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Interviews 26.Juli 2016

24 Stunden mit Maître Gerhard Retter

Als Maître-Sommelier leitete er in zwei der bekanntesten deutschen Restaurants den Service: Sowohl bei Eckart Witzigmann in der 'Aubergine' als auch im 'Lorenz Adlon' bereitete Gerhard Retter unzähligen Gästen unvergessliche Abende. Heute betreibt der umtriebige Österreicher neben der Fischerklause am Lütjensee auch die lässige Cordobar in Berlin. In 24 Stunden verriet uns der 42-Jährige, wie er den täglichen Spagat zwischen Hauptstadt- und Provinz-Aktivitäten schafft...

Der Tag beginnt

Sternefresser: Was ist die Droge Deiner Wahl, um morgens fit zu werden?
Gerhard Retter: Kaffee, auf jeden Fall Kaffee. Oder Stress, Stress ist super um fit zu werden.

Wann und wie startest Du in den Tag?
Um Viertel nach sechs klingelt der Wecker, ich versuche erstmal mein Bestes beim Aufhübschen, und dann schließe ich im Restaurant alles auf. Im Anschluss müssen wir das Frühstücksbüffet aufbauen und alle Geräte anstellen, die wir benötigen. Um 7 Uhr kommen die ersten Frühstückgäste, danach frühstücke ich mit meiner Frau Claudia und den Kids, die ich um 8 Uhr in die Schule bzw. den Kindergarten bringe. Nach meiner Rückkehr machen wir das Tagesmeeting mit dem Team, und dann schaue ich mir an, was in der Berliner Cordobar so los war. 

Lütjensee ist ja eine klassische Ausflugslocation. Wie sieht die Saison bei Euch aus?
Prinzipiell muss man sagen, Hauptsaison ist für uns von O bis O – von Ostern bis Oktober. Der November ist immer grausam. Die Saure-Gurken-Zeit ist November, Januar und Februar, das sind immer sehr beschauliche Monate. Im Winter, wenn es kaum hell wird, kann ich auch verstehen, warum die Finnen die höchste Selbstmordrate haben. Diese dauerhafte Dunkelheit ist kein Spaß. Dafür wirst Du im Sommer dann zig-fach entschädigt. Aber letztlich steht und fällt das Ganze hier extrem mit dem Wetter. Und im Februar hatten wir wegen Küchenumbau auch mal zwei Wochen zu.

Wann beschließt man denn, wann umgebaut wird? Wenn wenig los ist und funktional nichts mehr geht?
Naja, wenn es gar nicht mehr geht, kommt dann die Kosten-Nutzen-Rechnung dazu, was den Energieverbrauch angeht. Wenn man tolle Mitarbeiter halten will, muss man denen natürlich auch ein Werkzeug an die Hand geben, mit dem sie gut arbeiten können. Wenn die Karre nun gar nicht fährt und man jedes Mal anschieben muss, macht es keinen Spaß

Lütjensee // Von frischen Forellen & großen Gewächsen

Hättest Du damals im Adlon gedacht, dass es Dich mal in die Provinz verschlagen könnte?
Ich habe gar nicht gewusst, dass es noch mehr Deutschland außerhalb von Berlin gibt – vor allem hatte ich noch nie vom Lütjensee gehört. Naja, wo die Liebe eben hinfällt, oder? Heute werde ich übrigens immer gefragt, ob ich Berlin nicht vermisse. Und ein lieber Weinhändler-Kollege, auch Ex-Berliner, hat mir vor ein paar Jahren aus der Seele gesprochen: "Ich vermisse Berlin nicht, außer wenn ich da bin."

Wenn Du Berlin nicht vermisst, fehlt Dir dann die Spitzengastronomie?
Teils, teils. Die Bühne, die einem dort geboten wird, ist großartig. Es wird viel getan. Hier, in einem normalen Gasthof, muss man sich täglich viel neu erarbeiten – und vieles ist eben auch nicht relevant. Es ist den Leuten schlichtweg egal, ob du 10.000 Weine kennst.

