein Leinsamenchip mit einer leichten Joghurtcrème ist ein schöner, erfrischender Knusper-Snack. Dazu kommt ein bissiger, mit Sanddorn und Majoran versetzter „Garten-Gin“, der dank heftiger Säure und ordentlich Sprit freie Bahn für das Folgende schafft. Gut.

Das Sauerteigbrot, ebenfalls angereichert mit Leinsamen, ist nicht alt-, sondern hausgebacken und handwarm. Als Aufstrich gibt es einen frischen, herb-vegetabilen und mit einer ordentlichen, etwas übertriebenen Portion Knoblauch versetzten Quark mit Wald- und Wildkräutern, bei dessen Dosierung wir uns nach dem ersten Bissen zügeln müssen. Das dazu gereichte Salz hätten wir gar nicht gebraucht, denn das Brot selbst weist einen hohen Salz- und Säureanteil auf und knuspert für sich schon köstlich. Eine leckere Brotzeit, bei der uns der Aufstrich klar macht, wohin die Reise geht: in den Wald und auf die Wiesen.

Mit Spargel, Quitte und Rübeneintopf steigen wir ins Menü ein. Die Spitzen und Stängel wurden langsam in Nussbutter gegart, anschließend scharf angebraten und haben ordentlich Biss und Saft, so dass sie ohne Probleme für sich selbst stehen könnten. Der herbe, intensive Sud und die eingemachten Quitten lenken den Teller dann in eine überraschende, bittere Richtung, welche den süßlich-herben Spargel offensiv pariert. Das funktioniert derart gut, dass wir uns fragen, warum wir das widerspenstige Kernobst nicht öfter in herzhaften Kombinationen finden. So kann es gerne weitergehen.

„Huberts Einmaleins“ steht für ein wechselndes Gericht, das Vater Pankratz vom eigenen Hof zusammenklaubt. In diesem Fall sind es rohe Rehkeulen-Scheiben aus lokaler Zucht mit Sauermilch, Sauerklee und Senfsaat, und sofort werden wir optisch an ein Ochsentartar-Gericht aus dem Noma erinnert, wenngleich wir hier geschmacklich in andere Gefilde schreiten. Die schiere Menge an Klee lässt anfangs zwar Skepsis über den Säuregehalt des Tellers aufkommen, mit dem ersten Bissen ist diese jedoch verflogen: Das intensive, in amtliche Stücke geschnittene Reh ist hauchzart, wird von cremiger Milchsäure umschlossen und füllt den Mund mit einer herzhaften Frische, die durch die bröslige Senfsaat den nötigen Biss erfährt. Dazu liefert eine unserer Lieblingsbrauereien, Hopfengut 20, einen äußerst passenden, weil süß-herben Gerstensaft. Hervorragend!

Der Hecht mit Adretta-Kartoffeln und Butter führt uns in die Wasserwelt der Mecklenburger Seenplatten. Hier verstecken sich die mundgerechten Hecht-Stücke und die Kartoffelcrème unter einem dichten Molkeschaum. Das Kartoffelpüree am Boden ist mit enorm viel Butter zubereitet (Robuchon, ick hör‘ dir trapsen!) und derart schwer, mächtig und zäh, dass der Fisch Probleme hat, sich in dieser cremigen Melange geschmacklich zu behaupten. Schade, denn er schmeckt für sich, dank seiner Röstaromen, sehr gut. Hier wären uns eine weniger erschlagende Begleitung und ein paar akzentuierte, der Mächtigkeit entgegenwirkende Säurespitzen lieber gewesen. Wir dosieren mit Vorsicht und freuen uns auf den nächsten Gang.

Es geht auch anders: Kratzeburger Natur-Aal mit Zwiebeln und Lakritze glänzt durch ausbalancierte Brachialität. Über allem thront der Aal, der sich, scharf und knusprig angebraten, hervorragend zu den röstigen Zwiebeln und der Lakritze gesellt. Die dunkle Süße des Tellers hallt lange und einvernehmlich nach, und wir freuen uns über den Mut, die geschmacklich selbstbewussten Protagonisten so gelungen auf einem Teller zu vereinen. Lediglich der hausgemachte Honigwein addiert zu viel Süße – zu solch einem Teller wünschten wir uns eher eine jungen Roten. So lange wir uns aber nur auf die Speise konzentrieren, handelt es sich um ein tolles und spannendes Gericht.

Von erdiger Präsentation zeugt Rind, Raps und Essig. Das üppige Stück vom Entrecote ist von ausgezeichneter Qualität und lugt unter den quer über den Teller verstreuten, cremig-öligen Rapsblüten hervor, an denen wir auf dem Weg hierher des Öfteren vorbeigefahren sind. Sie umgarnen alle Stücke des Fleisches und bringen damit jedem Stück eine herrlich vegetabile Cremigkeit und Biss bei, ohne jemals zu dominieren. Eine stimmige und reduzierte Kombination, auf die man erst mal kommen muss.

An unserem Kommunentisch wird es ausgelassener, wir tauschen uns und man tauscht sich aus. In der Wartezeit auf das Dessert bietet eine sympathische ältere Dame an, uns über den Hof der Familie Pankratz zu führen. Wenzel nickt ab, ist eh beschäftigt, und wir sind erstaunt über die schiere Größe und Vielfalt der anliegenden Gärten und Wiesen. Kräuter, Gemüse, Obstbäume, Schafe, Gänse, Kühe ‒ alles da. Dazu gesellen sich einige  Gästezimmer und -häuser. Das Konzept von Selbstversorgung und Orientierung an den von der Natur vorgegebenen Zyklen wird hier vollumfänglich gelebt, und wir verzogenen Stadtkinder können nur schätzen, welchen Aufwand es bedeutet, diese Fläche täglich zu pflegen. Äußerst beeindruckend.