Wie setzt sich Eure Klientel hier zusammen?
Großteils regional, also Hamburg und Umland. Und natürlich die Sylt-Touristen.

Und warum kommen sie her? Wegen der Person Gerhard Retter oder der Küche?
Ja, wegen der sicherlich auch. Das ist ein Konglomerat aus allem, glaube ich. Bestimmt kommen manche Gäste wegen meiner Frau und mir. Aber auch die gutbürgerliche Küche, die wir anbieten, ist sicherlich ein Zugpferd. Viele Menschen sind sehr dankbar, auch mal eine Wildschweinbratwurst oder frischen Fisch aus dem See essen zu können. Und das ist unsere Aufgabe: den Menschen die richtige Erwartungshaltung zu kommunizieren. Es ist und bleibt ein Landgasthaus!

Und wie kommuniziert Ihr das?
Im Prinzip Downgrading, wo es nur geht. Das sieht man auch an den Zimmern: Die sind zweckmäßig und sauber, aber ohne Marmorbäder und Flachbildfernseher. Natürlich hätte ich gern zwei Millionen Euro in das Gebäude investiert, aber die muss man erstmal verdienen. Die Frage ist aber auch, wo man eigentlich hinmöchte – auch was die Auszeichnungen angeht. Auf unseren Bib Gourmand beispielsweise sind wir sehr stolz. Das ist wirklich eine Auszeichnung, bei der man merkt, dass die Menschen danach reisen, auch international. Letztendlich ist aber das Wichtigste, dass wir die Menschen hier vor Ort zufriedenstellen. Auch wenn wir eigentlich eine eierlegende Wollmilchsau sind: Wir bewirten sowohl Gäste, die genießen wollen, als auch Gäste, die zur reinen Nahrungsaufnahme zu uns kommen.

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...und die darf man weder kulinarisch noch monetär überfordern.
Genau, das ist der große Spagat. Die Karte sollte immer so sein, dass darauf die Klassiker der Region oder des Hauses vertreten sind und schnörkellos für einen guten Preis serviert werden. Aber es muss auch immer Überraschungen geben.

Will Dein Küchenteam manchmal mehr Gas geben, als Du ihnen erlauben kannst?
Definitiv. Aber ich möchte sie auch nicht komplett unterbinden; es soll schon ein paar pfiffige Gerichte geben. So langsam erkennen auch meine Jungs die Faszination, simple, aber perfekte Gericht abzuliefern. Ein tolles Hauptprodukt, eine super Soße und noch eine Sättigungsbeilage – das genügt eigentlich, damit ist man quasi unantastbar. So beispielsweise bei unseren Forellen, die wir hier lebend halten. Wenn diese jemand bestellt, dann geht der Koch runter in den Keller, schlachtet sie und bereitet sie verzehrfertig zu.

Das findet man nur noch selten. 
Aber auch hier liegt eben die Krux in der Perfektion der Zubereitung. Genug Essig und genug Salz muss im Wasser sein, die Leute sind anspruchsvoll. Man kann Forellen in sehr vielen Landgasthöfen sehr gut essen, da muss man sich ins Zeug legen. Oder etwas Anderes: Ich hasse Bratkartoffeln, allgemein mag ich Kartoffeln nicht. Die einzige sinnvolle Sache, die die Kartoffel meiner Meinung nach fabriziert, ist Wodka. Aber die Bratkartoffel ist in Deutschland wie das Schnitzel in Wien – jeder hat sein eigenes Rezept. Wie mein österreichisches Herz es will, haben wir natürlich auch eins auf der Karte.

Mit welcher Garnitur?
Früher hatten wir das so, wie ich es aus Österreich kannte: mit Petersilienkartoffeln und Preiselbeeren. Vor ein paar Jahren haben wir es aber zu Kartoffel-Gurken-Salat geändert, da wir extrem hohe Umbestellungsraten hatten. Doch in Österreich würde niemand auf die Idee kommen, das so zu essen. Niemals!

Spielen vegetarische Gerichte bei Euch auch eine Rolle?
Ja. Wir bieten sie an, weil wir gerne auch selbst fleischlos essen. Ehrlich gesagt, irgendwann ist man doch gesättigt von all dem Fleisch-Überfluss. Deswegen gibt es bei uns auch anspruchsvolle, vegane Gerichte.

Foto: Kalbstatar mit hausgeräuchertem Lütjenseer Aal und sautierten Kräutersaitlingen

Der Maître // Über österreichische & deutsche Mentalität 

Muss man Menschenfreund sein, um ein großer Maître werden zu können? Oder kann man auch Zyniker sein?
Das schließt sich ja nicht aus. Zynismus und Sarkasmus sind in unserer Branche unabdinglich – schließlich ist es auch Selbstschutz. Das Spannendste sind ja eigentlich die unterschiedlichen Menschen.

Wie lang brauchst Du, um Tische einschätzen zu können?
Oh, das ist sehr unterschiedlich, aber meist geht das schnell. Die Selbstständigkeit hat da einige große Vorteile: Ich muss mich nicht prostituieren und zu jedem freundlich sein. Gut, ich bin zu jedem freundlich, aber das kommt vermutlich auch nicht bei jedem an. Als Österreicher, mit meinem Zynismus und österreichischen Humor, komme ich im Norden eh nicht immer gut an. Erst gestern wieder bei ganz lieben Stammgästen erlebt: Das erste Stück Forelle kam, und da meinte die Dame: „Mensch, Herr Retter, das ist doch viel zu groß, das kann ich doch nicht essen.“ Und dann ich: "So, Ruhe, es wird gegessen, was auf den Tisch kommt; jetzt wird nicht gemosert." Alle lachten, alles war gut. Aber eine Stunde später rief sie mich an: "Herr Retter, ich weiß nicht, ob ich nochmal zu Ihnen kommen kann. Das war nicht witzig. Die Leute am Nebentisch denken doch bestimmt, ich sei der Dauernörgler vom Dienst." Das tut mir dann zwar leid, aber so bin ich.

War das generell am Anfang schwierig, sich bei den Deutschen zu akklimatisieren? 
Nein, ich bin schon so lange in Deutschland. Ich kenne und mag die Deutschen. Die sind viel weniger anstrengend, als meine österreichischen Landsleute, auf jeden Fall!

Bist Du trotzdem auch mal angeeckt?
Angeeckt nicht, aber ich hatte stark mit meiner Adlon-Vergangenheit zu kämpfen. Viele dachten, ich sei arrogant. Aber so ist es ja nun überhaupt nicht. Gut, wir hatten eine Zeitlang weiße Tischdecken, aber die sind jetzt auf dem Dachboden.

Zum Glück, so ist es hier jetzt viel wohnlicher.
Danke, letztendlich ist es so: Die Fischerklause muss so sein wie ein Swinger Club – alles kann, nichts muss. Wer möchte, kann hier auch vier Gänge essen, die den Bib Gourmand allemal wert sind. 

Oder auch Eure sehr bekannten Marillenknödel.
Ja, genau. (lacht)

Macht Ihr alles selbst?
Wir arbeiten nicht mit vielen fertigen Produktion. Naja gut, die Pommes werden nicht hausgemacht, sondern gekauft, genauso wie die Griesnockerln und Knödelchen. Klar könnte man alles selbst machen, aber das muss auch bezahlt werden. Und das ist der Knackpunkt an der Geschichte. Doch das meiste ist hausgemacht – bei 30 Positionen auf der Karte ist das noch realisierbar.

Der Sommelier // Ausbildung & drei Sterne

Beim Wein sind’s ja ein paar mehr Positionen.
Ja, in der Tat. So circa 850 bis 900.

...und die werden hier auf dem Grund des Sees gelagert?
Genau, der Schatz im Silbersee. Ecki Cordes (Anm. d. Red.: Brand Manager LVMH) und ich haben schon lange vor, eine Kiste Dom Pérignon im See zu versenken und dann im Sommer ein Wetttauchen zu veranstalten. 