Drinnen wartet bereits ein hervorragendes Dessert auf uns wartet: Rhabarber, Douglasie und Milcheis, ansehnlich mit Lavendel-Blüten garniert, feiert das Knöterichgewächs in vollen Zügen. Dem kernig-säuerlichen Rhabarbermus werden einige bissgebende Stücke entgegengesetzt, während das Milcheis die stetige Versorgung mit frischer, cremiger Süße garantiert. Ein geradliniger, zu unserer Freude nicht allzu zuckeriger Nachtisch, der dank Schlichtheit seiner Komponenten dazu einlädt, ohne detailversessene Zerpflückung verspeist zu werden. Einfach und ebenso lecker.

Es erreicht uns noch ein abschließender Gruß aus der Küche: Ein Becher geeisten Whiskeys mit einem Stück roher Rehkeule (!) darin. Wir sind leicht irritiert: Was will uns die Küche in Personalunion mit Meister Pankratz damit sagen? Aber uns wird vom Service beruhigend erklärt, dass hier keine tiefere Interpretation nötig ist. Üblicherweise würde dieses Getränk mit einer Scheibe honigmariniertem Rind serviert, das sei aber leider aus. Wir probieren den Absacker, in dem das Stück Fleisch dank des Hochprozentigen langsam gar wird. Nach ein paar Schlucken beißen wir in den Keulenfetzen (nun medium rare) und stellen fest: Trennkost hätte uns hier besser gefallen.

Wir lassen das Erlebte und Verspeiste sacken, als wir in der Dunkelheit den Weg zurück in die immer noch belebten Straßen Berlins finden. Dem, was Wenzel Pankratz auf die Teller bringt, ist mit dem derzeit ermüdend häufig anzutreffenden Wort „Regionalität“ nicht genug Tribut gezollt; „Heimatküche“ trifft es eher. Und dabei meinen wir keine Braten-, Schnitzel- und Spargel-mit-Hollandaise-Gewitter, sondern das Widerspiegeln dessen, was das Mecklenburger Land in nächster Nähe, nämlich hinter dem eigenen Haus, zu bieten hat. Die Vielfalt vereint Pankratz mit kulinarischem Freigeist und einem Experimentiertrieb, der sicher den einen oder anderen Gasthof-Geübten der Region ratlos mit dem Kopf schütteln lässt. Auch ein paar Gäste, die bei uns am Tisch saßen, kamen augenscheinlich mit einer anderen Erwartungshaltung ins Forsthaus. Doch genau das ist es, was diese Gegend braucht, um kulinarische Wahrnehmung und Entwicklung voranzutreiben: Köche, die ihre eigene Handschrift und Person ihrer Umgebung unterordnen und mit dem, was sie bekommen, kreativ arbeiten. Ab und zu schießt der Einzelkämpfer über das Ziel hinaus (das viel zu mächtige Kartoffelpüree beim Hecht, unsere Knoblauchfahne nach dem Quark zum Brot), ist dann aber in der Lage, wieder ein paar Meter zurück zu rudern und auf weite Strecken mit köstlichen, ungewöhnlichen Gerichten zu überzeugen (Spargel und Quitte, Rehkeule und Sauerklee, Rhabarber-Dessert). Hier müssten nur wenige Stellschrauben bei der Proportionierung gedreht und etwas Feinarbeit geleistet werden ‒ wobei sich die Frage stellt, ob eine selbstbewusst auftretende, etwas mürrisch dreinschauende Person wie Wenzel Pankratz das überhaupt will. Wir jedenfalls würden dem Hünen aus Mecklenburg jede Aufmerksamkeit und Mundpropaganda gönnen, die etwaige Aufnahmen in Guides, Listen und andere Medien mit sich bringen. Das Preis-Leistungsniveau ist fantastisch; wo sonst geht man nach einem sechsgängigen Menü dieser Güte samt Weinbegleitung für unter 100 Euro nach Hause?

Das ist es schon, das Forsthaus-Team (Vater Hubert traute sich leider nicht vor die Linse): Heide Pucher, die uns mit viel legerem Charme durch den Abend führte, und Wenzel Pankratz, der in der Küche trotz des großen Aufwands, den eine alleinige Kochposition bei einem vollen Haus mit sich bringt, mit ausgesprochener Ruhe überraschte.

Fazit

Wenzel Pankratz bereichert im Forsthaus Strelitz das Mecklenburger Land und bringt Wald und Wiesen manchmal brachial, aber schmackhaft auf den Teller. Wir sind gespannt, wie sich diese lokale Perle entwickeln wird...

Weine

Weine im Restaurant Forsthaus Strelitz in Neustrelitz

2014 Grüner Veltliner „Rosensteig“, Weingut Geyerhof, Kremstal

„sud eins“, Hopfengut No 20

2014 Sentits Blanc, Katalonien

Honigwein, Forsthaus Strelitz

2014 Clos Fantine, Faugères

2010 Riesling Auslese, Carl Koch, Rheinhessen

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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