Sehr geile Idee! Wie bist Du überhaupt zum Wein gekommen?
Ich bin gar nicht zu ihm gekommen, der Wein ist eher zu mir gekommen. Mein Großvater hatte einen klassischen Mischbauernhof, natürlich auch mit Wein. Dort wurde auch Schnaps gebrannt und selbst geschlachtet – da ist man als Kind ja schmerzfrei. Eines meiner frühsten Erlebnisse ist diese Arbeit im Weingarten, das Probieren der reifen Trauben, die Ernte. Und dann rauf in die Presse und den Most probieren, das war wunderbar, und da erfolgt natürlich viel über frühkindliche Prägung. 

So wären wir auch gerne an Wein herangeführt worden – bei uns war es weniger romantisch.
(Lacht) Aber es ist auch eine Weinbauregion, in der ich aufgewachsen bin. Und die Zeitzündung, in die Sommelier-Richtung zu gehen, kam dann in der Ausbildung. Ich habe zwar Koch und Kellner gelernt, aber irgendwann haben meine Lehrmeister festgestellt, dass ich besser reden als kochen kann. Und daraus entstand dann im Laufe der Jahre eine Passion. Auch wenn ich diese Anerkennung erst in meinem zweiten Ausbildungsbetrieb bekam.

Was ist im ersten passiert?
Dort hat es keine zwei Wochen gedauert, bis der Chef zu meiner Mutter gesagt hat: "Den können Sie vergessen, aus dem wird nie was." Naja, ich war halt auch kein braves Kind.

Dem Motto folgend: Wer nichts wird, wird Wirt?
Genau. Wir hatten auch einen Gasthof zuhause. Leider ist das nicht so gut gegangen, dort mussten wir Konkurs anmelden. Heute ist dort das Rathaus untergebracht. Wenn ich nach Hause fahre, dann kann ich immer noch dahingehen und sagen: "Hey, Sie sitzen hier in meinem Schlafzimmer." Aber gut, in dem ersten Betrieb hat es mir so gar nicht gefallen: Mir brauchte niemand zu erklären, wie man eine Schorle macht oder ein Bier zapft. Oder wie man mit den verschiedenen Gästen umzugehen hat. Und da hat meine Mutter mich dann in den kleineren Familienbetrieb vermittelt. 

Und wann hat es zwischen Dir und dem Wein richtig gefunkt?
Das war damals mit meiner damaligen Lebensabschnittspartnerin. Zusammen wollten wir nach Bad Griesbach. Um uns vorzustellen, sind wir über München gefahren und sind dort auch einen Tag geblieben. Das war so 1991, 1992 – mir fiel ein, dass mein Lehrmeister einmal von Herrn Witzigmann erzählt hatte. Also bin ich vormittags hin und man bat mich herein. Nach kurzer Wartezeit kam Eckart Witzigmann hoch an die Bar zu mir und fragte mich, wer ich sei und woher ich käme. Dann meinte er: "Ok, du kannst morgen anfangen."

Hast Du den Meister mal gefragt, warum er Dich so schnell eingestellt hat?
Weil er mein Potenzial erkannt hat? Nein, vielleicht war es einfach pure Menschenkenntnis oder mein Österreicher-Sein. Zudem kam ich gerade aus meiner Ausbildung und war total formbar, wie ein Rohdiamant.

Heutzutage wird ja viel geklagt, dass man keinen Nachwuchs mehr findet.
Naja, das Problem ist vielleicht auch hausgemacht. Die Zeiten haben sich geändert. Früher, bei Witzigmann, fünf Tage die Woche, nie unter 12 Stunden. Oder bei Gordon Ramsay, sogar sechs Tage, von 9 Uhr morgens bis 2 Uhr nachts, und das für sehr wenig Geld. Aber heute ist das anders. Die, die heute aus der Ausbildung rauskommen, die sind sozialer, die wollen ihre Freundschaften pflegen, und da muss man sich einfach anpassen.

Was sind Deiner Meinung nach die wichtigsten Komponenten, um Mitarbeiter langfristig zu halten?
Eine persönliche Bindung, gerechte Entlohnung und Perspektiven!

Kannst Du das immer bieten?
Eigentlich schon. Ich bin ja in einem steirischen Wirtshaus aufgewachsen, und letztlich muss ich sagen: Ich bin wieder in der Realität angekommen. In der Spitzengastronomie ist es ungeheuer schön, aber man darf nicht vergessen, es ist teilweise schon sehr...

...abgehoben?
Genau. Man lebt tagein, tagaus in einer Welt, die man sich dauerhaft nicht leisten kann und in der man auch nicht integriert ist. Man ist als Dienstleister und Person auf der Bühne, die einem geboten wird, gern gesehen. Aber man muss sagen, es gibt Menschen, für die ist diese Welt eben Alltag. Und für uns ist dieser Alltag eben das tägliche Brot. 

Und im Adlon hast Du festgestellt, dass Du diese Bühne nutzen möchtest?
Die sechs Jahre im Adlon, solange war ich übrigens auch bei Witzigmann, waren mit die schönsten meines Lebens. So viel Anerkennung von außen! Dann habe ich auch noch Claudia kennengelernt, wir hatten dieselben Interessen, genügend Geld und keine Kinder. Wenn Geld da war, haben wir es rausgehauen – und nichts davon bereut! Bei großen Hotels wie dem Adlon denkt man ja häufig, dass es da sehr steif zugeht. Aber wenn man nicht auf den Mund gefallen ist und zudem fachlich versiert, dann ist man gerade in Berlin ein gut aufgenommener und gern gesehener Mensch. 

Hast Du bei Witzigmann anders gearbeitet und agiert?
Nein, Kellner sind natürlich gute Schauspieler, aber letztlich zählt schon der Charakter. Pseudo-Freundlichkeit reicht eben nicht weit – das bleibt nicht nachhaltig im Gedächtnis. Aber mit dem Wein ging es eigentlich so richtig erst in der Aubergine los. Mein Zimmernachbar Ludwig hatte die Aufgabe, die Weinkarte in der Aubergine aufzubauen. Und da bekommt man Einiges mit. Der ist jetzt irgendwo in einem kleinen Betrieb in Frankreich.

Hast Du den Eindruck, dass viele zu den kleineren Betrieben zurückkommen?
Naja, bei mir ist das auch ein Stück weit Erpressung der Schwiegereltern gewesen. Trotzdem würde ich heute nie wieder ins Angestelltenverhältnis zurückgehen wollen! Alles in allem habe ich einfach wahnsinniges Glück mit den Leuten auf meinem Weg gehabt. Als unser Maître in der Aubergine damals gegangen ist, durfte ich das übernehmen.

Und da hast Du dann in Lichtgeschwindigkeit gelernt?
Genau. Irgendwann weiß man wirklich sehr gut Bescheid. Trotzdem sollte man immer eine Haltung wahren, wo es in Ordnung ist, wenn die Gäste auch ab und zu mehr wissen als man selbst. Die Aubergine hat es geschafft, ein gewisses Flair zu halten: französische Haute cuisine, traditionell, aber auch locker und ausgelassen. Das waren tolle 6 oder 7 Jahre!

Die gesamte Zeit natürlich unter Chef Witzigmann?
Genau, Chef war der Chef. Er hat auch irgendwann mitbekommen, dass ich weg wollte. Er sprach mich darauf an und versicherte mir, dass er Verständnis habe und fragte, wo ich hinwolle. Dann rief er bei Fredy Giradet, meinem Favoriten, an und eine Woche später konnte ich anfangen.

Es muss doch unzählige spektakuläre Geschichten aus der Aubergine geben?
Naja, auf dem Niveau ist eigentlich alles irgendwo spektakulär. Und wir haben natürlich auch Partys gehabt ohne Ende, mit den tollsten Sachen.

Nach "den tollen Sachen" kam der Prozess und eine schwierige Zeit für Eckart Witzigmann. Hat sich das auch auf die Küche ausgewirkt?
Nein, da gab es vermutlich die geringsten Auswirkungen. Wir hatten ein tolles und eingespieltes Team und das hat sich auch erstmal nicht verändert. Dann ging es aber recht schnell.

Aber vorher muss die Aubergine doch eine richtige Cash-Cow gewesen sein?
Ja, das war ähnlich wie beim Adlon oder bei Ramsay: es war immer voll, und das war toll. Wie viel dann unterm Strich rausgekommen ist, da hatte ich keinen Einblick.

Was ist das höchste Trinkgeld, das du jemals bekommen hast?
20.000 Mark. Das war eine größere Veranstaltung in der Aubergine.

Das hört sich nach Zuständen wie im Film an. Kir Royal oder Rossini.
Ja, die Aubergine hat es geschafft, einen gewissen Flair zu erhalten – es war französische Grand-Cuisine, zum einen traditionell aber auch locker und ausgelassen. Wir hatten Stammgäste, die sind schon mittags gekommen und dann gleich abends zum Dinner sitzen geblieben. 

Sensationell. Das dürfte es nicht mehr geben?
Das weiß ich nicht, ab und an vielleicht schon. Allerdings waren es auch immer Leute, die mich, was den Wein angeht, auch wirklich vorangebracht haben. Da wurden Flaschen mit ins Restaurant geschleppt, bei denen ich mit den Ohren geschlackert habe. Damals habe ich gelernt, dass man nicht nur am Wein riechen darf, wenn man etwas lernen will – man muss auch probieren.

Wie habt ihr das außerhalb des Restaurants finanziert?
Durch 20.000 Mark Trinkgeld (lacht). Allerdings hatten wir keine Freizeit. Außer Essen, Schlafen, Arbeiten und Trinken haben wir nicht arg viel mehr gemacht und dafür ist eben alles drauf gegangen.

Gegenpol // Die Fischerklause

Wie viele Gäste habt Ihr denn etwa pro Woche?
Also in der schwachen Saison so 30 Gäste am Tag. Und an guten Sommertagen knapp 700.

Und wie hoch ist Euer Durchschnittsbon?
Etwa 40 Euro.

...der durch Euer Faible für Wein natürlich höher ausfällt?
Ja, auf jeden Fall. Wenn die Weinfreunde etwa hier sind, dann machen Getränke oft 80 % der Rechnung aus. Oder auch wenn Sommeliers oder Winzerkollegen anrücken.

Wie viel kostet denn Eure teuerste Flasche Wein?
So 1.500 Euro. Aber einige dieser teuren Weine haben wir mittlerweile von der Karte genommen. Das hat hier einfach nicht so gut funktioniert. Deshalb sind die jetzt alle in Berlin – in der Cordobar laufen die. Etwa der Wildenstein vom Huber, Jahrgang 2005, das ist einer der teuersten und begehrtesten Spätburgunder, die wir in Deutschland haben. Den bekomme ich für 90 Euro im Einkauf und setze ihn für 180 bis 190 Euro in der Fischerklause auf die Karte, das ist dann noch sehr günstig.  Aber ich behalte immer nur ein paar Flaschen hier. Der Rest geht dann nach Berlin, wo ein sehr großer Bedarf herrscht. Da ist der dann auch bei bestimmt 250 Euro.

Welches Weingut ist für Dich momentan besonders spannend?
Das Weingut Weil ist für mich aktuell das beste Deutschlands. Aber man muss aufpassen, welche Weine man kauft. Gerade die Spätlesen vom Weil sind vermutlich Preis-Leistungstechnisch mit das Beste, was es gibt.

Hast Du eigentlich sowas wie ein Lieblingsglas?
Ja, das Volle!

Berlin // Weinkoffer & Erfolg

Wie kam es denn eigentlich zum Projekt Cordobar?
Diese Idee wurde im Suff geboren. Christoph Ellinghaus war zu Besuch, und wir haben ein, zwei Fläschchen Wein getrunken. Nachts um halb 3 hat Christoph dann gesagt: „Komm, wir machen das gemeinsam!“ Auch der Name ist da schon gefallen. Ein Jahr haben wir dann erstmal nicht mehr darüber gesprochen. Aber dann kam es wieder auf und wir haben uns eine Lokalität gesucht. Christophs Keller war knackvoll, unser war auch überproportional voll. Und das war eigentlich auch die Hauptmotivation. 

Willi, der Wirt der Cordobar, hat mal gepostet, dass Ihr keinen Wein von Winzern kauft, die Ihr nicht mögt.
Ja, so ist es auch. Es gibt so viele gute Weine auf der Welt, da kann man die Auswahl auch aufgrund der Winzer treffen.

Habt Ihr mit diesem großen Erfolg gerechnet?
Nein, überhaupt nicht. Aber wir haben gesehen, dass unsere Konkurrenz schon um 24 Uhr schließt – definitiv zu früh!

Jetzt hast Du hier Deinen "Wein-Retter-Koffer" dabei – brauchst Du den Stoff dann genau an dem Tag oder wofür ist der Wein?
Nein. Wenn in unserer elektronischen Lagerverwaltung ein Engpass angezeigt wird und ich noch was im Keller habe, dann fülle ich das damit wieder auf. Das sind dann oft auch die, die sich in der Klause nicht so verkaufen.

Wie oft fährst Du nach Berlin?
Null- bis zweimal pro Woche. Je schöner das Wetter, desto seltener komme ich nach Berlin.

Gibt es Gäste, die Dich hier erwarten?
Jein, bestimmt ein paar. Ich bin ja etwas älter als die anderen Mitarbeiter. Vielleicht habe ich deshalb einen anderen Zugang zu bestimmten Gästen... Trotzdem haben wir super Mitarbeiter!

Aber jedes Mal, wenn wir herkommen, sind neue Mitarbeiter da.
Das liegt an den Gästen – die sind so anstrengend, dass der Verschleiß so groß ist. Nein, Spaß! Also wir haben hier schon eine stetige Besetzung. Aber am Anfang ist natürlich überall Chaos...

Und jeder von Euch kauft unterschiedliche Weine?
Ja, jeder von uns kauft, oft aus der Emotion heraus, was er gerade so entdeckt. Und gerade das sorgt hier in der Cordobar für ein breiteres Aromen-Spektrum. Letztendlich überzeugt die Qualität dessen, was in der Flasche ist. Man kann ja nicht immer nur einen Natural Orange ausschenken.

Gibt es auch Weinentwicklungen, die Dir so gar nicht reingehen?
Ja. Also wenn wir gerade bei Orange- oder Natural-Sachen sind, dann ist mir das manchmal zu ideologiegeprägt. Allgemein: Wenn dann das Etikett, die Aufmachung und die Homepage besser sind als das, was sich in der Flasche befindet, ist das einfach enttäuschend. Es muss ehrlich und authentisch sein.

Gibt es für Dich eine Grenzzahlungsbereitschaft für gute Produkte?
Schwer zu sagen, die Grenzen der Menschen sind verschwimmend – das geht hin bis zum Realitätsverlust. Aber großzügig gesehen ist Preis-Leistung für mich bei 100 Euro vorbei. Viel wichtiger ist allerdings die Untergrenze: Ich bitte jeden darum, keinen Wein unter fünf Euro zu kaufen!

Abend in Berlin // Alkoholismus & Anekdoten

Man spricht ja von diesem sagenumwobenen Einfamilienhaus, das jeder von uns schon mal verfressen oder versoffen hat. Auf wie viele Doppelhaushälften kommst Du?
So fett bin ich ja auch nicht. Aber wir haben es uns schon gut gehen lassen – und wirklich keinen Pfennig bereut.

Ein Thema, über das die meisten Sommeliers sehr ungern offiziell sprechen – Alkoholismus in der Branche. Wie behält man das im Griff, wenn man nahezu jeden Tag professionell trinkt?
Puh. Ja, man trinkt fast jeden Tag. Aber wichtig ist vor allem, dass man trinkt und nicht säuft. Und man sollte es nicht allein tun, sondern nur in Gesellschaft. Wobei ich auch sagen muss, dass Wein nicht mal das Schlimmste ist. Schnaps ist da wesentlich gefährlicher. Oft verbirgt sich auch hinter einer Kennerschaft ein ausgeprägter Alkoholismus, den ich auch aus dem journalistischen Bereich kenne. Da sind einige hart an der Grenze, ich nenne sie "Spieltrinker". Dem kann ich nichts abgewinnen. Wenn man mal feiert, besoffen ist, kann das lustig sein, es darf nur nicht zur Gewohnheit werden. Man kann seine Leber auch mal mit Wasser überraschen. Ein schwieriges Thema – nicht nur im Service, sondern auch in der Küche.

Du hast vorher gesagt, Du würdest dein Leben nochmal so leben – also auch wieder im Service anfangen?
Ja, sofort. Man könnte sich überlegen, vielleicht früher ins Management einzusteigen. Aber eigentlich möchte ich keine meiner Stationen missen. Man muss stolz sein auf das, was man macht: Service ist mehr, als nur den Teller hinstellen – man muss eine Persönlichkeit entwickeln.

Gab es für Dich einen Meilenstein, wo Du gemerkt hast, dass Du das kannst?
Nein, eigentlich nicht. Das war reine Ego-Befriedigung, nie mit dem Vorsatz Karriere zu machen. Das war alles Eigenantrieb, ich habe alles gemacht, weil ich das selber wollte.

Bedeutet das im Umkehrschluss, dass jeder große Maître ein Profilneurotiker ist?
Ja, natürlich. Muss man ja. Auch mit einer Spur Egozentrik! Aber es kommt auf die Dosis an, sonst ist es zu viel des Guten.

Du kennst sicherlich etliche Anekdoten, die einige Deiner früheren Gäste in die Bredouille bringen könnten?
Absolut. Allerdings würde ein guter Maître natürlich niemals Namen nennen. Ich habe da eine lustige Geschichte: In eines der Restaurants kam immer ein älterer Herr mit einer deutlich jüngeren Dame. Irgendwann erschien ebendieser Herr in Begleitung einer anderen, deutlich älteren Dame und einem sehr berühmten Gastonomen-Ehepaar. Als er mich sah, kam er beschleunigt auf mich zugelaufen und streckte mir die Hand mit einem 200-Euro-Schein entgegen und sagte: "Ich bin das erste Mal hier, ich bin das erste Mal hier."

Thema Heiratsanträge im Restaurant – Deine drei Highlights?
Nummer drei war der Antrag eines schwulen Pärchens. Sehr extrovertiert und eher Hardcore: ganz in schwarz, mit Metallkrawatte mit Scharnieren und so was, sehr unterhaltsame Gäste. Der Kleinere von beiden ist dann irgendwann rausgelaufen, holt eine Tüte mit Rosenblättern und wirft die ganz klischeehaft von hinten auf den anderen drauf. Das war sehr lustig!
Beim zweiten Antrag sollte eine Geigenspielerin „A groovy kind of love“ spielen. Hat sie auch, aber so was von falsch, das war grausam.
Und der beste, den ich erleben durfte, war ein Antrag, der nicht so gut lief. Die Frau hat das Schlimmste gemacht, was man so machen kann und hat sich Bedenkzeit erbeten. Die Rechnung wurde umgehend bestellt und die beiden sind gegangen.

Was würdest Du denn generell heute jemandem raten, der gerne in der Gastronomie im Service einsteigen möchte?
Man muss sich bewußt machen, dass man Geld damit verdient, andere Leute glücklich zu machen. Letztendlich ist der Gast König, nicht der Koch oder der Kellner. Durch guten Service kann man alles rausreißen. Wenn das Essen allerdings super ist und der Service schlecht, dann ist der ganze Abend gelaufen. 

Das sagen komischerweise auch viele Köche. 
Und dabei ist das Rezept so einfach: Finde den Weg zum Herzen deines Gastes.

Bei uns hast Du das geschafft. Wir freuen uns auf ein baldiges Wiedersehen in der Klause oder in Berlin! Vielen Dank für die Einblicke in Deinen Alltag.

Bild: Gerhard zusammen mit Willi Schlögl, dem Wirt der Cordobar

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